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Willi in Arizona

  • thomasvonriedt
  • vor 7 Tagen
  • 6 Min. Lesezeit
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Willi und Rosa waren älter geworden. Ihre drei Igelkinder hatten längst die heimische Höhle unter der Treppe von Nr. 16 verlassen und eigene Unterkünfte gefunden. Es war stiller geworden, die wilden Igelnächte lagen ein wenig weiter zurück.

 

Auch Rosa hatte plötzlich mehr Zeit für sich – und stellte kürzlich mit einem leichten Schreck fest, dass sich unter ihren sonst makellos glänzenden Stacheln ein paar graue Härchen eingeschlichen hatten. Nun ja, die Zeit hinterlässt eben ihre Spuren. Mein stattlicher Willi trug inzwischen auch das eine oder andere Zusatzkilo mit sich herum, seit jenem Tag, an dem er zum ersten Mal vor meine Füsse gepurzelt war.

 

Doch im Grunde waren sie noch immer dasselbe grossartige Team. Noch immer verliebt wie am ersten Abend, an dem Willi Rosa mit einer gestreiften Schnecke überrascht hatte. Und er wusste bis heute genau, wie er ihr Herz zum Schmelzen brachte: mit einer besonders feinen „Deluxe-Schnecke“, sorgfältig ausgesucht und schön angerichtet.

 

An besonderen Tagen – oder besser gesagt: Abenden – tupfte sich Rosa mit wohlüberlegter, weiblicher Berechnung einen Hauch ihres berühmten H-Parfüms auf die Brust. Natürlich nicht mehr die jugendliche Version, sondern das kraftvollere „Ladies+“, eigens entwickelt für junggebliebene Igelinnen und mit garantiert verstärkter Wirkung auf männliche Nasen.

 

Vor einigen Tagen traf ein Brief ein, der alles verändern sollte. Der Umschlag kam aus Amerika, genauer: aus Arizona. Absender: John Hedge Hogg Sen. Ein entfernter Verwandter von Rosas Mutter, inzwischen verwitwet und alleinlebend.

 

In dem Brief schrieb er, dass er die beiden gern zu sich einladen würde. Vor vielen Jahren war John – damals noch Hans Igel – nach einer unglücklichen Liebe ausgewandert und hatte in der Nähe von Tucson ein beachtliches Geschäftsreich aufgebaut: einen Import/Export-Betrieb für Delikatess-Schnecken.

 

Seine Spezialität waren biologische Trockenschnecken für den US-Markt. Besonders gefragt waren die gestreifte Riedt-Schnecke im Aspik und die getrocknete rote Gartenschnecke. Beides brachte ihm hohe Preise und glänzende Gewinnmargen ein. Die gewöhnliche braune Schnecke importierte er säckeweise – in 50-Kilo-Ballen – und verarbeitete sie in Tucson zu einer formbaren Schneckenmasse.

 

Damit belieferte er seine eigene Fast-Food-Kette „H-Schnegg-Burgers“, kurz HSB, unverkennbar am lachenden Igelkopf im Logo.

 

Offiziell hiess er zwar John Hedge Hogg Sen., doch eigentlich war er derselbe Hans aus der alten Heimat, aus jener Region, in der auch Willi und Rosa aufgewachsen waren. „Senior“ war er streng genommen nicht – unverheiratet, kinderlos –, aber der Titel klang vertrauenswürdig und liess das Ganze nach traditionsreichem Familienunternehmen aussehen. Und „John“ passte in Arizona nun einmal besser als „Hans“.

 

In den letzten Jahren aber hatte Hans zunehmend gespürt, wie sehr er eigentlich allein war in diesem neuen Land. Oft dachte er an früher zurück: an den vertrauten Dialekt, die feuchten Wiesen, den leichten Nieselregen, bei dem sich die Schnecken aus ihren Verstecken wagten.

 

Hier, in Arizona, hatte er stattdessen Staub, Hitze und Wetterextreme: wochenlang sengende Sonne, dann wieder Regenfälle, bei denen das Wasser in Bächen von den Bergen schoss.

