Sumpfmonsters Schicksal
- thomasvonriedt
- 25. Nov.
- 11 Min. Lesezeit

Heimwärts
Es musste schon deutlich nach 23 Uhr sein, als ich aus dem „Höri-Tröpfli“ torkelte, angenehm benebelt von den Drinks und der Wärme des Lokals. Draussen hing der Nebel so dicht über den Strassen, dass ich im ersten Moment nicht wusste, ob meine Sicht vom Alkohol oder vom Wetter getrübt war. Wahrscheinlich von beidem. Ich zog den Kragen hoch und machte mich langsam auf den Heimweg Richtung Dielsdorf.
Am Bankautomaten der Raiffeisenkasse – dort, wo früher der Bäckerladen gewesen war – hielt ich kurz an, um meinen Bargeldvorrat zu ergänzen. Mühsam fummelte ich die EC-Karte aus dem Etui und schob sie in den Schlitz. Der Automat blieb dunkel. Ausser Betrieb. Natürlich, dachte ich, an so einem Abend kann es ja nicht anders sein.
„Hihihihi!“ Drei Zwerge, eine Hexe, Frankenstein und ein Werwolf – Miniaturausgaben mit übervollen Säcken – sprangen kichernd an mir vorbei zum nächsten Haus und skandierten „Süsses oder Saures!“ Erst jetzt registrierte ich die Schattengestalten überall: Kinder und Jugendliche in Kostümen, die wie ruhelose Nachtvögel von Haustür zu Haustür huschten. Halloween. Also gut, sagte ich mir, Augen offenhalten. Wer weiss, was heute sonst noch an lichtscheuen Gestalten unterwegs ist.
Schwankend folgte ich der Strasse zur Glattbrücke bis zur Stelle, wo sie sich teilt: links nach Niederglatt, rechts in Richtung des grossen Neeracher Rieds. Ein kurzer Blick in den Nebel nach rechts – dort, wo man tagsüber die dunkle Fläche des Moors ahnte – genügte, um mich frösteln zu lassen. Ich nahm, ohne nachzudenken, den Weg entlang der Glatt.
Seltsame Menschen
Als Bülach noch Pulacha und Dielsdorf Theodolfsdorf hiessen, im 6. und frühen 7. Jahrhundert, während die Alemannen das Land mühsam urbar machten, kamen manchmal Männer ins Tal, die nicht von hier waren. Von der Rheinfurt bei Eglisau herauf zogen sie, seltsam gekleidet, mit langen, knorrigen Stäben.
Sie trugen grobe braune Kutten, um die Hüfte einen Kälberstrick, daran einen Lederbeutel. Ihre Habe war spärlich: Holzlöffel, Becher, Teller, trockenes Brot, Käse, gedörrte Früchte — und ein Messer. Mehr brauchte man nicht, um ein gottesfürchtiges Leben zu führen. In Ledersandalen, singend und den Herrn lobend, marschierten sie über die Felder und winkten den Bauern zu, die Felsbrocken aus dem Boden hebelten, um mehr Ackerfläche zu gewinnen.
„Bei Wodan, das sind schon wieder diese seltsamen Kerle mit dem Kreuz“, knurrte Gerold und stemmte die Schulter gegen den Stein.
„Ja“, sagte Teutomar, der Knecht, wischte sich den Schweiss aus der Stirn. „Unser Seher Bero wird das gar nicht gefallen. Sie bringen Unruhe, halten die Leute von der Arbeit ab. Man sagt, sie träfen sich im Geheimen und lobten einen Gott, der für sie gestorben ist. Wer sich töten lässt, taugt nichts.“
Gerold spuckte aus. „Schau, dass Donar dich nicht mit seinem Hammer erschlägt, wenn du weiter schwätzest, statt mir zu helfen.“
Dichter Nebel
Ich taumelte über die Brücke und bog in den Fussweg entlang der Glatt ein. Kaum ein Fahrzeug war unterwegs, und wenn doch, sah man es schon von weitem: Scheinwerfer, die den Nebel wie gierige Finger durchbohrten. Der Dunst wurde dichter, Schichten aus Weiss, die sich übereinanderlegten, bis die Welt nur noch aus dem schmalen Korridor vor meinen Schuhen bestand.
