Willi wird gejagt
- thomasvonriedt
- 17. Dez.
- 6 Min. Lesezeit

Igel sind Nachtarbeiter. Sie mögen weder gleissendes Sonnenlicht noch flirrende Hitze. An heissen Tagen bleiben sie lieber in ihrer kühlen Höhle, eingerollt im Dämmerschlaf. Auch Regenwürmer und Schnecken haben dann keine Lust, sich blicken zu lassen – also lohnt sich das frühe Aufstehen nicht.
Erst wenn die Abenddämmerung wie ein grauer Vorhang über die Gärten sinkt, ein leichter Nieselregen die Luft abkühlt und der Boden weich wird, beginnt für einen Igel die eigentliche Hauptarbeitszeit: die Jagd.
Willi machte da keine Ausnahme. Nun gut – fast keine. Seine knallrote Nase war in der Dunkelheit ein klein wenig unpraktisch, aber dafür unverwechselbar.
An einem besonders warmen Augustabend sass ich am Gartentisch und ass zu Abend, während ein feiner Regen die durstigen Pflanzen benetzte. Die Luft roch nach feuchter Erde, Gras und nassem Stein. Plötzlich sah ich einen dunklen Fleck über die Wiese huschen.
„Ist das dein Abendessen, Willi?“, rief ich in die Dämmerung und ging fest davon aus, dass mein kleiner Untermieter auf Beutezug war.
„Ja, hallo“, kam es prompt zurück. „Du weisst doch, um diese Zeit brauche ich etwas Solides zwischen den Zähnen. Und ausserdem gehört es sich, zu grüssen, bevor man in die Welt hinauszieht.“
„Stimmt, mein Kleiner. Guten Abend, Herr Willi. Wohin geht es denn heute Nacht, und wie geht es dir?“ Ich bemühte mich, besonders höflich zu klingen, obwohl ich mir ein Lachen kaum verkneifen konnte.
Willi blieb stehen, drehte sich zu mir um und stemmte die Vorderpfoten in die Hüften, soweit das einem Igel möglich ist.
„Ja, hallo, Herr Vermieter, das ist aber eine Überraschung. Dich habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Immer noch beim Abendessen – oder kommt gleich auch noch die Nachspeise? Kein Wunder, dass dein Körper so kräftig ist.“ Er schaute bedeutungsvoll auf meinen Teller. „Wie du siehst, muss ich mir mein Nachtessen hart verdienen. Nicht jeder darf heimkommen, die Beine ausstrecken und sich wie ein Lord bedienen lassen. Nein, nein, das wäre nichts für mich.“
„Nun, nun, das klingt schon fast nach Neid der Besitzlosen“, lachte ich. „Dafür muss ich den ganzen Tag arbeiten, während du faul bis zum Abend verschläfst.“
Willi schnaufte gespielt empört. „Ich möchte dich nicht aufhalten, sonst fällst du noch aus dem Leim. Und mit Falten am Bauch und im Gesicht wären deine Chancen bei Fräulein Rosa gleich null.“ Er zwinkerte. „Also denn: frohes und erfolgreiches Jagen – und hüte dich vor den Rotröcken da draussen.“
Dann stapfte er zielstrebig davon, den Kopf tief, die rote Nase prüfend über den Boden gerichtet, direkt in Richtung der Felder hinter dem Haus. Dort musste er eine niedrige Steinmauer überwinden. Am besten ganz rechts entlang, beim Nachbargrundstück – dort war eine Lücke, die ihm mühsames Klettern ersparte.
Kaum hatte er diese Grenze überschritten, lag der Schutz meines Gartens hinter ihm. Ab jetzt war Willi auf sich allein gestellt.
An die kühle Kalksteinmauer gelehnt und im Schatten der dichten Buchenhecke rollte er sich kurz zusammen, um die Umgebung zu prüfen. Er schnupperte lang und gründlich, lauschte in die Dunkelheit und liess seine Ohren arbeiten. Nichts. Kein Hund, kein Mensch, keine Katze.
