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Willi - mein Hausigel

  • thomasvonriedt
  • vor 6 Tagen
  • 5 Min. Lesezeit
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Seltsam: Immer wenn ich an meinem Computer sitze und den Apple-Laubfrosch auf dem Desktop betrachte, verblasst er ganz langsam. Aus dem grünen Hintergrund tritt dann ein keck lachender Igel hervor – mit nach hinten gekämmten grau-weiss-schwarzen Stacheln, gezwirbeltem Schnauzbart, roter Johannisbeernase und sorgfältig gebürstetem beigefarbigem Brustfell. Ein wahrlich schöner Vertreter seiner Rasse.

 

Er lugt zwischen den grünen Blättern hervor und meint rotzfrech:

 

„Aha, du hängst mal wieder vor dem PC, machst Facebook, WhatsApp und so. Dabei gäbe es doch noch so viel in und ums Haus zu tun.“

 

Nun, ich will ihm nicht widersprechen – es würde ja doch nichts nützen. Aber trotzdem frage ich mich, woher ein Igel Facebook oder WhatsApp kennt. Verkauft Apple neuerdings iPhones an Igel?

 

Da sitze ich also an meinem Arbeitstisch, das Kinn aufgestützt zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand, und sinniere vor mich hin. Da ruft Willi ungeduldig in die Stille meines Büros:

 

„Du könntest mich doch auch deinen Lesern vorstellen und mich dabei gleich wieder deinen Kindern in Erinnerung rufen, oder nicht?“

 

Recht hat er. Zu lange musste er in einer Schublade im Hinterstübchen meines Hirns ein trauriges Dasein fristen. Ich hatte ihn vergessen – ihn, die Frohnatur, ihn, der uns zu so vielen Freunden geführt hat: zu Klara, der Eule, zu Chnabberi, dem Eichhörnchen, zu Zibbeli und aus dem Garten Putz, der Maus, und zu den Gebrüdern Wichtel.

 

Du hast schon recht, Willi. Und im Übrigen erinnern sich meine Kinder ausgezeichnet an dich. Wärst du in unserem WhatsApp-Family-Chat, würdest du mitbekommen, dass sie dich immer noch lieben.

 

„Wirklich? Und das ist wahr?“, fragt Willi ganz verlegen. „Ich bin ja so gerührt.“

 

Es ist sicher über zwanzig Jahre her. Unser Haus stand gerade etwas mehr als fünf Jahre, da hörte ich nachts immer wieder seltsame Geräusche. Vielleicht war es der Marder, der über die überdimensionale Holzbeige des Nachbarn raste, vielleicht auch der Fuchs aus dem Maisfeld gegenüber – oder eben ein verliebter Igel.

 

Igelherren sind echte Machos. Wenn sie aktiv sind, hört man ihr Schnaufen und „Grochsen“ schon von weitem. Eines Morgens suchte ich den Garten ab. Und endlich, nahe der Steintreppe zum Haus, dort, wo der Balkon die letzte Stufe trifft, fand ich den Eingang zu Willis Behausung. Bestens getarnt unter den grossblättrigen Funkien.

 

Natürlich schlief er – was denn sonst – und bestimmt war er ausgepumpt von seinen nächtlichen Abenteuern. Sollte ich ihn nun wecken, vielleicht mit einem Sprutz aus dem Gartenschlauch? Oder einfach höflich mit einem Stein gegen den Eingang klopfen? Ich entschied mich für den Stein. Wer will schon im Bett abgespritzt werden?

„Bist du wahnsinnig, um diese Zeit einen Igel zu wecken? Weisst du nicht, dass das meine Chancen bei den Damen entscheidend verringert? Wie sieht das aus, wenn ich mit Augenringen und ungekämmtem Brustfell unter die Leute gehe?“ brummte es sehr verärgert aus dem Unterschlupf.

 

Ich konnte es kaum glauben. Ist das real, ist das normal? Da beschwert sich jemand aus einem Loch unter meinem Balkon, einer, der nicht einmal Miete bezahlt und mich nachts nicht schlafen lässt. Und ich verstehe „Igelisch“! Bisher war ich doch nur mit den Dialekten der Kanarienvögel, Chinchillas und Goldhamster vertraut, die ich als Kind bei meinen Eltern gepflegt hatte.

