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Mein Freund Sink - der Abfluss

  • thomasvonriedt
  • vor 7 Tagen
  • 6 Min. Lesezeit
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Wie es begann

 

Es war wieder eines dieser Wochenenden – sonnig und warm genug für einen Spaziergang, doch mir fehlte die Motivation, meine Gemütlichkeit zu überwinden. Vielleicht lag es daran, dass ich nach einer Woche intensiver, geradliniger Arbeit nach grenzenlosem Herumträumen lechzte.

 

„Na ja, was soll’s“, dachte ich, bequem auf dem Sofa liegend. „Eigentlich könnte ich mich jetzt den Vorbereitungen fürs Abendessen widmen. Wer weiss – vielleicht fängt es ja in wenigen Minuten an zu regnen. Laut Wettervorhersage soll es ohnehin am frühen Abend passieren. Und wer möchte schon völlig durchnässt nach Hause kommen? Warum muss immer alles so akribisch geplant sein? Es wäre doch lustig, so wie damals auf dem Heimweg vom Kindergarten, als ich von Pfütze zu Pfütze sprang. Plitsch, platsch, plitsch, platsch. Dann die Treppe hoch, leise an der Haustür des immer auf der Lauer liegenden Hauswarts vorbei, Schmutz und Wasserpfützen im Treppenhaus hinterlassend. Mit strahlendem Gesicht in die Wohnung treten und von meiner Mutter hören: ‚Wie siehst du denn wieder aus?‘ Ich höre es noch wie gestern. Kurz darauf lag ich in der Wanne, umgeben von Schaum und Spielzeugbooten. War die Welt nicht wunderschön?“

 

Ich lächelte in mich hinein.

 

„Ein ausgedehntes Schaumbad, eine Zigarre und ein Brandy – die Augen schliessen, das warme Wasser über den Körper fliessen lassen, den Gedanken freien Lauf geben, dem sanften Blob, blob der zerplatzenden Schaumblasen lauschen. Herrlich! Aber zurück zur Realität, mein Lieber. Das Abendessen wartet. Und du weisst: Essen nach 20 Uhr ist ungesund – es liegt schwer im Magen und verwandelt Träume in Albträume.“

 

Da war es wieder – dieses tiefe Gurgeln, fast wie ein Schlürfen, kurz und schwer zu orten. In den letzten Tagen hatte ich dieses merkwürdige Geräusch öfter gehört, meist spätabends, wenn ich halb schlafend auf der Couch fernsah. Vielleicht spielte mir meine Fantasie einen Streich. Meine Grossmutter hatte mir einmal vorgeworfen, dass ich so viele verrückte Geschichten lese, dass sie eines Tages wahr würden. „Der Junge lebt ja in einer seltsamen Welt – da kann nichts Vernünftiges dabei herauskommen“, hatte sie meine Mutter getadelt.

 

Und wieder war es da. Diesmal war ich mir sicher, dass es aus der Küche kam. „Glaubst du an Gespenster?“, fragte ich mich selbst und antwortete sogleich: „Das ist bestimmt nur das Abwasserrohr, das immer gurgelt, wenn Hoover, der Nachbar im zweiten Stock, Essensreste mit viel Wasser hinunterspült. Er sollte doch wissen, dass das die Rattenpopulation ins Unermessliche wachsen lässt. In manchen Städten sollen sie die Menschen bereits im Verhältnis drei zu eins übertreffen.“ Ich erinnerte mich an Geschichten von Kindern, die im Schlaf angeknabbert wurden – ganz zu schweigen von den betrunkenen Obdachlosen in New York. Möglicherweise spürten sie in ihrem Delirium kaum etwas. Der Gedanke war grauenhaft, und allein bei seiner Vorstellung bekam ich Gänsehaut.

 

 

Annäherung

 

Nun war meine Neugier endgültig geweckt. Spielte mir meine Fantasie einen Streich? Oder war es nur mein Magen, der auf die unreifen Trauben mit unwilligem Knurren reagierte? Jetzt war es jedenfalls an der Zeit, nachzusehen.