Die Spaziergänger waren längst zu Hause, ihre Hunde schnarchten vermutlich schon auf Teppichen und Sofas. Nur stellenweise stieg noch der scharfe Duft alter Markierungen in seine Nase – Erinnerungen späterer Gäste, die ihre Visitenkarte an Gräsern und Mauersteinen hinterlassen hatten.
Willi überquerte ohne Zögern den Fussweg, das Pflaster noch warm vom Tag, und verschwand nach wenigen Metern in der grünen Schutzwand des Maisfelds.
In den vergangenen Tagen hatte es mehrfach kurz geregnet – ideale Bedingungen für eine ergiebige Nacht. Willi erwartete ein wahres Festmahl: Würmer, Schnecken, Grillen, allerlei krabbelnde und kriechende Leckerbissen, die sich erst bei Dunkelheit blicken lassen.
Links und rechts ragten die Maispflanzen über zwei Meter hoch in den Himmel. Ihre breiten, dunklen Blätter bildeten ein Dach, durch das kaum ein Mondstrahl zum Boden drang. Nur das Rascheln in den Stängeln verriet, dass er nicht allein war. Immer wieder hörte er ein Nagetier huschen, wie ein Kolben angeknabbert wurde und einzelne Maiskörner leise ploppend zu Boden fielen.
Willi schnaufte zufrieden. Eine gute, lebendige, halb wilde Welt – so mochte er es. Je weniger Chemikalien der Bauer versprühte, desto reicher war das Angebot an Insekten, Würmern und Schnecken – und desto besser schmeckten sie, da war er sich ganz sicher.
Er schnappte sich mit spitzem Maul eine Heuschrecke, die eben noch mit ihren Hinterbeinen Musik machte. Dann eine Grille, die in einem Spalt zwischen zwei Erdschollen sass. Und schliesslich entdeckte er einen fetten Regenwurm, bestimmt fünfzehn Zentimeter lang, der träge und ahnungslos vor sich hinglitt. Willi liess sich nicht zweimal bitten. Für den Wurm gab es kein Zurück ins rettende Loch – er verschwand mit einem einzigen zufriedenen Schmatzer in Willis Magen.
Da riss ihn plötzlich ein ungewohnter Geruch aus seinem Fressglück. Der Wind hatte gedreht und kam nun aus Westen. Er trug etwas mit sich, das nicht hierhergehörte. Nicht Erde, nicht Regen, nicht Gras – etwas anderes.
Der Wind schien zu flüstern:
„Ich bin der Wind, der Wind,
trag Geschichten geschwind
von Wald und Flur, voll Farben und Pracht,
zu Mensch und Tier bei Tag und Nacht.
Mein lieber Willi, sei auf der Hut –
es riecht nach Haar, es riecht nach Blut.“
Neben dem Rauschen der Maisblätter hörte Willi jetzt ein leises Kratzen scharfer Krallen über den Boden. Sein Nackenfell stellte sich auf. Instinktiv kroch er unter einen Haufen trockener Blätter, legte die Ohren an und stellte seine Stacheln so weit auf, wie es nur ging.
Aber es war schon zu spät. Die gelben Augen der Füchsin Ermelyn hatten ihn längst entdeckt. In wenigen Sätzen war sie bei ihm, ihre Pfoten federnd, der Körper flach über dem Boden, wie ein roter Schatten im Dunkel.
„Du kommst mir gerade recht“, keuchte sie, leicht ausser Atem, die Zunge im Maul. „So ein prächtiger Gartenigel… eine willkommene Mahlzeit.“
Willi antwortete nicht – das wäre in seiner Lage auch überflüssig gewesen. Er rollte sich zu einer stacheligen Kugel zusammen, bis kein Stückchen weiches Fell mehr zu sehen war. Er wusste: Erfahrene Füchse würden ihn nicht direkt beissen. Sie versuchten vielmehr, ihn ins Rollen zu bringen, ihn gegen Steine zu stossen und die Kugel so lange zu bearbeiten, bis die Muskeln nachliessen.