Die Weiden am Fluss standen verkrümmt da, als hätten sie sich selbst vor etwas wegducken wollen. In der Nebelsuppe wirkten sie lebendig. Plötzlich strichen Äste über meinen Kopf und meine Schultern – nass, kalt, wie Skeletthände. Erst einer, dann zwei, dann eine ganze Reihe. Sie zupften an meiner Jacke, scharrten über meine Beine, griffen nach mir, als wollten sie mich halten. Ich wusste natürlich, dass es bloss Bäume waren. Aber der Nebel machte aus jedem Wissen ein Vielleicht.
Panik kroch hoch, langsam und beharrlich, wie Wasser in einem Boot. Mein Puls raste. Ich drängte weiter, weg von diesen tastenden Schatten.
Natürlich kannte ich die Geschichten aus dem „Rösligarten“. Man erklärte dort mit gesenkter Stimme, dass vor langer Zeit ein Seher des alten Glaubens von einem Mönch in den Sumpf verbannt worden sei – unter scheusslichen Gesängen, so hiess es, und einem Bann, der noch heute wirke. Seitdem greife er verirrte Wanderer aus Hass an und warte auf Erlösung.
Je länger ich an diese Erzählungen dachte, desto mehr glaubte ich, die knochigen Arme des Sehers wirklich zu spüren. Und dann stimmte plötzlich etwas nicht mehr. Wo waren die Bäume hin? Unter meinen Füssen war kein fester Boden mehr. Es schmatzte bei jedem Schritt. Der Weg, eben noch Kies, fühlte sich an wie ein weiches Maul.
Mein Herz hämmerte. Mir wurde übel – vor Angst oder vom Alkohol, nicht zu sagen. Ich beugte mich, erbrach mich in den Nebel, wischte mir den Mund ab. Schweiss stand auf meiner Stirn. Die Kräfte verliessen mich. Ich sank zu Boden, das Gesicht in feuchten Gras, und hörte den Sumpf atmen.
Ranulf
Die Mönche aus dem fernen Irland folgten den Spuren des Fridolin von Säckingen. Ihr Auftrag war es, sein Werk fortzuführen und die ungezähmten Wilden zu Gläubigen des Erlösers und Seines Vaters zu bekehren. Dort, wo heute Stadel liegt, trennte sich die Gruppe, und Ranulf zog zwischen dem Moor und dem Höri-Wald entlang der Glatt Richtung des heutigen Kloten.
Ranulf war jung, kräftig, zäh. Sein Glaube war fest, sein Griff um den Wanderstock ebenso. In Berichten anderer Wandermönche hatte er von der Eigensinnigkeit der Landbevölkerung gelesen: von ihren alten Göttern, von der Furcht vor bösen Wintern, von dem unheilvollen Brauch, in Notzeiten einen Menschen zu opfern. Nur die Seher kannten die Opferplätze im Moor – Übergangstore zur Ewigkeit, wo sie mit den Göttern sprachen. Hüter des Alten, Herren über Angst und Hoffnung.
Ranulf war wachsam. Hier lebten die Menschen abgeschieden von Zeit und Kultur, seit Jahrhunderten unverändert. Fremde waren ihnen ein Stachel.
Er ging auf dem schmalen Trampelpfad weiter, prüfte jeden Laut, jede Bewegung im Schilf. Bereit, den Knüppel zu schwingen gegen Menschen oder Tiere. Angst kannte er nicht; leise summte er einen irischen Kanon, der ihm Mut gab und den Atem regelte.
Der Seher
Niemand im Dorf wusste genau, wie alt er war. Gerüchte schlängelten sich um seine Herkunft, sein Alter, seine Tätigkeiten in der Hütte am Moor. Man erzählte von unheimlichen Lichtern, von Schreien im Nebel, von Geräuschen, die nicht von Tieren stammen konnten.
Wenn jemand krank war, konnte Bero oft helfen. Doch danach hoffte man, ihn nie wieder zu brauchen. Seine Beschwörungen jagten den Leuten Schauer über die Haut. Die Kräuterdämpfe, die Aufgüsse, die er gab, schienen Kreaturen aus der Dunkelheit heraufzubeschwören. Allein sein Anblick – die leere Augenhöhle, das entstellte Gesicht, die heisere Stimme – schürte Furcht. Sack und Pelz hingen an seinem skelettartigen Leib; seine knochigen Arme wirkten wie Zweige, die man aus einem Grab gezogen hat. Kinder flohen, sobald sie das Klirren seiner Rasseln und Schellen hörten.
