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Der Pastaga - Wahr oder gut erfunden?

  • thomasvonriedt
  • 16. Dez.
  • 4 Min. Lesezeit
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Pastis in den Baumettes


Es muss eine traurige Erfahrung sein, die Welt nur noch durch vergitterte Fenster zu sehen – wegen eines Fehltritts, eines Moments der Torheit. Und wenn dieses Schicksal in Frankreich geschieht, ist es besonders bitter.

 

Französische Gefängnisse gelten als streng, überfüllt, gnadenlos in ihrer Routine.

Marseilles „Les Baumettes“ ist dabei ein Name, der selbst bei alten Ganoven ein Schaudern auslöst – ein Ort, an dem Hoffnung nur in Tropfenform existiert.


 

Die Baumettes - die dunklen Jahre


Der Gefängniskomplex wurde 1938 fertiggestellt, doch erst 1946 offiziell eröffnet.

„Dazwischen lag der Krieg – die dunkle Zeit“, erklärt Pierre Raffin, Direktor der Gefängnisverwaltung für Südostfrankreich. Damals lag das Viertel noch ausserhalb der Stadt, in der kargen Landschaft der Calanques, wo der Mistral den Staub über die Hügel jagte. Ein Ort der Abgeschobenen, der Vergessenen.

 

„Hier wurden Indochinesen einquartiert, die zur französischen Kriegsanstrengung beitragen sollten, Juden, die aus den Lagern zurückkehrten, Sinti und Roma sowie Harkis (algerische Moslems, Gehilfen der französischen Armee). Die Gebäude selbst dienten zeitweise als Stallungen für Militärpferde.“

 

Im Januar 1942, als das alte Hafenviertel von Marseille – der Vieux-Port – von der Polizei und der deutschen Armee geräumt wurde, trieb man hunderte Bewohner zusammen. Manche fanden sich für kurze Zeit in den kalten Zellen der Baumettes wieder.

„Wir wissen nicht, wie viele es waren“, sagt Raffin, „denn es gibt keine Register aus jener Zeit.“

 

Nach der Befreiung Frankreichs wurden die Zellen mit 6.500 deutschen Soldaten belegt. Bald darauf folgten die Kollaborateure, dann die Mafia. Es war die Zeit der Guérini-Brüder, Antoine und Barthélémy – „Mémé“, wie ihn die Unterwelt nannte.

 

In den 1960er Jahren schrieb die „French Connection“ Geschichte – das mächtige Heroinnetzwerk, das Marseille und New York verband. Ihre Drahtzieher, von Nick Venturini bis zu Gaétan Zampa, sassen allesamt in den Baumettes. Die Mauern kannten ihre Stimmen, ihre Drohungen, ihre Gebete.

 

Und wenn ein Wärter abends die Runde machte, schwor man, den Geruch von Pastis zu riechen – den Duft der Freiheit, die sie nicht mehr hatten. „Lieber tot als eingesperrt in Marseille“, sagt der Volksmund. Und wer die Baumettes kennt, versteht, dass darin kein Pathos steckt.


 

Wovon träumte der Gefangene?

 

Von der Freiheit natürlich, von Sonne und Meer, von Frauen – und vom ersten Glas Pastis am Nachmittag. Denn für einen echten Südfranzosen ist das Leben ohne den Anisduft seines „Pastaga“ kaum vorstellbar.

 

So auch für Jules, einen kleinen Arbeiter aus den Vororten von Marseille, der wegen eines gestohlenen Motorrollers, eines Streits, einer Ohrfeige zu viel – ein paar Monate absitzen musste.

 

Tag für Tag dachte er an Juliette, seine Frau, an den Wind in Cassis, an den salzigen Geschmack der Freiheit. Und an den Pastis, der ihm im Gefängnis so sehr fehlte, dass er ihn fast auf der Zunge schmeckte.

 

Doch wie sollte man in den Baumettes an einen Aperitif kommen? Bestechung? – Zu teuer. Schmuggel? – Zu riskant.

 

Eines Nachts kam ihm eine Idee, die so verrückt war, dass sie nur in Marseille geboren werden konnte.

 

Beim nächsten Besuch flüsterte er Juliette seinen Plan ins Ohr.

 

Sie lächelte, strich ihm durchs Haar und versprach: „Vertrau mir, mon Amour.“

Dann fuhr sie heim – in ihr Häuschen am Stadtrand, wo der Garten nach Thymian roch und zwei Kaninchen im Schatten dösten.



Die Lösung

 

Im alten Kleiderschrank fand sie noch Windeln ihrer inzwischen erwachsenen Kinder – sauber, weich und saugfähig.

 

Sie füllte einen Zuber mit Ricard, Jules’ Lieblings Pastis, und tauchte die Windeln darin ein, bis sie sich vollgesogen hatten. Dann hängte sie sie zum Trocknen auf – gleich neben der Unterwäsche.

 

Die Nachbarn wunderten sich über den süsslichen Duft von Anis, der über den Garten zog. Juliette war bekannt für ihre Kräutertees und ihren Hang zu gesunder Hausmittelkunst – so niemand fragte nach.

Als die Windeln trocken waren, legte sie sie fein säuberlich zusammen, verpackte sie in eine Schachtel und schickte sie an die Gefängnisadresse von Jules.

 

Im Gefängnis folgte Tag auf Tag, eintönig wie das Ticken einer Uhr:

 

Aufstehen,

dünner Tee,

Arbeit in der Wäscherei,

Streit mit algerischen Mithäftlingen,

Schweigen.

 

Eines Morgens drehte sich der Schlüssel im Schloss, und Bernard, der einzige menschliche Wärter im Trakt, trat ein. Er war ein Mann mit freundlichem Blick, einer, der noch an die Besserung glaubte.

 

„Jules, du hast Post“, sagte er und hielt ihm eine Windel entgegen. „Wir mussten das Paket natürlich öffnen.“

 

Jules schnupperte und roch den feinen Anis Duft.

„Meine Frau benutzt Sternanis im Waschmittel“, erklärte er mit unschuldigem Lächeln.

Bernard grinste. „Die Frauen – immer ihre Geheimrezepte.“

 

Am nächsten Tag beobachtete er, wie Jules ein nasses Tuch auswrang und die Tropfen in einem Glas auffing.

 

„Was machst du da?“

 

„Ein alter okzitanischer Trick gegen die Krätze“, sagte Jules und tat harmlos.

 

Später, als er wieder allein war, hob er das Glas und trank.

Der Geschmack von Ricard, die Wärme im Hals – für einen Augenblick war er frei.

Er sah das Meer vor sich, hörte die Möwen, und in seinem Inneren lachte Juliette.

 

Er nahm sich vor, nie wieder so leichtfertig zu sein und sich wegen banaler Vergehen wieder einbuchten zu lassen.

 

Bernard hatte recht: Das Leben ist zu kurz, um es hinter Gittern zu vergeuden.

Mit den restlichen Windeln würde er sich noch drei Gläser Pastis gönnen – eins pro Woche, bis zur Entlassung.


Wurde diese Methode tatsächlich angewandt – oder hat Jules nur davon geträumt?

Vielleicht ist es einer jener Mythen, die zwischen den Mauern der Baumettes entstehen – Geschichten, die nach Anis duften und nach Freiheit schmecken.

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