Ermelyn war keine Anfängerin. Mit der Pfote stiess sie Willi an – erst zögerlich, dann kräftiger. Er rollte. Noch ein Stoss, er kugelte gegen eine Maisstange, dann gegen einen Stein. Immer wieder rammte sie ihn an, hin und her, vor und zurück, tiefer ins Feld hinein, wieder zurück, bis sie schwitzte und er im Inneren der Kugel schwindelig wurde.
Schliesslich kugelte Willi fast auf den Fussweg hinaus. Seine Schultermuskeln begannen zu brennen, er spürte, wie die Kraft nachliess. Für einen winzigen Moment lockerte sich seine Verteidigungshaltung – und schon kratzte eine scharfe Kralle über sein Brustfell. Ermelyn versuchte, eine Pfote unter ihn zu schieben, um eines seiner Beinchen zu packen.
„Nur noch ein wenig …», zischte sie. Die Beute war zum Greifen nah.
Da ertönte hinter ihr eine raue, tiefe Stimme:
„Lass den kleinen Igel in Ruhe, du gefrässiger Rotrock! „Verschwinde – oder mein Rex packt dich!“
Ermelyn fuhr herum. Rex. Allein der Name reichte. Rex, der Hofhund mit den langen Fangzähnen und dem Körperbau eines kleinen Bären. Er war nicht schnell wie ein Fuchs, aber wenn er einmal zubiss, wurde es ernst.
Ermelyn stiess Willi im Reflex noch einmal heftig mit der Pfote in die Seite, sodass er über den Fussweg rollte, und setzte dann zur Flucht an. Ihre Gedanken rasten: Hoffentlich sind die Jungen in der Höhle, hoffentlich hat Rex ihre Spur nicht in der Nase. Erst in ihrem Bau, tief unter Wurzeln und Steinen, würde sie wieder zur Ruhe kommen.
„Jetzt mach mal Pause, Ermelyn“, knurrte Rex ihr hinterher. „Das nächste Mal, wenn du einen Gartenigel anrührst, bin ich nicht so freundlich.“
Ermelyn hechelte vor Wut und Angst, wagte es aber nicht, sich umzudrehen. Sie verschwand im Dunkel des Feldes.
Rex trottete zum Fussweg und stellte die Ohren auf. „Du, Willi, mach dich vom Acker“, sagte er, ohne den Blick vom Mais zu nehmen. „Das Maisfeld ist kein Spielplatz für Gartenigel.“
Willi hörte ihm durch den Puls im Kopf nur halb zu. Die Muskeln zitterten, sein Herz raste. Doch die Botschaft war klar. Vorsichtig rollte er sich auf, schüttelte ein paar Blätter aus seinen Stacheln und stakste auf wackligen Beinchen zurück zur Steinmauer.
Durch die vertraute Lücke schlüpfte er zurück in meinen Garten, wo es nach Hecke, Erde und Sicherheit roch. „Danke vielmals…“, keuchte er noch in Richtung Feld – ob nun zu Rex, zum Wind oder zu beiden, wusste er selbst nicht so genau – und watschelte dann ohne Umwege zu seiner Höhle unter der Treppe.
Draussen schob der Mond die Wolken langsam beiseite, beleuchtete Felder und Gärten mit einem sanften, silbrigen Schimmer und legte ein Stück Frieden über die Landschaft.
Der Nachtwind, nun kühler und ruhiger, flüsterte:
„Ich bin der Wind, der Wind,
trag Geschichten geschwind,
von Mensch und Tier bei Tag und bei Nacht.
Mein lieber Willi, nun schlaf ganz sacht.“
Unser Willi hörte die letzten Worte schon kaum noch. Tief in seine Blätterdecke gekuschelt, war er längst ins Traumland hinübergeglitten – zu Schneckenhäppchen, Regenwurmschmaus und einer Welt, in der Füchse höflich grüssen und niemals an stacheligen Kugeln rütteln.










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