Willi - Begegnung der besonderen Art
- thomasvonriedt
- 17. Dez.
- 5 Min. Lesezeit

Kürzlich las ich wieder einmal diese Zeilen, festgehalten mit krakeligen Buchstaben einer des Schreibens ungeübten Hand. Mit einem Schmunzeln betrachtete ich das karierte Papier, das mit Tesafilm gegen weiteres Zerreissen verstärkt worden war. Hatte das Zettelchen doch die vergangenen mehr als 30 Jahre durchgehalten, eingeklemmt zwischen meiner ID und der Kreditkarte im Büffelportemonnaie.
Gefaltet reiste das Papier durch die ganze Welt, hunderttausende von Flugmeilen, durch alle Zeit- und Klimazonen – und ging nie verloren. Der Schreiber war damals knapp vier Jahre alt, noch nicht einmal im Kindergarten und schon gar nicht des Schreibens mächtig – jedenfalls glaubte ich das. Der kleine Junge überraschte seinen Vater prächtig. Wie hatte er sich bloss das Schreiben beigebracht?
Ich vermute, da half das grosse Bärenbuch mit dem Alphabet für Kinder, und wahrscheinlich auch seine ältere Schwester, die damals die erste Klasse besuchte. Ich schmunzelte. Warum gerade Willi – und warum will der nicht turnen, dort, wo er zur Schule („Sule“) geht? Ich wusste es nicht und legte das Papier wieder an seinen neuen Ehrenplatz auf dem Büchergestell, gleich neben einer Geburtstagskarte und vor dem Fachbuch „Mut zum Risiko“ von Dr. Ang Wang.
Wie ich so am Computer sass und mir auf dem Bildschirm der lustige Apple-Laubfrosch durch eine Lücke eines noch grüneren Blattes entgegenlachte, meinte ich plötzlich, eine Stimme zu hören.
„Du hast mich wohl vergessen“, rief es in meinem Kopf, und ich hielt inne.
„Ja, ja, erst bringst du mich in diese Welt, und dann werde ich einfach vergessen. Noch schlimmer: In ein Fach in deinem Hinterstübchen werde ich abgelegt, wie so eine Briefmarke im Album“, meckerte die Stimme weiter.
„Du weisst wohl nicht, wie beschäftigt ich bin“, grummelte ich. „Meinst du wirklich, ich könnte mich jederzeit an alle meine Gedanken erinnern? Und überhaupt: Wer bist du?“ entgegnete ich etwas ungehalten. Schliesslich war ich ja nicht mehr zwanzig, und da vergisst man bisweilen halt etwas.
„Ich bin es doch, der Willi – ja genau, der mit den Stacheln und der roten Nase“, hörte ich wieder die fröhliche Stimme mit lachendem Unterton.
Gott o Gott, wie konnte ich den bloss vergessen! Willi, der kleine Igel, der nicht turnen wollte in der Schule. Ein Freund der blitzgescheiten Eule Klara, die an die Friesenbergstrasse flog und bei Tante Els Quartier nahm. Willi, der vor so vielen Jahren zu uns gezogen war und fast allabendlich von seinen Abenteuern erzählte.
Meine Kinder kannten ihn sehr genau; er war meist bestens frisiert, hatte die Stacheln am Rücken angelegt und den Schnauzbart gezwirbelt. Sein helles Brustfell war immer peinlich genau gebürstet. Aber am auffälligsten waren ja seine Schuhe. Der Gockel, der kleine, trug tatsächlich geschnürte Lackschuhe – und die waren immer auf Hochglanz poliert. Ferner war seine Nase so rot wie eine Erdbeere, eine absolute Seltenheit bei Igeln.
Willi war wahrlich nicht zu vergleichen mit seinem bekannten Cousin Mecki, der überwiegend ein rot-weiss kariertes Hemd, dazu blaue Hosen und blaue Filzschuhe trug. Mecki hatte TV-Erfahrung, aber nur eine schwarze Nasenspitze. Nein, Willi war da schon eine ganz andere Persönlichkeit. Er bewegte sich mit einer ihm eigenen Eleganz, unterstrich diese mit den polierten Lackschuhen und dem gepflegten Stachelkleid. Seine Sprache war stets sehr gewählt, seine Manieren comme il faut, und seine kulinarischen Präferenzen wiesen ihn als Anhänger der Gourmandise aus – Spezialitäten konnte er einfach nicht widerstehen.
„Siehst du, mein Lieber, du kennst mich also noch. Schämst du dich nicht, dass du mich so schändlich vergessen konntest? Habe ich nicht deinen Kindern beigebracht, wie man sich bei Tische benimmt? Dass man mit allen Leuten höflich und freundlich sein soll, aber auch bestimmt?“
Jetzt redete Willi sich langsam in Fahrt. Es ist so ihre Eigenheit, dass sie sich sehr erregen können. Oft brennt mit ihnen das Temperament durch, manchmal zeigen sie sich fast jähzornig. Willi aber wusste sich stets zu beherrschen. Dennoch sah man es seiner runden Nasenspitze an – sie leuchtete wie eine reife Johannisbeere, wenn er sehr aufgeregt war.
