top of page

Willi und die Luftschlacht

  • thomasvonriedt
  • 17. Dez.
  • 5 Min. Lesezeit
ree


Als Willi an diesem späten Nachmittag aus seiner Höhle kroch, merkte er sofort, dass etwas anders war als sonst. Die Luft war dick und schwer, fast zum Schneiden, und schon nach wenigen Schritten perlte ihm der Schweiss über das Gesicht und in die Augen. Auf fast jeder Stachelspitze schimmerte eine kleine, glänzende Tropfenperle.

„Mann, ein bisschen frischer Wind wäre jetzt nicht schlecht“, grummelte er und schob sich durch das Blätterdickicht der Funkien.

 

Am Horizont türmten sich dunkle Wolkenberge auf, drohend und beeindruckend zugleich. Die letzten Sonnenstrahlen brannten gnadenlos auf die Steinplatten, die sich derart aufgeheizt hatten, dass Willi sie nur im Eilschritt überqueren konnte. Er flitzte also hastig über die roten Porphyr-Platten ins kühlere Unterholz, wo die Hitze etwas erträglicher war, und liess den Blick über den Garten schweifen.

 

Der Rasen war vor ein paar Tagen vertikutiert worden. Überall lagen feine Erdkrümel, die Samen waren ausgesät, und eine dünne Schicht Rasensaat-Erde bedeckte das Ganze wie ein zarter Mantel.

 

„Hoi zäme!“, rief Willi den emsig pickenden Sperlingen zu. „Ihr bekommt den Bauch auch nie voll, was?“ meinte er verschmitzt. Sein Vermieter sah diese gefrässigen Besucher gar nicht gern – sie leerten ihm die Zukunft des Rasens, Körnchen für Körnchen.

 

Die Spatzen achteten kaum auf ihn. Vollständig konzentriert stapften sie in Trupps über die frische Saat, pickten, hüpften, pickten weiter. Manchmal wurden sie aufgeschreckt, flogen in die Büsche, warteten ein paar Minuten – und kehrten dann wie eine kleine Armee wieder zurück auf das Buffet.

 

Klar, dachte Willi, so üppig ist der Tisch nicht jeden Tag gedeckt. Und gratis schon gar nicht.

 

Er beobachtete das Treiben und überlegte, wo er heute Abend wohl sein eigenes Mahl finden würde. Die dunklen Wolken am Himmel versprachen reiche Beute. Wenn erst der feine Regen einsetzen würde, krochen Würmer und Schnecken aus ihren Verstecken – und dann bräuchte ein Igel sie nur noch einzusammeln.

 

„Hoffentlich ist es bis dahin dunkel“, murmelte Willi. „Sonst sind die flinken Vögel wieder schneller als ich.“

 

In diesem Moment: „Schüüüüüm!“

Ein Schatten raste so dicht an ihm vorbei, dass er instinktiv die Stacheln sträubte. Er hörte noch das scharfe Zuschnappen eines Schnabels, dann ein verzweifeltes Sirren – und weg war der Schatten. Willi blinzelte irritiert nach rechts.

 

„Schüüüm!“ Der nächste Pfeil schoss knapp an seinem Kopf vorbei. Und noch einer. Und noch einer.

 

„Uuuaaaahm!“ – dieses Mal kam der Schatten direkt aus der Sonne. Er streifte beinahe die Dachrinne, tauchte knapp am Baum vorbei und stieg dann wieder steil nach oben, bis Willi ihn aus den Augen verlor.

 

Das ging fast wie im Kino – oder besser: wie im Fernsehen, wenn sein Vermieter Kriegsfilme über den roten Baron und den blauen Max schaute. Nur dass hier kein Ton aus Lautsprechern kam, sondern echtes, schneidendes Pfeifen durch die Luft.

 

„Heeeej! Bist du der rote Baron?“ rief Willi dem nächsten Projektil hinterher, das ihm eben an der roten Nase vorbeizischte.

 

„Man nennt mich Black Diver“, tönte eine Stimme von weit oben. „Ich bin wahrscheinlich der schnellste Mauersegler der ganzen Region. Gute 200 Kilometer pro Stunde schaffe ich – und das ist auch nötig, wenn man Mücken fangen will.“

 

Erst jetzt bemerkte Willi, was sich über der Wiese zusammenbraute: Ein riesiger Schwarm Zuckmücken hatte sich versammelt und kreiste in der warmen Abendluft. Wie eine schimmernde Wolke tanzten sie im Kreis, auf und ab, im Rhythmus ihrer summenden Flügel.

 

Den Mücken war klar, dass dieser Feierabendtanz im Gegenlicht der untergehenden Sonne ein gewaltiges Risiko darstellte – aber was soll’s, sagten sie sich im Chor: Man lebt nur einmal.

 

„Nz, nz, ssss, sss, nz, nz“, summten sie weiter und zogen ihre Bahnen, als würde irgendwo eine Walzermelodie gespielt, die nur sie hören konnten.