 

Früher gab es ein paar andere deutschsprachige Igel in der Gegend, sogar den Mecki-Clan aus Deutschland – jene berühmten Verwandten „mit dem Knopf im Ohr“. Doch die meisten hatten sich längst angepasst oder wollten sich nicht mehr an die gemeinsame Sprache erinnern. Die junge Generation sprach Englisch oder Spanisch, trug Cowboyhüte und kaute lieber getrocknete Mehlwürmer als frische Schnecken.

 

So schrieb Vetter Hans, er habe nun vielleicht doch ein wenig mehr Zeit, sich um seine Verwandten zu kümmern, und lud Willi und Rosa herzlich zu einem Besuch ein. Dem Brief lagen zwei Flugtickets bei – Erizo International Airline, Direktflug nach Phoenix. Von dort seien es nur noch drei Stunden mit dem Truck bis nach Sierra Vista.

 

Willi war begeistert. Amerika! Und dann auch noch kostenlos – ein Traum in Rotnasen-Format. Rosa allerdings blieb skeptisch.

 

„Und wer schaut nach unserer Wohnung, während wir weg sind?“, fragte sie pragmatisch.

 

Nach einer ausgiebigen Diskussion, mehreren Tassen Kräutertee und Willis feierlichem Versprechen, dass er jede neue Reisekleidung kommentarlos bewundern würde, stimmte sie schliesslich zu.

 

Im September traten die beiden die grosse Reise an. Sie bestiegen die Erizo International ER105 und suchten ihre Plätze. Willi platzierte seine Stacheln ehrfürchtig auf Sitz 5K in der Businessclass. Eine topgestylte Flugbegleiterin, die eher an ein Laufsteg-Model erinnerte, begrüsste ihn mit strahlendem Lächeln.

 

Willi war so nervös, dass ihm zuerst kein Wort über die Lippen kam. Da presste er hervor: „Ein… ein Hog Bitter Ale bitte.“


Rosa stiess ihn dezent mit dem Ellbogen an. „Willi, öffne die Augen. Sie könnte deine Tochter sein“, flüsterte sie schmunzelnd.

 

Der Flug war lang, aber angenehm. Freundlicher Service, reichlich Verpflegung, dazu eine fantastische Aussicht auf Wolken und Kontinente. Nach der Landung warteten allerdings die weniger glamourösen Seiten des Reisens auf sie: die zeitraubende Einreiseprozedur, Fragen, Formulare, Stempel – und das Schleppen der Koffer durch die endlosen Gänge des Flughafens.

 

Schliesslich übernahmen sie ihren reservierten Truck und fuhren in das nahegelegene Hotel, wo sie nach einer kurzen, aber intensiven Lagebesprechung direkt ins Bett fielen.

 

Der Jetlag zeigte sich am nächsten Tag von seiner besten Seite: Um zwei Uhr morgens waren beide hellwach, später fielen sie nochmals in einen tiefen Schlaf, um dann kurz vor Sonnenaufgang endgültig aufzuwachen.

 

Nach einer ausführlichen Dusche – Willi brauchte etwas länger, um seine Stacheln mit Gel wieder korrekt nach hinten zu stylen – machten sie sich auf zum „American Breakfast“.

 

„Gebackene Schnecken mit Spiegelei, Mehlwurm-Würstchen, Salat und Tomaten“, las Willi von der Karte. „Nicht schlecht für den Einstieg“, meinte er und bestellte das volle Programm.

 

Gestärkt verliessen sie das Hotel und nahmen Kurs auf die mexikanische Grenze im Süden.

 

„Schau nur, Willi, überall Kakteen“, staunte Rosa. „Die sehen ja fast aus wie wir, nur grösser und noch stacheliger. Aber hier ist es so trocken… Wo um alles in der Welt sollen da Schnecken leben?“

 

Willi zuckte mit den Schultern. „Vielleicht in klimatisierten Höhlen“, meinte er.

 

„Und vergiss nicht“, fuhr Rosa fort, „hier gibt es den Kitfuchs – eine entfernte Verwandte von unserer Ermelyn. Und Frank, den Kojoten, Conco, den Puma, und Jesse, den Wüstenwolf. Vor allen Jäger sollten wir uns in Acht nehmen.“

 

So plauderten sie die ganze Fahrt über. Die drei Stunden vergingen wie im Flug.