„Du hast ja recht, Willi, und ich fühle mich schuldig“, versuchte ich eine Art Entschuldigung zu formulieren. „Ich habe tatsächlich vor lauter beruflichem Engagement, Verpflichtungen und Aufgaben, aber auch Ablenkungen völlig vergessen, dass es noch Freunde wie dich gibt.
Klara ist zu Tante Els geflogen, die Zwiebelmännchen sind ausgewandert, der Albertli in Appenzell wie das Anneli vom Tösstal sind erwachsen geworden, und auch Super Mario hat sich zurückgezogen. Mein Gott, die Zeit ging an uns im Flug vorüber“, schloss ich und sass da, die Apple-Maus in der rechten Hand, und klickte nervös darauf herum – ohne Sinn.
„Mein Lieber, du musst deswegen jetzt nicht in eine Depression verfallen. Es ist nun mal so. Immer wieder wollte ich die Schublade in deinem Hinterstübchen verlassen, und jedes Mal, wenn ich dabei war, wurde der Weg durch eine Barriere oder einen Golfschläger versperrt. Dann waren da auch diese riesigen Würste, das gebackene Brot und die vielen Kochrezepte, die du vor dem Hinterstübchen aufgetürmt hattest.
Oft schaffte ich es, kurz mein Gefängnis zu verlassen, um mich dann auf sehr unsicherem Grund zu bewegen. Ich lief wie auf Wolken, tastete mich durch die Nebel deiner Träume, traf auf alte Freunde – und während ich mich mit diesen über alte Zeiten unterhielt, traf mich meist ein ohrenbetäubendes Klingeln und grelles Licht. Du wurdest wach, und ich wurde wieder zurück in meine Schublade gezogen. Es war zum Verzweifeln, aber ich gab nie die Hoffnung auf, dass meine Zeit noch kommen würde.“
Der Frosch von Microsoft auf dem Bildschirm verblasste zunehmend, und ein lachender Willi schaute durch das grüne Blatt. Die Zeit war auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen. Die Schuhe waren, allerdings wie ehedem spiegelblank poliert, die Rückenstacheln ordentlich nach hinten gekämmt, aber auf der Brust und in seinem stets fröhlichen Gesicht glänzten schon einige Silberstreifen.
„Hey Willi, schön, dich wieder in alter Frische zu sehen. Du bist schlank wie eh und je, immer noch der alte Dandy. Ich habe mich auch bemüht, meinen jugendlichen Elan zu behalten. Leider sind jährlich ein paar Falten und Kilos dazugekommen, die ich nun beim Muskelschinder abtrainieren darf. Nun ja, im Kopf bin ich derselbe Mensch geblieben. Ich habe die Schranken, die Geschäfte, die Kämpfe um Gewinn und Verlust und alles, was mich sonst noch von der Fantasie fernhielt, eingekreist und schubladisiert.“
Eines Nachts spürte ich den zärtlichen, fast gehauchten Kuss von meiner alten Freundin „Lettera Fantasia“. Sie munterte mich auf, die nächtlichen Gedanken zu Papier zu bringen. Zugegeben, 03:00 Uhr morgens muss es ja nicht immer sein, dafür hat sie auch Verständnis – und seither besucht sie mich auch unter Tag“, wusste ich ihm zu erzählen.
„Das ist ja wunderbar, mein lieber Freund“, lächelte mir Willi vom Bildschirm entgegen, „dann werde ich mich mal neu unter Pages V4 einquartieren statt in der dunklen Schublade“, sagte er – und tat es.
Einen kurzen Moment später sah ich, wie sich das File Pages V4 zu bewegen begann, fast rhythmisch, und sich schlussendlich um einige MB vergrösserte. Willi hatte sich an der neuen Adresse breitgemacht und eingenistet. Das war typisch Willi – er beanspruchte schon immer viel Platz.
„Willi, Willi, so hör doch mal, wir wollten doch noch die Frage wegen des Turnens miteinander klären“, tippte ich in Windeseile auf der Tastatur. Das File bewegte sich noch immer. Vermutlich war er jetzt beschäftigt, seiner Unterkunft mehr Struktur zu geben, dachte ich mir.
Ich wollte eigentlich gerade meinen Arbeitsplatz verlassen, da erschien erst seine rote Nase am Bildschirm. Dann schaute er keck durch das grüne Blatt und meinte: „Weisst du, das werde ich dir ein anderes Mal erzählen.“
Und zack – weg war er.
Geräusche aus der Stube holten mich zurück in die Gegenwart. Es war auch Zeit für das sonntägliche TV-Fussballspiel, die Grasshoppers gegen die Luzerner. Vielleicht könnten die auch etwas mehr Fantasie brauchen – zumindest würde es helfen, Tore zu schiessen.
Nachtrag: Das Spiel endete leider 2:2.










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