 

Willi war fasziniert. „Wie machen die das nur? So winzig, und trotzdem schaffen sie es, gleichzeitig zu sirren und zu tanzen – keiner fliegt dem anderen in die Flügel…“

 

Black Diver und seine Kollegen drehten jetzt erst richtig auf. Im Sturzflug rissen sie den Schnabel weit auf, schossen mitten durch die Mückenwolke hindurch, tauchten wieder auf, drehten einen eleganten Bogen – und stürzten sich erneut hinein. Jedes Mal, wenn sie den Schwarm durchbrachen, verschwanden Dutzende Mücken in ihren Schnäbeln.

„Wenn das doch nur mit Schnecken ginge“, dachte Willi neidisch. „Einmal quer durch das Beet, Maul auf, und fertig der Schmaus…“

 

Man sagt, Zuckmücken könnten je nach Wetterlage bis zu hundert Meter hoch aufsteigen. Heute jedoch hingen sie tief, knapp über dem Boden. So zwangen sie Schwalben und Mauersegler zu atemberaubender Flugakrobatik. Schwalben und Mauersegler waren zwar nicht miteinander verwandt, aber sie verstanden sich und teilten dieselbe Leidenschaft: fliegende Insekten.

 

„Black Diver!“, rief Willi. «Könntest du nicht mal kurz anhalten? Es ist kaum möglich, ein Gespräch zu führen, wenn du in diesem Affenzahn an mir vorbeischiesst!“

 

„Nein, nein!“, rief die Stimme aus der Luft. „Am Boden sind wir verloren. Wir fliegen auf Thermik und Wind – das spart Kraft. So erwischt uns keiner. Na gut, … fast keiner. Ein Sperber oder Falke kann es schaffen.“

 

„Kannst du nicht fliegen, kleiner Mann?“

 

„Hej, hej, ich bin Willi – und kein kleiner Mann. Und wenn ich wollte, könnte ich fliegen. Aber ich fühle mich am Boden sehr wohl, vielen Dank.“

 

„Siehst du, so geht’s uns umgekehrt. Auf dem Boden fühlen wir uns nicht wohl. Also bleiben wir da oben – und haben nur Sperber und Falken zu fürchten. Alle anderen sind zu langsam.“

 

„Der hat’s gut“, dachte Willi. „In der Luft verfolgen mich Kauz Kari und Uhu Duc, und am Boden hockt diese gemeine Ermelyn, die Füchsin, im Gebüsch.“

 

„Aber du könntest vielleicht ein wenig enger um mich kreisen, dann könnte ich dich besser verstehen“, rief Willi.

 

„Gute Idee“, antwortete Black Diver. „Aber später, ja? Erst müssen wir uns noch ein ordentliches Polster anfressen. In ein paar Wochen geht’s ab in den Süden ins Winterquartier.“

 

Er pfiff durch die Luft, und wie auf ein geheimes Signal formierten sich die Mauersegler neu.

 

Nun begann eine Flugshow, wie Willi sie noch nie gesehen hatte. Im Formationsflug schossen sie knapp an der Kaminspitze vorbei, zogen eine rasante Kurve über dem Hausdach, tauchten im Sturzflug in die summende Mückenblase ein, rissen sich dann wieder steil nach oben und verschwanden kurz im gleissenden Licht der Sonne.

Willi wurde fast schwindelig vom blossen Zuschauen. Über ihm pfiff und flatterte, sauste und zischte es.

 

„Sssschhhh! Uuuuäääh! Tsouuuum!“ – fehlten nur noch der Knall von Granaten und das Rattern von Maschinengewehren, und es wäre tatsächlich wie in den alten Filmen mit dem roten Baron gewesen.

 

„Ciao, Willi, ein andermal! Der Sturm zieht auf – wir müssen weitermachen!“, rief Black Diver noch, bevor er mit seinen Kameraden in der Richtung der Wolken verschwand.

 

Die Mücken tanzten weiter, als wäre nichts gewesen. Wie Hippies in einer endlosen Trance schwirrten sie in ihren Kreisen. Dass ein paar hundert von ihnen fehlten, schien niemand zu bemerken. In ein paar Tagen würden sie ohnehin am Ende ihres kurzen Mückenlebens angekommen sein.

 

Langsam begann es zu dämmern. Der Wind frischte merklich auf. Einige Zapfen lösten sich knarzend aus der Fichte, und gelbe Birkenblätter wirbelten in wilden Spiralen über den Rasen.

 

Die ersten dicken Regentropfen zeichneten dunkle Punkte auf die Porphyrplatten, Blitze zuckten blendend über den Himmel, und kurz darauf folgte der tiefe, grollende Donner.

 

„Zeit, Land zu gewinnen“, murmelte Willi. Er fragte sich, wo seine gefiederten Freunde wohl Unterschlupf fanden, wenn es so richtig losging. Das würde er Black Diver beim nächsten Wiedersehen fragen.

 

Die Flugshow hatte ihn tief beeindruckt. Er war sicher, dass er in dieser Nacht davon träumen würde – als Rotnasen-Willi, der schnellste Flug-Igel aller Zeiten, der im Tiefflug Würmer und Schnecken einsammelte, Ermelyn an den spitzen Ohren zupfte und Uhu Duc lachend davonsegelte.

 

Gerade noch rechtzeitig, bevor der Regen in Strömen niederging, erreichte er seine Höhle unter der Treppe, kuschelte sich auf seinen Blätterhaufen und schloss die Augen.

 

Schnecken sammeln konnte er auch später noch.

Kommentare


bottom of page