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Willi trifft Biggie

  • thomasvonriedt
  • vor 6 Tagen
  • 6 Min. Lesezeit
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Nicht immer steht auf dem Feld hinter dem Haus mannshoher Mais oder dichter Korn. Um den Boden zu schonen und nicht Unmengen von teurem Kunstdünger einsetzen zu müssen, praktiziert der Bauer die gute alte Fruchtfolge. Mal leuchten Erbsen auf dem Feld, mal wiegt sich das Getreide im Wind, und manchmal wachsen nur niedrige Bodendecker, die die braune Erde nach und nach in eine zartblaue Blütenwiese verwandeln.

 

Früher, als die Rinderzucht noch lohnend war, dienten diese Wiesen lange Zeit als Weiden. Vierundzwanzig Stunden am Tag, im immer gleichen Rhythmus, begleitete uns das Bimmeln der Glocken in allen Tonlagen. Wenn sich die Schlaggeschwindigkeit erhöhte – heute würde man „Beat“ dazu sagen – wussten wir: Die Herde hat es eilig, vielleicht hat ein Hund sie aufgescheucht. Und wenn plötzlich absolute Stille einkehrte, lagen sie irgendwo im Gras, wiederkäuend und ruhend.

 

Dann kamen neue Vorschriften, und der Bauer wurde gezwungen, seine Tiere ohne Glocken auf die Weide zu schicken. Vermutlich, weil einige Neuzuzüger das Zuknallen von Autotüren und das Quietschen der Trams angenehmer fanden als das Läuten von Schellen und Glocken. Nun ja – zu jener Zeit, als noch fast paradiesische Zustände herrschten, trotteten Tag für Tag, bei Wind und Wetter, Biggie und ihre Artgenossinnen mit ihren Kälbern hinaus auf die Weide.

 

Morgens raus, abends zurück in den Stall, wo Melkmaschine und Bauer bereits warteten. An warmen Sommerabenden ging es nach dem Melken nochmals hinaus: Dann änderte sich wie von Zauberhand der Rhythmus der Glocken, und ihr beruhigendes Gebimmel wiegte die Kinder in den umliegenden Häusern in den Schlaf. Von wegen Lärmbelästigung.

 

Biggie, eine grossgewachsene braun-weisse Kuh mit freundlichen, dunklen Augen, wusste genau, wo auf der Weide die besten Gräser und Kräuter wuchsen. Beim Rupfen arbeitete sie sich systematisch durch das frische Grün: Löwenzahn, Hirse, Klee, Hahnenfuss, Wiesensalbei, Sauerampfer und viele andere Pflanzen sorgten für gesunde Nahrung und eine Milch, auf die der Bauer stolz sein konnte.

 

Gelegentlich liess Biggie mit einem lauten Platschen das Verdauungsprodukt des Tages an Ort und Stelle fallen und sorgte damit ganz nebenbei für optimale Düngung. Das nannte man früher einfach Landwirtschaft, heute würde man sagen: „Recycling im geschlossenen Kreislauf“.

 

Es war ein früher Sommerabend – es blieb ja oft bis fast 22 Uhr hell –, als Willi mal wieder neugierig über die Steinmauer lugte und den weidenden Kühen zusah. Grosse braun-weisse Tiere mit schwerem Körper und spitzen Hörnern zogen gemächlich schnaubend über die Wiese. Einige waren eher grau-braun und etwas zierlicher, andere trugen ein fast schwarzes Fell – das waren die robusten Angusrinder.

 

Die grossen Kühe trugen breite Lederhalsbänder mit mächtigen Glocken, deren dunkles bing-bing, bing-bingweit über die Felder hallte. Andere hatten hellklingende Glocken, die ein fröhliches bim-bim-bimbeisteuerten. Und dann gab es noch einige mit Treichel, die ein wenig schepperten und klangen, als hätte jemand einen kleinen Kessel aufgehängt. Je nach Gangart der Trägerinnen ergab sich daraus ein einzigartiges Weidekonzert.