 

„Ja, hör du jetzt einmal gut zu“, gab ich zur Antwort. „Ich bin hier der Hausbesitzer und kenne dich offiziell gar nicht. Wer hat dir erlaubt, bei mir zur Untermiete zu leben, nachts zu stöhnen, als würdest du geschlachtet, und dann nicht einmal zu zahlen?“

 

Zuerst erschien eine Nase – knallrot wie eine Johannisbeere. Dann ein freundlicher Kopf mit zwei verschmitzten Augen und kreuz und quer stehenden Stacheln. Schliesslich stand ein richtiger Igel vor mir. Die Füsse steckten in Hausschuhen, und mit den Händen rieb er sich die verschlafenen Augen.

 

„Ich bin der Willi. Die meisten in der Umgebung kennen mich. Und ganz ehrlich: Ich wollte letzte Nacht ja nicht so laut sein. Dieses Fräulein Igel war so charmant, die Nacht so lau, der Mond liess ihre Vorzüge im fahlen Licht noch attraktiver erscheinen. Würdest du so eine Gelegenheit links liegen lassen? Ich musste sie einfach ansprechen. Und es stimmt nicht, dass in der Nacht alle Katzen grau sind – na ja, vielleicht die Katzen, aber Igel-Damen ganz sicher nicht“, lachte er.

 

Nun, ich wäre kein Mann, wenn ich ihm da nicht zugestimmt hätte. Also bot ich ihm das Du an und freie Logis – unter der Bedingung, dass er sich künftig vor anderen Fenstern vergnügen würde.

 

Von diesem Tag an waren wir Freunde. Wann immer wir uns trafen, erzählte er von seinen Abenteuern. Nein, nicht nur die amourösen Geschichten, sondern auch all die anderen, die er mit den vielen Bewohnern in unserem Garten und in den nahen Feldern erlebte.

 

Zu fürchten hatte Willi sich bei uns nicht. Die Katzen gingen ihm aus dem Weg, der Fuchs kam nicht bis zu unserem Haus, weil es dort nichts zu holen gab. Einzig vor der Strasse musste ich ihn warnen. Willi ging und kam und kam und ging.

 

Er räumte kräftig auf unter den roten Glattschnecken und den Würmern, die meinen Rasen und die Blumen traktierten. Überhaupt wurde er zu meinem wertvollen Gartenmitarbeiter – und ich musste ihm nichts erklären. Er wusste einfach, wie er sich einbringen konnte. So gesehen zahlte er seine Miete indirekt und mehrfach.

 

Der Sommer ging langsam vorbei. In der Wohnung unter dem Balkon hauste nun offenbar eine ganze Igelkolonie, die sich auf Herbst und Winter vorbereitete. Willi hatte dank seines unwiderstehlichen Charmes die Igelin Rosa gewonnen. Daraus entstand eine süsse Familie mit vier kleinen Igelis: zwei allerliebsten Babygirls mit rosa Näschen und zwei Babyboys, unverkennbare Kopien ihres Vaters.

 

Rücksichtsvoll verzichtete ich darauf, das Unkraut im Gartenbeet rund um seinen Unterschlupf zu jäten; die Funkien liess ich wild über den Eingang wuchern. Manchmal deponierte ich Schnecken in einem Schälchen neben der Höhle – was man eben so macht als guter Vermieter.

 

Wieder einmal war ich längere Zeit geschäftlich unterwegs gewesen. Als ich nach Hause kam, fand ich zu meiner Enttäuschung den Igelbau verlassen vor.

 

„Hat sich dieser Kerl davongestohlen, ohne sich bei mir zu verabschieden“, schimpfte ich vor mich hin. „Gerade jetzt, wo ich mich so an ihn gewöhnt habe. Ich wollte doch seine kleine Familie noch näher kennenlernen. So schade.“

 

Ehrlich: Willi ist mir richtig ans Herz gewachsen. Bestimmt ist er in den Süden gezogen, um der kalten Zeit zu entfliehen. Ich hoffe, er hat einen guten Platz für seine Familie gefunden.

 

Und ich bin sicher: Im nächsten Frühjahr werden wir uns wiedersehen.

 

„Ciao, Willi – mach’s gut.“

 

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