Einst war Bero ein stolzer Alemanne gewesen, bis ein Kampf um die schöne Gerlinde ihm ein Auge nahm und sein Gesicht zerriss. Der Verlust verzehrte ihn. Er schwor Rache, verkaufte in seiner Verzweiflung seine Seele an den Gott der Unterwelt und lernte schwarze Magie, Giftmischerei, die Kunst, Leben zu knicken wie dürres Holz.
Gerlinde und ihrem Liebhaber gab er heimlich Tropfen eines Gifttranks in die Becher. Er genoss das langsame Sterben bis in den letzten Atemzug. Die Macht, die er daraus zog, nützte er für sich: Heiltränke, Kräuter, Amulette, Verwünschungen. Die Dorfbewohner fürchteten ihn, brauchten ihn – und mieden ihn zugleich. Mit Absicht baute er seine Hütte ausserhalb des Dorfes, am Rand des Moors, und nähte so seinen Ruf als mächtiger Zauberer immer dichter an sich.
Das Kreuz
Die Jahre vergingen. Leben kam und ging. Harte Winter, nasse Sommer. Bero führte die Gemeinschaft spirituell und hatte grossen Einfluss auf den Dorfvorsteher. Seine Rituale, Opfer und Zeichen hielten die Leute in einer Mischung aus Ehrfurcht und Angst.
Dann kamen die Berichte von einem neuen Glauben: im Westen, so hiess es, gebe es Menschen, die nur an einen einzigen Gott glaubten. Dieser Gott fordere keine Opfer, liebe alle. Sein Sohn habe sich am Kreuz geopfert. Seine Anhänger nenne man Mönche; sie zögen besitzlos durchs Land und trügen ein Holzkreuz bei sich, um Gefahren abzuwehren.
Bero spürte sofort die Gefahr. Wenn sich die Dorfbewohner abwandten, war seine Macht dahin. Vielleicht würde man ihn vertreiben. Also säte er Lügen: Die Mönche entführten Kinder, sperrten sie ein lehrten ihnen in Steinbauten fremdes Wissen. Danach seien sie nicht mehr dieselben. Die Götter seien beunruhigt, das schlechte Wetter Beweis ihres Zorns. Nur ein grosses Opfer könne ihn besänftigen.
So kam es, dass Wandermönche im Unterland überfallen und vertrieben wurden. Einmal verteidigten sich die Mönche energisch. Ein junger Gallier hielt verzweifelt sein Kreuz hoch und rief: „Vade retro, Satanas, in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti.“ Bero und die Seinen erstarrten, wie gelähmt. Die Mönche flohen in diesem Herzschlag der Verwirrung.
Etwas lauert
Ich erwachte fröstelnd. Nebel hing mir im Gesicht wie nasser Stoff. Ich lag schief, halb auf einem Wurzelknäuel, halb in etwas Weichem. Ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass ich nur wenige Schritte davon entfernt war, im Morast zu versinken.
Der Sumpf machte Geräusche: Blubbern, Schmatzen, das tiefe, zähe Glucksen von Wasser, das etwas hinabzieht. Der Nebel wurde zu Fetzen im Schilf, kroch um meine Beine, als wollte er mich einwickeln.
Mein Kopf pochte. Wo war ich? Irgendwo nahe dem Neererkreisel, sagte mir das letzte Stück Vernunft. Normalerweise passierten dort Tag und Nacht Leute – Heimkehrer, Frühaufsteher, Lieferwagen. Doch heute war nichts. Kein Motor, kein Schritt, kein fernes Lachen. Nur Nebel und Moor.
Meine Schuhe waren nass, die Hosen schwer, Spinnweben klebten an der Jacke. Gänsehaut riss mir über die Arme. Die Nackenhaare stellten sich auf. Und dann dieses Gefühl: dass etwas im Dunkeln stand und mich suchte. Nicht zufällig. Zielstrebig.