 

Willi war beeindruckt – und zugleich ein wenig eingeschüchtert. Mit jedem Schritt wirkten die Kühe grösser, und das schwere Schnauben aus ihren Nüstern klang bedrohlich. Wenn die Leitkuh ein kräftiges „Muuuaaah“ ausstiess, antworteten die anderen eine nach der anderen mit einem „Muuuuh“, „Muuah“ oder „Muh“.

 

„Ob die wohl gerade durchzählen, ob alle da sind? Oder ist das eine Art Wanderlied?“, murmelte Willi.

 

Er schlüpfte durch einen Spalt in der Mauer und trippelte auf den Weidezaun zu. „Vorsicht, nicht berühren“, las er auf dem kleinen Schild, und fragte sich, vor wem hier eigentlich gewarnt wurde. „Sind die so gefährlich?“, sagte er halblaut und blieb respektvoll vor dem Zaun stehen.

 

Die Tiere schienen ihn zunächst gar nicht zu beachten. Mit ihren langen, rauen Zungen umwickelten sie Grasbüschel und Blüten, rissen sie geschickt ab, ohne Wurzeln und Erde mitzunehmen, und liessen alles im schmatzenden Maul verschwinden. Vereinzelt schüttelten sie den Kopf, um die lästigen Fliegen von Nüstern und Augen fernzuhalten, oder schlugen mit ihrem Schwanz bis fast an den Hals. Jedes Mal gerieten Glocken und Treicheln kurz aus dem Takt, bevor sie wieder in den beruhigenden Rhythmus fanden.

 

Die Leitkuh kam näher, Schritt für Schritt, und Willi staunte mit weit aufgerissenen Augen, welche Mengen an Gras in diesem riesigen Körper verschwanden.

 

„Ich müsste wohl den halben Tag mit der Sense unterwegs sein, um das zusammenzubekommen, was die in einem einzigen Bissen wegputzt. Der blanke Wahnsinn“, murmelte er.

 

Als hätte die Kuh seine Gedanken gehört, hielt sie plötzlich inne. Zwei dunkle Nasenlöcher schoben sich schnuppernd auf ihn zu. Willi ging vorsichtig in eine defensive Haltung, spreizte einige seiner Stacheln und blickte direkt in ein gewaltiges Maul. Schon wollte er sich einrollen, als ein sonores, fast grollendes „Muuuuaaah“ ertönte.

„Was ist denn das für ein kleiner Kerl? Wer sitzt da in meinem Gras?“

 

Und dann, als hätte jemand in seinem Kopf einen Reim angeschaltet, huschte ihm folgender Vers durch den Sinn:

 

Wer kommt daher im Wiegeschritt,

in braunem Kleid und richtig fit?

Mit Hörnern stolz und lautem Muh

das ist die Biggie, Weidekuh.

 

Es bimmelt, bammelt durch die Nacht,

ein Glockenkonzert von sanfter Pracht.

Sie kauen, fressen, wiederkäu’n,

und lassen Milch in Strömen flieh’n.

 

Willi räusperte sich. „Ich bin Willi, und ich meine überhaupt nichts Böses. Ich fresse bestimmt kein Gras“, sagte er und liess vorsichtig einige Stacheln wieder sinken, um besser sehen zu können.

 

Zwei grosse, braune Augen sahen ihn neugierig und ein wenig amüsiert an. Das riesige Maul blieb geschlossen, nur aus den Nüstern strömte warm die Luft.

 

„Und was will ein kleiner Igel auf meiner Weide?“, fragte eine tiefe, warme Stimme. „Ich bin Biggie, die Leitkuh des Hofs. Alle anderen folgen meinen Anweisungen.“

 

Wie zur Bestätigung ertönte ein Chor von Muhrufen in allen Tonlagen, und Willi bemerkte, dass ihn inzwischen die ganze Herde umrundete.