 

Mit der Fernbedienung schaltete ich die banale Fernsehshow ab. Da war es wieder – eindeutig aus der Küche. Ich konnte mir nur den Abfluss oder die Wasserleitung zum Kühlschrank als Ursache vorstellen. Der Kühlschrank meldete sich ohnehin gelegentlich mit seltsamen Geräuschen: zuerst ein leises Rauschen, dann ein kurzes Surren, und nach wenigen Sekunden kehrte wieder Ruhe ein. Ein paar Minuten später folgte oft ein dumpfes Geräusch, als würde jemand eine Schubkarre voller Kieselsteine ausschütten. Mehr als einmal war ich davon mitten in der Nacht aufgewacht – meist gegen 1 Uhr früh. Man sagt ja, die Stunde nach Mitternacht sei die eigentliche Gespensterzeit. Aber Gespenster sind bekanntlich nicht immer pünktlich.

 

Bisher war meine Suche jedoch immer ergebnislos geblieben. Die Küchentür war verschlossen, und nichts war zu sehen oder zu hören. Offen gesagt, beruhigte mich das, und meistens schlief ich danach rasch wieder ein.

 

Jetzt hörte ich es erneut. Das Gurgeln war deutlich lauter geworden – fast wie das Knurren eines hungrigen Wüstenlöwen. Hunde machen ähnliche Geräusche, und dann sollte man besser Abstand halten.

 

Mir wurde unruhig zumute. Obwohl die Klimaanlage lief und ich kühle Temperaturen bevorzugte, spürte ich plötzlich Hitzewallungen. „Lässt du dich wirklich von einem Geräusch erschrecken?“, ermahnte ich mich. „Da ist sicher nichts. Es kann nichts sein.“ – „Warum sind dann deine Hände feucht?“, entgegnete eine innere Stimme.

 

Ich schaltete das Licht ein. Vier Strahler warfen warmes Licht in die Küche. „Quietschsauber“, wie die Werbung behaupten würde. Tatsächlich hatte ich sie erst am Mittag gründlich aufgeräumt. Die Arbeitsflächen waren trocken, die beiden Spülbecken blank.

 

Der Chromstahl glänzte ohne einen Tropfen Wasser oder Staub. Alle Geräte standen ordentlich in Reih und Glied, vom Strom getrennt, um Energie zu sparen. Selbst der Kühlschrank schwieg. Die Messer ruhten friedlich im Holzblock, die Küchenuhr zeigte 17:54 Uhr.

 

Gerade als ich den Vorratsschrank öffnen wollte, ertönte das Grollen erneut – diesmal lauter und beinahe bedrohlich. Nun war klar: Es musste der Abfluss sein.

 

Vorsichtig näherte ich mich dem linken Spülbecken – meine Küche hatte zwei. Das rechte diente dem Abwasch, das linke, wie mir die Dame im Vermieterbüro erklärt hatte, der Zubereitung von Gemüse. Eine clevere Einrichtung mit eingebautem Schredder für die Reste.

 

Irgendwie kam mir das alles seltsam vor. Ich erinnerte mich an einen französischen Film, in dem ein elektrisches Küchenmesser plötzlich ein Eigenleben entwickelte und einer Hausfrau die Hand abtrennte. „Unsinn“, beruhigte ich mich. Entschlossen beugte ich mich über das Spülbecken, schob den Wasserhahn zur Seite und starrte in den Abfluss.

 

Er wirkte wie das Auge eines Zyklopen – dunkel, lauernd. Oder eher wie der Schlund eines Sandwurms auf dem Planeten der Dünen. Hatte der nicht mehrere Zahnreihen im Rachen?

 

 

Kampf

 

Wie das Röcheln einer nach Luft ringenden Lunge erhob sich aus der Tiefe das grauenvollste Gurgeln, das ich je gehört hatte. Obwohl nichts Sichtbares zu erkennen war, schien sich in der Dunkelheit etwas zu bewegen. Pulsierte die Rohrwand? Waren das Schluckbewegungen?

 

Schweiss lief mir über die Stirn, die Schläfen hinunter, über die Nase. Einige Tropfen fielen direkt in den Abfluss.

 

In diesem Moment verstummte das Grollen kurz – nur um mit doppelter Wucht zurückzukehren. Hatte das Wasser den Spuk nur gereizt? Hungerte der Abfluss?

 

Ich drehte entschlossen den Wasserhahn auf, überzeugt, dass das Wasser dem Spektakel ein Ende bereiten würde. Der Abfluss protestierte mit einem lauten Schlürfen. „Ha, jetzt habe ich dich!“, dachte ich. „Nicht die Maschine regiert den Menschen, sondern umgekehrt.“

Der Wasserspiegel stieg Zentimeter um Zentimeter. Ich beobachtete, wie der Abfluss sich abmühte, die Menge zu bewältigen. Luftblasen stiegen auf, begleitet von kehligem Keuchen. Dann ertönte ein befreiendes Blubb, und das Wasser lief spiralförmig ab.