Ranulf kämpft
Ranulf ging weiter, frohen Mutes, doch nun mit einem Schatten im Nacken. Die Sonne wärmte den Tag mehr, als ihm lieb war. Der Herr war bei ihm, und er wollte vorwärts, auf den Pfaden des Fridolin. Frauen und Kinder liessen sich leicht für die frohe Botschaft gewinnen, bei den Männern brauchte es Geduld. Manche Krieger sahen nach der Taufe zunächst einen Vorteil darin, zwei Götter auf ihrer Seite zu haben. Mit der Zeit, glaubte Ranulf, würden sie Wodan vergessen.
Seit einer Weile spürte er, dass er beobachtet wurde. Irgendetwas lauerte im Schilfwald. Er starrte angespannt in das dichte Rohr. Da – eine Bewegung? Ein Gesicht, teuflisch, nur ein Atemzug lang sichtbar, dann weg.
Ranulf griff nach dem Holzkreuz, hob den knorrigen Stock und sprach ein Stossgebet. Bero brach mit fürchterlichem Gebrüll aus dem Dickicht. Schlamm tropfte von seinem Umhang, Bart und Haare hingen verfilzt und schwarz vor Dreck, was sein entstelltes Gesicht noch unheimlicher machte. Er wirkte auf Ranulf wie ein Dämon aus Stein und Sumpf, wie eine Gargoyle-Gestalt, die in den Himmel gekrochen war und nun wieder herunterfiel.
Sumpfmonster
Während ich im Moor stand und zitterte, hörte ich ein lautes Platschen. Etwas Grosses kam auf mich zu. Ein Schnauben, das Brechen von Ästen, das peitschende Rascheln von Schilfrohren. Dann sah ich Augen – stechend wie glühende Räder –, die sich durch den Nebel bohrten.
Aus der Dunkelheit schob sich eine Gestalt, als hätte der Sumpf selbst Beine bekommen: ein Urvieh aus vorchristlicher Zeit, überwachsen von Ästen, behangen mit totem Laub, Schlamm in den Ritzen seiner Haut. Kaulquappen zuckten auf seinen Schultern, ein Gründel duckte sich mit einem Sprung zurück ins Wasser.
In diesem Moment fiel der Alkohol von mir ab wie eine morsche Schicht. Mein Schädelbrummen war weg. Ich sah glasklar, was mich bedrohte. Und ich wusste: Ich musste mich entscheiden. Jetzt.
Verbannung
Brüllend, wie ein Ork stapfte, Bero aus dem Sumpf, die Sichel hoch in der Hand. In der anderen klapperte eine Rassel aus Knochen. Ranulf hielt ihm das geweihte Kreuz entgegen, ohne zu weichen. Bero lachte, ein nasses, tiefes Geräusch.
„Was willst du mit deinem Kreuz, Mönchlein? Ich schneide dir die Ohren ab und nagle sie an meine Türpfosten. Dann opfere ich dich Wodan. Bete ruhig — dein Gott kommt nicht. Er konnte nicht einmal vom Kreuz steigen.“
Ranulf antwortete hart: „Mein Herr ist kein Verlierer. Und du wirst sehen, wie viel Kraft Er mir gibt, dich für deine Blasphemie zu strafen.“ Er holte aus und schlug Bero mit dem Wanderstock über den Schädel. Ein zweiter Hieb, ein dritter. Bero taumelte, heulte, rief Wodan und alle Asen – doch der Himmel blieb ruhig. Die Sonne brannte kalt und klar.
Ranulf hob das Kreuz und sprach mit fester Stimme: „Vade retro, Satanas, in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Du sollst ewig in diesem Sumpf verbannt bleiben, bis ein mutiger Mensch Mitleid mit dir zeigt. Zeige Reue, dann wird dir vergeben.“
Ein gleißender Bannstrahl schoss aus dem Kreuz, traf Bero mitten in die Brust und stiess ihn zurück. Er schlug wild um sich, doch der Strahl drückte ihn in das schwarze Wasser. Langsam versank er, Blasen stiegen auf, dann war da nur noch eine glatte, dunkle Fläche.
Man erzählt, die Dorfbewohner hätten lange nach dem verschwundenen Seher gesucht. Und jedes Jahr am 31. Oktober, so sagt man, höre man an dieser Stelle sein Klagegeheul.
Erlösung
Hätte mir jemand erzählt, dass in der Nacht vom 31. Oktober dunkle Wesen Unheil treiben, ich hätte gelacht. Doch jetzt wurde mir schlagartig bewusst: Heute war der 31. Oktober. Und es fühlte sich an, als hätte der Rausch meine Sinne nicht betäubt, sondern geöffnet.
