Willi und rosa - eine Igelliebe
- thomasvonriedt
- vor 7 Tagen
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Willi galt gemeinhin als echter Draufgänger. Ein kleiner Igel mit grau-weiss-schwarzen Stacheln, hellbraunem Brustfell und einem sorgfältig gezwirbelten Schnauzbart. Dazu trug er stets geschnürte Lackschuhe, die auf Hochglanz poliert waren, als ginge er jeden Abend auf den roten Teppich. Seine Nase war so rot wie eine Johannisbeere – eine absolute Seltenheit bei Igeln. Kurz: hochattraktiv.
Seit einiger Zeit wohnte er bei mir zur Untermiete. Er hatte eine kleine Höhle unter der Treppe bezogen und kompensierte die fehlende Miete durch seine Jagd auf Schnecken und Würmer im Garten – was mir nur recht war. Seit dem Frühjahr war er regelmässig auf Nachtjagd, und zwar nicht nur des Futterwillens.
Die Natur um uns herum hatte sich nämlich deutlich verändert. In den Jalousiekästen versuchten Vögel zu nisten, abends flanierten verliebte Hundehalter mit ihren Vierbeinern auf dem Gehweg hinter dem Haus, und die Katzen lieferten sich nächtliche Konzertreihen mit sehnsuchtsvollen Liebesarien. Willi war also auf der Pirsch – es konnte ja wohl nicht sein, dass ein prächtiger Kerl wie er ein ganzes Jahr ledig bleiben sollte.
Einige Häuser weiter hatte sich die junge Rosa zu einer hübschen Igel-Dame im heiratsfähigen Alter entwickelt. Ihr Vater war überzeugt, es sei höchste Zeit, sich nach einem ordentlichen Ehemann umzusehen. Rosa sollte ihre Spaziergänge ausdehnen und dabei den betörenden Duft des Parfüms „Hérisson #8“ verströmen. Eine gute Igel-Nase, meinte er, könne das aus grosser Entfernung wahrnehmen – so jedenfalls habe er damals Rosas Mutter im Dunkeln gefunden.
Rosa war zierlich, mit beigem Brust- und Bauchfell, dezent grauen Rückenstacheln, durchzogen von ein wenig Schwarz und weissen Spitzen. Ihr Markenzeichen war ihre rosa Stupsnase, ein untrügliches Zeichen bester Abstammung. Wenn sie mit ihren Freundinnen unterwegs war, erkannte man sie sofort an den rosa Pumps – Eleganz pur.
Aus den Gesprächen ihrer Eltern wusste sie, dass in der Nähe ein „strammer Igel-Mann“ leben sollte. Man sprach allerdings nicht nur schmeichelhaft von ihm: ein Macho, ein Geck, ein Eitler – so hiess es. Doch gerade das machte Willi für Rosa spannend. Welche gute Tochter hörte schon auf die Warnungen ihrer Eltern, wenn es um das eigene Glück ging? Ausserdem hatte ihre Mutter einmal beiläufig erwähnt, dass ihr Vater in jungen Jahren selbst ein rechter Draufgänger gewesen sei. Na also!
Ein Macho, erklärte sich Rosa, war ein Igel, der sich übermässig männlich gebärdete, ein Gockel, einer, der auf sein Äusseres achtete. Klingt doch nicht schlecht, dachte sie – immerhin würde er dann nicht wie ein Prolet oder gar in Sack und Asche erscheinen. Rosa liebte Mode, ein gepflegtes Erscheinungsbild, und verbrachte viel Zeit damit, sich für ihre Ausflüge herauszuputzen. In ihren Tagträumen war ihr Traummann gross und kräftig, mit verführerischer Stimme und einem feinen Gespür für die Bedürfnisse einer Frau – ein wahrer Traumprinz in Lackschuhen.
An einem milden Donnerstagabend war Willi wieder auf der Pirsch. Dieses Mal schlich er zuerst durch meinen Garten, vorbei am Gemüsebeet, dann unter der Trauerweide hindurch bis zum Grundstück des „Zigi-Rauchers“. So nannte man den Mann, weil er Tag für Tag auf seiner Veranda sass, Zigaretten rauchte und die Asche in ein Gefäss am Boden fallen liess. Seine körperlichen Einschränkungen hinderten ihn daran, den Garten zu pflegen. Das Gras hinter dem Haus stand deshalb meist kniehoch und hatte sich zu einem Paradies für unzählige dicke Glattschnecken entwickelt – ein All-you-can-eat-Buffet für hungrige Igel.
Willi kroch gerade unter den Rhabarberblättern hindurch, als seine feine Nase einen unglaublichen Duft wahrnahm. Er blieb wie angewurzelt stehen. Woher kam dieser betörende Hauch? Willi zog die Luft durch seine spitze Johannisbeernase ein, noch einmal, dann noch einmal. Etwas so Berauschendes hatte er noch nie gerochen. Der Duft zog ihn magisch an, fast wie ein unsichtbares Seil.
Er tappte dem Geruch nach, leicht benebelt wie ein Verliebter – oder wie ein Süchtiger, der seiner Lieblingsspeise hinterherläuft. Die Spur führte ihn zum Komposthaufen am Ende des Gartens. Dahinter lag das Schneckenparadies – und, wie sich zeigen sollte, noch einiges mehr.
Immer wieder trug der Abendwind eine neue Welle dieser Duftwolke heran. Willi hob seine rote Nase in die Luft, um ja keine Nuance zu verpassen. Gerade wollte er den Komposthaufen umrunden, als er plötzlich Schmatzen, Schnaufen und das leise Kichern junger Frauen hörte. Vorsichtig schob er mit der Nase die riesigen Blätter einer Bodendecker Pflanze zur Seite, neugierig und doch auf der Hut.