 

Doch die Stille danach beunruhigte mich. War es die Ruhe vor dem Sturm? Ich atmete tief durch, die Muskeln entspannten sich langsam. Aber das leichte Vibrieren des Beckens zeigte: Der Kampf war noch nicht vorbei.

 

Die Vibrationen nahmen zu. Der Schredder begann zu surren, lauter, aggressiver – wie ein brüllendes Ungeheuer, das alles verschlingt.

 

Ich klammerte mich an den Beckenrand. Der Gedanke, hineinzufassen, war unerträglich. Bilder tauchten in mir auf – von einem Wesen mit scharfen Zähnen, das in der Röhre lauerte und mich mit telepathischen Befehlen lenkte. Angst, Vernunft und Neugier rangen miteinander.

 

Meine Gedanken rasten. Vielleicht war es Hunger. Ja, Hunger – das musste es sein! Der Abfluss verlangte nach Nahrung. Kein Mieter hatte ihn je so vernachlässigt wie ich.

 

Ich erinnerte mich an die Male, als ich Kartoffelschalen und Rotkohlreste achtlos in den Abfallsack geworfen hatte, nur Zentimeter von seinen blanken Lippen entfernt. Meine antibakterielle Reinigung, das heisse Wasser, der Bleichgeruch – all das musste ihm Schmerzen bereitet haben.

 

Jetzt verstand ich. Mein Abfluss, mein stiller Mitbewohner, hatte gelitten. Ich hatte ihn missachtet. Und doch war er Teil des häuslichen Ökosystems – ein bescheidener, aber treuer Diener.

 

 

Freunde

 

Da war es wieder, das leise, klagende Blubbern. Doch diesmal klang es nicht bedrohlich. Es war ein Laut der Versöhnung.

 

Wie konnte ich nur so herzlos sein? Vielleicht war es meine Arroganz – dieses typisch schweizerische Pflichtbewusstsein, alles „richtig“ machen zu wollen. Ich hatte den Bezug zum Alltäglichen verloren.

 

Der heroische Kampf meines Abflusses, den ich fortan „Sink“ nannte, hatte mir die Augen geöffnet.

 

Ich wischte mir den Schweiss von der Stirn. Heute Abend würde ich meinen neuen Freund am Essen teilhaben lassen.

 

Ich öffnete den Kühlschrank, nahm einen Sack Iowa-Gold-Kartoffeln heraus – dickhäutig, fast so gross wie Kinderbälle. Der Eisschrank rumpelte zustimmend, während das Wasser zischend in die Eismaschine schoss. „Frigidaire“ wusste offenbar, was vor sich ging.

 

Ich schälte die Kartoffeln grosszügig, liess die Schalen sanft in den Abfluss gleiten, fast zärtlich. Ein zufriedenes Schnurren antwortete mir. Dann fügte ich ein paar Salatblätter, Rübenschnitzel, Brotkrumen und sogar etwas Angebranntes aus der Pfanne hinzu. Schliesslich spülte ich vorsichtig ein Glas mit Mayonnaise aus – ohne aggressive Reiniger.

 

Mein neuer Freund blubberte glücklich, als ich das Wasser aufdrehte. Danach wischte ich das Becken sanft sauber. Ruhe und Frieden breiteten sich in meiner Küche aus.

 

Alle meine Geräte – Sink, Frigidaire, Proctor-Silex, die Kaffeemaschine, Oster, der Mixer und die anderen – strahlten Zufriedenheit aus. Selbst das bislang feindselig gelb leuchtende Auge des Reiskochers färbte sich in ein hoffnungsvolles Grün.

 

Ich war akzeptiert. Und ich hatte neue Freunde gefunden, die mir bereitwillig dienten. Noch nie zuvor hatte die Zubereitung eines Abendessens so reibungslos funktioniert. Alles liess sich leicht reinigen, nichts fiel zu Boden, das Geschirrtuch faltete sich fast von selbst. Das Essen schmeckte besser als je zuvor.

 

 

Die Moral

 

Eigentlich gibt es keine – ausser vielleicht die Erkenntnis, dass die Welt um uns herum lebendig ist. Man muss nur hinsehen, hinhören und aufhören, alles nach Schema F zu erledigen.

 

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