Ich erinnerte mich an die Geschichten meiner Grossmutter. Von Seelen, die im Übergang hängenblieben, nicht tot, nicht lebendig, gefangen in einem Zwischenraum, so kalt wie unfertige Erde.
„He! Was bist denn du für einer?“, rief ich den roten Augen entgegen, mutiger, als ich mich fühlte. „Findest du den Weg in die Ewigkeit nicht? Schlechter Ort zum Herumgeistern. Kalt, feucht – und stinkt.“
Das Monstrum blieb stehen. Die Kaulquappen fielen eine nach der anderen von seinen Schultern zurück ins Wasser. Es schüttelte die zu Ästen verwachsenen Arme. Der Mund öffnete sich, und schwefliger Gestank wehte mir entgegen.
„Pass auf, Jüngelchen“, grollte es. „Viele wie du sind gekommen. Viele sind geblieben. Der Mönch hat mich verbannt. Auch du wirst einer meiner Seelensklaven.“
„Ach ja?“, sagte ich, und meine Stimme klang plötzlich fester. „Der Mönch wird seine Gründe gehabt haben. Du willst den Leuten nur Angst machen, dabei hast du selbst Angst. Sonst würdest du dich nicht im Sumpf verstecken. Eine arme Seele bist du – und dazu noch ein grässliches Gesicht. Zum Bemitleiden.“
Das Monster schwieg. Dann, als hätte ich eine unsichtbare Schnur gelöst, wurde sein Blick unsicher.
„Du… „Zeigst du Mitleid mit mir?“ Seine Stimme war noch sumpfig, aber darin lag etwas anderes. Etwas Menschliches. „Und du hast keine Angst?“
„Doch“, sagte ich. „Aber ich weiss auch: Wer so lange im Moor lebt, wird krank. Rheuma, grüne Haare, man stinkt wie aus der Hölle. Und ein zerstörtes Gesicht trägst du seit Jahrhunderten. Das ist Strafe genug. Du bist heimatlos. Und müde.“
Da sank die Gestalt schwerfällig auf die Knie. Ich spürte plötzlich eine Präsenz hinter mir. Als ich mich umdrehte, stand dort, in hellem, ruhigem Licht: Ranulf. Das Kreuz in der einen Hand, den knorrigen Stock in der anderen.
„Du hast genug gebüsst“, sagte er. „All deine Schandtaten seien dir vergeben. Geh heim in Frieden.“
Er hob das Kreuz. Licht breitete sich über Bero aus wie Wasser über trockenen Boden. Die dunkle Masse löste sich auf, das Moor gab ihn frei. Das schreckliche Sumpfmonster verblasste – und war verschwunden.
Schluss
Zum zweiten Mal schwanden mir die Sinne. Ich erwachte, als mich ein Sonnenstrahl im Gesicht kitzelte. Ich lag unter Eichen am Rand des Moors. Meine Glieder waren steif von der Kälte, die Kleider verdreckt und noch feucht. Der Nebel hatte sich verzogen, als hätte er nie existiert.
„Was mache ich hier?“, dachte ich benommen. „Was für ein unsinniger Rausch gestern…“
Ein Auto hielt auf der Strasse. Einer meiner Kollegen stieg aus. „Wir haben uns Sorgen gemacht“, sagte er. „Du weisst doch, nachts kann man im Sumpf leicht die Orientierung verlieren. Gase verwirren die Sinne. Es sind schon Leute verschwunden. Ist alles in Ordnung? Komm, ich bringe dich heim.“
Als ich zum Wagen gehen wollte, fiel mir ein Stück Holz am Boden auf. Ich hob es auf – ein Kreuz, an einer Lederschnur. Dunkel vom Moorwasser, aber unversehrt.
„Seltsam“, murmelte ich und steckte es ein.
„Es gibt Dinge“, sagte ich, während ich einstieg, „die gibt es gar nicht.“
Und während wir losfuhren, sah ich im Rückspiegel, wie der Rand des Moors im Sonnenlicht still dalag – als wäre dort nie etwas gewesen. Nur ein Streifen Gras. Nur Wasser. Und doch schien mir, als würde tief darunter etwas endlich ruhig atmen.










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