Werners Metamorphose oder wie er sich selbst befreite
- thomasvonriedt
- 16. Dez.
- 7 Min. Lesezeit

Werner
Werner war von jeher ein strebsamer junger Mann – eine Eigenschaft, die ihn rasch voranbrachte. Schon in jungen Jahren wurde er von der Versicherungsgesellschaft Fortuna zum Leiter des umfangreichen Archivs ernannt. Er galt als verschwiegen, fleissig und behandelte seine drei Teilzeitangestellten mit Respekt. Kurz gesagt: Seine Vorgesetzten hatten nie Grund zur Klage. Das Archiv war makellos geführt, und auf Anfrage erhielt man selbst Unterlagen aus längst vergangenen Geschäftsperioden umgehend.
Zeitgemäss denkende Kollegen beschrieben Werner als zurückhaltend. Seine bevorzugten Farben waren stets Mischungen aus Grau, Braun und Schwarz, kombiniert mit schneeweissen Hemden, die seine Mutter mit liebevoller Sorgfalt stärkte und bügelte. Der Kragen wurde durch eine grau-schwarz gesprenkelte Krawatte im einfachen Windsor-Knoten abgeschlossen. Sein aschblondes Haar trug er akkurat von links nach rechts gescheitelt, das Gesicht stets glattrasiert – und zum Entsetzen der Sekretärinnen benutzte er noch immer „Tabac Eau de Cologne“. So gesehen passte er perfekt in seine Arbeitsumgebung, in der Ordnung oberstes Gebot war und die von vielen, als etwas verstaubt galt.
Der Archivleiter – Werner Schmetten – war der Sohn von Hans und Hildegard Schmetten aus Oldendorf an der Luhe, unweit von Lüneburg. Die Region im Nordosten Niedersachsens ist bekannt für ihre endlosen Heideflächen und die eigenwilligen Heidschnucken. Die Eltern waren schon früh nach Lauenburg an der Elbe gezogen, wo der Vater als Meister in einem Industriebetrieb arbeitete und die Mutter halbtags im Tante-Emma-Laden aushalf.
Werner wuchs behütet auf, fiel nie negativ auf, trieb keinen Unfug und brachte stets gute Noten nach Hause. Freunde hatte er kaum – wohl wegen seiner ungewöhnlichen Hobbys. Während die anderen Jungen Fussball spielten und vom grossen HSV träumten, widmete sich Werner der Natur. Er sammelte Kräuter und Gräser, die er mit Hilfe des Kleinen Botanikers, eines dicken Handbuchs für Nachwuchsforscher, sorgfältig klassifizierte.
Sein Zimmer war angefüllt mit Fundstücken unter Glas und einer ganzen Reihe schwarzer Bücher voller gepresster Pflanzen. Jedes Exemplar war nummeriert, Fundort und Datum vermerkt, oft ergänzt durch ein Zweitstück, um die Pflanze von allen Seiten zu zeigen. Auf seinem Schreibtisch stand ein gebrauchtes Mikroskop, das ihm Lehrer Schulze geschenkt hatte. Werner war beliebt – hilfsbereit, ruhig, verlässlich. Wenn jemand Nachhilfe brauchte, half er gerne. Natürlich wurde hinter seinem Rücken getuschelt, doch das verlief sich meist im Sand.
Nach dem Schulabschluss mit guten Noten bewarb er sich – auf Empfehlung seines Wirtschaftslehrers Marbold – bei der Versicherungsgesellschaft Fortuna. Marbold war überzeugt, dass Werner perfekt zu diesem traditionsbewussten Haus passen würde. Menschen mit Sinn für Akribie wusste man dort zu schätzen, Fortschritt und übertriebene Eigeninitiative galten hingegen als verdächtig.
Werners ausgeprägter Ordnungssinn beeindruckte den Prokuristen Herzow schon beim Vorstellungsgespräch.
„So jemanden suchen wir schon lange als Nachfolger für den Leiter unseres Archivs“, sagte dieser. „Ordnung, Organisation und Diskretion sind hier oberstes Gebot. Wir bewahren die Daten unserer Kunden, kennen ihre Geheimnisse und Wünsche – und sorgen dafür, dass nichts nach aussen dringt.“
Werner war beeindruckt. Nach einer kurzen Einarbeitung sollte er einen eigenen Arbeitsplatz erhalten und die Verantwortung für die Akten von M bis S übernehmen – jenes gefürchtete „S“, das vielen Angestellten Kopfzerbrechen bereitete.
Die Jahre vergingen. Abteilungschef Kunze stand kurz vor der Pensionierung und freute sich auf seine grosse Leidenschaft: Schiffe in Flaschen zu bauen. Seine Nachfolgefrage hatte er längst mit dem Personalchef geklärt – Werner würde ab dem 1. Juli die Leitung übernehmen.