Und da sah er sie – die Göttinnen der Igel-Welt. Vier junge Igel-Damen, jung, knackig, höchst attraktiv, mit glänzenden Stacheln und sorgfältig gebürsteten Bäuchen. Willis Herz begann zu rasen, sein Atem stockte. Normalerweise schnaufen Igel recht laut, aber jetzt hielt er die Luft an. Auf keinen Fall wollte er entdeckt werden, bevor er seinen grossen Auftritt geplant hatte.
Seine Strategie war klar: beobachten, prüfen, auswählen und dann – überraschend, aber charmant – ansprechen. So machte es ein echter Draufgänger.
Einige Minuten lang studierte er die Damenrunde genau. Dann traf er seine Wahl.
„Die mit den rosa Schuhen muss es sein“, dachte er. „Ganz sicher ist sie es, die so betörend nach H#8 duftet. Und dieses süsse rosa Stupsnäschen…“
Gerade setzte er zum eleganten Sprung über die Bordkante an, als seine Lackschuhe auf einem feuchten Blatt ausrutschten. Willi verlor das Gleichgewicht, überschlug sich und kugelte mitten in die Runde der kreischenden Mädchen.
Es war ein grandioser Auftritt – wenn auch anders geplant.
Völlig überrascht, aber immer noch geistesgegenwärtig genug, rollte er sich schnell auseinander, drehte sich auf den Bauch, stützte den Kopf auf die Vorderpfoten und sagte so lässig, wie es seine flatternden Nerven zuliess:
„Hi Mädels, ich bin Willi von Nummer 16.“
Die jungen Damen beruhigten sich langsam, strichen ihre Stacheln glatt, puderten ihre Nasen und lachten freundlich. Dann hielten sie sich kichernd die Pfoten vor den Mund, drehten sich zueinander und tuschelten. Willi wurde leicht rot um die Ohren, was bei seiner ohnehin roten Nase ein interessantes Farbspektakel ergab.
Die Igel-Dame mit der rosa Stupsnase trat einen Schritt vor.
„Schleichst du immer von hinten an die Mädchen heran?“, fragte sie mit einem spitzbübischen Lächeln.
Damit war es um Willi geschehen. Sein Herz klopfte bis in die Stacheln. Er suchte nach Worten, die ihm ständig davonliefen. Schweissperlen sammelten sich vor Aufregung an seinem Brustfell, während er angestrengt versuchte, möglichst charmant zu wirken.
„Also… äh… eine von euch benutzt ein wirklich grossartiges Parfüm“, stotterte er. „Das hat mich magisch angezogen. Ich konnte nicht widerstehen. Eigentlich wollte ich euch höflich ansprechen, aber dann bin ich vor lauter Aufregung über diese Kante gestolpert.“
Er schüttelte die Blätter aus seinen Stacheln, strich sein Brustfell glatt und polierte mit hektischen Bewegungen seine Lackschuhe am Gras.
Rosa, denn sie war es natürlich, war sich nun sicher, dass dieser Igel der berüchtigte Draufgänger war, von dem ihre Eltern gesprochen hatten. Nur dass er in echt deutlich sympathischer wirkte, als man es aus Geschichten her kannte.
„Er ist wirklich ein toller Typ“, dachte sie, und plötzlich fürchtete sie, eine ihrer Freundinnen könnte ihn ihr wegschnappen.
„Ich heisse Rosa“, sagte sie, „und ich trage H#8. Magst du es?“
Sie trat näher, reichte ihm die Pfote und half ihm auf die Beine. Willi liess es geschehen, völlig willenlos – er fühlte sich wie im siebten Himmel und nahm seine Umgebung nur noch verschwommen wahr, obwohl die anderen Mädchen durchaus auch sehenswert waren.
„Darf ich dir eine Schnecke anbieten?“, fragte er nach einer kurzen Atempause. „Hier im Garten gibt es gestreifte Nachtschnecken, die sind als Vorspeise wärmstens zu empfehlen.“
Ohne ihre Antwort abzuwarten, machte er sich suchend auf den Weg und war froh, dabei seine innere Aufregung hinter einer fachkundigen Schneckenberatung verbergen zu können. Rosa winkte ihren Freundinnen unauffällig zu; sie verstanden und zogen kichernd davon. Dann trottete sie Willi hinterher.
Es war bereits sehr spät, als er später zu seiner Höhle unter der Treppe zurückkehrte. Zuvor hatte er Rosa, ganz Gentleman, bis in die Nähe ihrer Unterkunft begleitet. Näher heranzugehen, schien ihm riskant; man wusste ja nie, wie Igelväter auf allzu forsche Verehrer reagierten.
Willi hatte alles gegeben, um einen guten Eindruck zu hinterlassen. „Sie wird es schon nicht allzu leicht haben, mich zu vergessen“, dachte er zufrieden. Und er selbst? Er wusste, dass er diesen Duft, diese rosa Pumps und dieses Stupsnäschen nie wieder aus dem Kopf bekommen würde.
Zu Hause fiel er erschöpft auf seinen Blätterhaufen. Sein Herz schlug schneller als sonst, und es dauerte lange, bis er endlich einschlief. Er war verliebt.
In dieser Nacht träumte Willi lauter als gewöhnlich. Sein Vermieter, der morgens um sechs Uhr zur Arbeit musste, drehte sich im Bett hin und her und wunderte sich über die seltsamen Geräusche unter der Treppe.










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