In Sierra Vista wurden sie nach Osten zur JHH-Farm geschickt. „Dort drüben, wo der Suizo wohnt“, murmelte der Peon am Strassenrand, ohne unter seinem breiten Hut hervorzuschauen. Er blies eine Rauchwolke aus seiner spitzen Mäusenase in die Luft und döste weiter.

 

Als sie den Hof erreichten, kam Hans Igel aus seinem Adobe-Haus heraus. Willi verschlug es fast die Sprache.

 

Hans sah aus wie ein mexikanisch-spanischer Hidalgo: gezwirbelter Schnauzbart, hohe Stiefel mit klirrenden Sporen, ein breiter Gürtel mit glänzender Silberschnalle. Nur die Stacheln verrieten ihn noch als Igel.

 

Die Amerikaner hatten schon immer ihren eigenen Geschmack, sagte Willi – und offensichtlich kümmerte es Hans wenig, was andere davon hielten.

 

Hans war ein grosszügiger Gastgeber. Er liess seine Gäste in einem kühlen Gästezimmer unterbringen, sorgte für frisches Wasser, bequeme Liegeplätze und ein reichhaltiges Abendessen.

 

Später sassen sie zu dritt auf der Veranda, blickten in den glutroten Sonnenuntergang über dem Sierra Vista Valley und nippten an einem kühlen Mesquite-Drink.

 

Hans erzählte von seinen Plänen: Da er in Europa kaum noch Verwandte hatte und hier in den USA keine Igel in der Nähe lebten, wollte er seinen gesamten Besitz der Stiftung „Lonely Hogs“ vermachen, einer weltweit tätigen Organisation, die sich um alleinstehende Igel kümmerte – solche, die niemanden hatten, der ihnen eine Schnecke schälte oder den Rücken bürstete.

 

Er erwähnte nebenbei, dass er Rosa in seinem Testament besonders berücksichtigen wolle. Doch die beiden winkten ab – das war ihnen für diesen Abend ein paar Gedanken zu viel. Sie waren gekommen, um ihn zu besuchen, nicht, um Erbschaftsfragen zu klären.

 

„Morgen“, sagte Hans, „werde ich euch unsere stacheligen Vettern vorstellen – die Kakteen.“

 

Er erklärte, dass die grössten unter ihnen, die Saguaro-Kakteen, bis zu siebzehn Meter hoch werden konnten, ganze „Wälder“ bildeten und wie schützende Riesen über der Wüste standen. Doch auch unzählige kleinere Arten gab es, jede mit ihrer eigenen Überlebensstrategie.

Die Wüste, so erzählte er, erwache nach einem kurzen Regen wie durch Zauberhand zum Leben. Innerhalb weniger Tage blühten Pflanzen, die man vorher kaum wahrgenommen hatte, Insekten schwirrten, und selbst die stachligen Gesellen strahlten helle Blütenkronen in den Himmel. Flora und Fauna seien viel vielfältiger, als es die karge Landschaft vermuten lasse.

 

Neben den grossen Raubtieren wie Puma, Kojote und Wüstenwolf gäbe es zahllose Insekten, Nagetiere und sogar ein anderes stacheliges Wesen – den Urson, ein Stachelschwein. Mit ihnen seien sie aber nicht verwandt.

 

„Schlangen werdet ihr sicher auch sehen“, meinte Hans. „Aber die meisten melden sich höflich mit lautem Geklapper, bevor sie euch näherkommen. Und keine Sorge: Unsere Stacheln mögen sie gar nicht.“

 

Als der amerikanische Mond hell über dem Sierra Vista Valley stand und Jiminy Cricket mit seinem ganzen Orchester das nächtliche Konzert anstimmte, wurden Willis’ und Rosas Augen langsam schwer.

 

Die Hitze des Tages wich einer lauen Nachtbrise, die über die Veranda strich, und irgendwo in der Ferne war das dumpfe Heulen eines Kojoten zu hören.

 

„Morgen“, murmelte Rosa, „ist schliesslich auch noch ein Tag.“

 

Willi nickte schläfrig. In Gedanken sah er sich schon zwischen den Saguaro-Kakteen stehen – ein kleiner, rotnasiger Igel mit Fernweh in der Brust und einer grossen Portion Abenteuerlust im Herzen.

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