Ausflug in die Heide
Werner lebte noch immer bei seinen Eltern. Platz war genug, sein Kinderzimmer hatte er den Jahren angepasst, und für seine naturkundlichen Hobbys überliess ihm der Vater den Schuppen hinter dem Haus. Hans und Hildegard waren inzwischen pensioniert, aktiv im Turnverein und stolz auf ihren grossen Gemüsegarten mit Kaninchenzucht. Gelegentlich unternahmen sie kleine Ausfahrten mit dem alten Dnjepr-Motorrad samt Seitenwagen.
Vor etwas mehr als einem Jahr hatte sich Werner den Schmetterlingen zugewandt. Die Familie der Lepidoptera umfasst rund 160.000 Arten, und jährlich werden neue entdeckt. „Allein in Deutschland gibt es 3.700 Arten“, dozierte er seinen Eltern. „Und ohne Insekten geht nichts – wer würde sonst all die Gräser und Blumen bestäuben?“
So lag es nahe, dass er seine Sammeltätigkeit auf heimische Schmetterlinge ausdehnte. Mit der Botanisierbüchse und dem Fangnetz verbrachte er seine Freizeit in der Natur, fing Falter sammelte Raupen und Kokons. Zu Hause betäubte er die Tiere mit Äther, präparierte sie und steckte sie auf Nadeln in Kästen aus Teakholz mit Glasdeckel. Die Sammlung war beachtlich, und der Lokalanzeiger widmete ihm sogar einen Artikel. Die Eltern platzten fast vor Stolz, als sie im Kaufhaus Müller darauf angesprochen wurden.
Es war ein glühend heisser Augusttag. Ganz Niedersachsen ächzte unter tropischer Hitze – wer konnte, suchte Abkühlung an Flüssen oder Seen. Nicht so Werner. In tropentauglicher Kleidung – kurze Hosen, leichte Wanderschuhe, ein beigefarbenes Leinenhemd und Strohhut – machte er sich auf zu einer Schmetterlingssafari in die Lüneburger Heide.
Sein Ziel war der sagenumwobene Totengrund, rund 35 Kilometer von Lüneburg entfernt, berühmt für seine irdische Schönheit. Über den Ursprung des Namens kursieren verschiedene Theorien: Manche sprechen von alten Leichenzügen, die hier entlangführten, andere von einem Meteoriten oder einem schmelzenden Eisblock. Wahrscheinlich aber war der Boden einfach zu karg, um Menschen zu ernähren – ein Ort des Todes für die einen, des Lebens für seltene Pflanzen und Schmetterlinge für die anderen.
Werner hatte in Fachartikeln vom Heidespanner gelesen – einem Falter mit kräftigem Körper und gestreiftem Hinterleib in den Farben der Heideblüte. Ihm wurden so starke Mundwerkzeuge nachgesagt, dass er Bienenwaben durchbohren oder Schafe stechen konnte. Über seine Lebensweise wusste man wenig. Werner hoffte, ein paar Exemplare oder Raupen zu finden, um sie zu Hause zu beobachten. Frühmorgens um sieben Uhr fuhr er los, plante eine kurze Kaffeepause in Lüneburg und wollte nach drei Stunden sein Ziel erreichen.
Durch die Heide
Gegen neun Uhr traf er am Parkplatz Döhle ein, stellte den Roller ordentlich ab und marschierte fröhlich pfeifend los. Das Fangnetz über der Schulter, die Botanisierbüchse umgehängt, den Rucksack auf dem Rücken.
Der Tag war ein Traum – Grillen zirpten, Heidschnucken grasten frei, kein Mensch weit und breit. Die Heide stand in voller Blüte, ein violettfarbenes Meer aus Erika, das im Sonnenschein schimmerte. Selbst seltene Tiere wie Heidelibellen, Eisvögel oder Schwarzstörche konnten hier gesichtet werden. Werner war bester Laune. Vielleicht, dachte er, würde dieser Tag seine wissenschaftliche Entdeckung bringen. Dann schmunzelte er. „Ach was, ein Schmetterling sammelnder Archivar wird wohl kaum für den Nobelpreis vorgeschlagen.“
Er schlug den Weg zum Wilseder Berg ein, um dort zu rasten. Als er den Anstieg geschafft hatte, blieb er beeindruckt stehen. „Was für eine Aussicht!“ rief er aus. „Schade, dass ich kein Zelt dabeihabe – hier eins mit der Natur zu werden, ist tausendmal schöner, als eine Million Euro zu gewinnen.“
Nach einer Pause machte er sich auf den Weg ins Tal – dem Totengrund entgegen.
Im Totengrund
Ein Schild am Wanderpfad Lila Krönung wies ihn darauf hin, dass er nun im Totengrund stand. Er verliess den Weg und ging quer durch die Heide, in Richtung eines kleinen Gewässers – dort, so hoffte er, würde er fündig werden.