 

„Wir sind Kühe“, erklärte Biggie mit einem leichten Glockenschlag. „Die Kleinen dort sind unsere Kälber. Wir fressen Gras, Blumen und Kräuter und geben Milch. Unser Bauer macht daraus Trinkmilch, Butter, Käse – und manchmal sogar Joghurt, wenn etwas übrigbleibt. Wie du siehst, sind wir hier ziemlich wichtig. Darum sollten wir bei der Arbeit möglichst wenig gestört werden. Sonst wird uns am Ende noch die Milch sauer.“

 

„Ja klar, Biggie, das verstehe ich“, sagte Willi eifrig. „Ich wollte euch wirklich nicht bei der Arbeit stören. Ich bin nur neugierig und wollte euch kennenlernen. Ich bin eben ein Igel – und Igel sind nun mal neugierig.“

 

„Muuuh“, riefen die Kühe im Chor. „Wir haben schon von solchen wie dir gehört“, und sie schlugen mit ihren Schwänzen vergnügt im Takt.

 

Willi nutzte die Gelegenheit und begann zu fragen:

 

„Warum habt ihr so grosse Hörner?“ – „Damit wir uns verteidigen können“, antwortete Biggie.

 

„Und warum sind die Euter so gewaltig?“ – „Weil sie voller Milch sind. Der Bauer wird bald zum Melken kommen“, brummte eine ältere Kuh.

 

Willi stellte Frage um Frage, und die Kühe kauten unbeirrt weiter. Ab und zu stoppte eine, um eine besonders gute Stelle im Gras zu markieren, dann ging das grosse Nagen und Schmatzen weiter.

 

Langsam senkte sich die Dämmerung. Der Himmel verfärbte sich von Blau zu Violett, der Mond zeichnete einen silbrigen Rand um die Wolken. Die Glocken klangen nun ruhiger, wie eine Schlafmusik für das ganze Tal.

 

„Nur noch eine letzte Frage“, sagte Willi schliesslich. „Gibt es bei euch eigentlich nur Kühe und Kälber? Wo ist denn der Chef?“

 

„Der Chef?“ Biggie schnaubte kurz. „Der Stier ist auf der Alp, bei einer anderen Herde, die noch keine Kälber hat. Zum Glück, wenn du mich fragst. Stiere sind eigensinnig, meistens mit sich selbst beschäftigt und rennen jeder Kuh hinterher, die nicht bei drei auf dem Baum ist. Manchmal drehen sie wegen nichts und wieder nichts durch. So haben wir hier unten unsere Ruhe.“

 

„Aha“, meinte Willi nachdenklich. „Bei uns Igeln läuft das etwas anders. Wir suchen uns einen Partner, bekommen vier bis fünf Junge, schlafen tagsüber im Bau und gehen nachts auf Nahrungssuche. Klein sind wir zwar, aber wehrhaft. Wir haben zwar keine Hörner, dafür zahlreiche spitze Stacheln.“

 

Er schaute zur untergehenden Sonne, die letzten Strahlen streiften den Zaun.

 

„Ciao, Biggie, ich muss wirklich los. In der Nacht sind Uhu und Fuchs unterwegs, und meine Familie wartet auf mich. Auf Wiedersehen, Biggie – bis zum nächsten Mal.“

 

„Muuuuua, tschau, Willi. Es war mir ein Vergnügen“, sagte Biggie freundlich und setzte sich wieder in Bewegung. Mit jedem Schritt klangen ihre Glocken: bing-bing, bim-bim-bim, dazu das leise schepper-schepper der Treicheln. Wie auf ein geheimes Zeichen folgte die ganze Herde im selben Takt.

 

„Das scheinen aber wirklich nette Leute zu sein“, dachte Willi, während er sich vom Zaun abwandte. „Wenn ich so grosse Hörner hätte und so riesig wäre wie Biggie, müsste ich vor Ermelyn, dem Fuchs, keine Sekunde Angst haben.“

 

Mit diesem tröstlichen Gedanken drehte er sich um, schlüpfte zurück durch den Spalt in der Steinmauer und marschierte schnurstracks in seinen heimischen Garten – wo schon der vertraute Duft von Schnecken und Abendluft auf ihn wartete.

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