Er begann konzentriert zu suchen, schwenkte gelegentlich das Netz, prüfte seine Beute und liess sie wieder frei. Stunden vergingen, bis er endlich ein tiefes, kräftiges Summen hörte. Ein grosser Falter setzte sich kaum zwei Meter entfernt auf eine Pfütze und trank.
Ein Heidespanner. Endlich. Ein Weibchen, voller Eier – für seine Zuchtpläne ideal. Mit ruhiger Hand spannte Werner das Netz, schlich näher und liess es blitzschnell über das Tier fallen. „Habe ich dich!“ rief er triumphierend. Das Exemplar war prächtig, grösser als erwartet – fast sechs Zentimeter Körperlänge, lila-schwarz gestreift und fein behaart.
Als er es in die Hand nahm, spürte er ein leichtes Kribbeln – und einen Stich. „Du hast mich wohl erwischt“, murmelte er. „Ich verstehe deine Angst.“
Vorsichtig setzte er den Falter in seine Büchse und betäubte ihn mit einem Tropfen Äther.
Metamorphose
Tage vergingen. Der Heidespanner lebte, Werner pflegte ihn liebevoll, brachte frische Blüten und Wasser, beobachtete jede Bewegung. An seiner linken Hand bildete sich eine kleine Rötung – wohl von dem Stich. Er schenkte ihr keine Beachtung.
Mit der Zeit ass und trank er auffällig viel, ohne zuzunehmen. Seine Mutter wunderte sich. „Du isst wie ein Bauarbeiter, sitzt aber den ganzen Tag im Büro. Und kein Gramm mehr auf den Rippen!“ „Ach, lass ihn doch“, meinte Vater Hans. „Ich war in dem Alter genauso.“
Doch Werner spürte eine innere Unruhe, Hunger, Durst – und Träume. Immer wieder flog er darin über die Heide, mit riesigen, gestreiften Flügeln. Morgens wachte er erschöpft auf.
Sein Schmetterling schien ihn zu erkennen, ja sogar zu begrüssen. Das Summen klang fast wie Worte. Werner. Er begann, die Laute nachzuahmen, rollte die Zunge, formte mit ihr einen Rüssel – und hatte das Gefühl, verstanden zu werden. Zwischen ihnen entstand eine seltsame Verbindung.
Nachts hörten seine Eltern das Summen hinter der verschlossenen Tür. „Alles in Ordnung?“ fragte Hildegard. „Ja, ja“, antwortete Werner. „Ich übe nur mit dem Spanner.“
In einer dieser Nächte träumte er wieder – diesmal deutlicher. Er flog über die Heide, hörte seinen Namen rufen. Am nächsten Morgen spannte seine Haut. Sie wurde trocken, hart. Lila Streifen zogen sich über seinen Rücken und seine Hände.
Als er nicht zum Frühstück erschien, bat er seine Mutter, das Tablett vor der Tür abzustellen. „Ich bleibe heute daheim.“ Besorgt bemerkte sie später: „Hans, der Werner sieht schlimm aus. Die Haut – lila, fast behaart! Das ist doch kein Ekzem mehr.“
Am Abend trat Hans ans Zimmer. Das Summen im Haus war ohrenbetäubend. Vorsichtig öffnete er die Tür – und erstarrte.
Das Zimmer war voller Schmetterlinge. Ein riesiger Falter sass auf dem Käfig und schien mit dem Weibchen zu kommunizieren. Auf dem Bett lag nur eine leere, lilagestreifte Hülle – menschenförmig, aber nicht menschlich.
„Werner!“ schrie Hildegard entsetzt, bevor sie bewusstlos zusammenbrach. Hans kniete neben ihr, unfähig zu begreifen. Da wandte sich der grosse Falter auf dem Käfig zu ihm um – mit braunen, menschlichen Augen.
„Lieber Vater“, summte es, „öffne bitte das Fenster und den Käfig. Ich habe meine Bestimmung und mein Weibchen gefunden. Lass uns fliegen – hinaus in die Heide.“
Mit letzter Kraft tat Hans, wie ihm geheissen. Der Schwarm erhob sich, das Weibchen folgte – und beide verschwanden in der warmen Sommerluft.
Epilog
Als die Nachbarn Hans und Hildegard Stunden später fanden, lagen sie bewusstlos am Boden. Beide litten an einem nervösen Fieber, ausgelöst durch den Schock. Wochenlang murmelte Hans im Delirium von einem Heidespanner mit menschlichen Augen.
Die Polizei fand keine Spuren von Gewalt. Der Käfig stand offen, hier und dort lagen zerrissene Flügelreste. Auf dem Bett eine lila gestreifte, leere Hülle – entfernt menschenähnlich, aber nicht menschlich. Der Fall wurde still geschlossen.
Seit jenem Sommer verzeichneten Lepidopterologen eine auffallend starke Ausbreitung des Heidespanners in der Lüneburger Heide.










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