Sheila Baby
- thomasvonriedt
- 16. Dez.
- 4 Min. Lesezeit

1962 – Sheila Baby
Es war das Jahr 1962, als Sheila Baby, eine bildhübsche Studentin der Universität von Florida, in der kleinen Küstenstadt Bonita Bay lebte. Eigentlich hiess sie nur Sheila – doch ihr Vater hatte sie seit frühester Kindheit „Sheila Baby“ genannt, und der Kosename war geblieben. Mit ihren klaren blauen Augen, den langen dunklen Haaren und ihrem offenen, warmen Lächeln zog sie alle Blicke auf sich. Sie war romantisch, lebensfroh, ein Kind ihrer Zeit – verliebt in Musik, Tanz und das unbeschwerte Dasein amerikanischer Jugend. Wie so viele junge Frauen jener Generation träumte sie vom grossen Glück, vom Mann ihres Lebens, der eines Tages auftauchen und ihr Herz erobern würde. Noch aber war er nirgends zu sehen.
Freitagabends traf sich die Jugend im Sheila’s 5950, einem BBQ-Fast-Food-Lokal am US-Highway 41. Der Duft von gegrilltem Fleisch hing schwer in der warmen Luft, Cola perlte in hohen Gläsern, und aus der Jukebox dröhnten Elvis, die Beach Boys und Connie Francis. Draussen parkten glänzende Strassenkreuzer, und drinnen flirteten die Footballstars mit den Mädchen der Stadt. Das Leben war leicht, und die Zukunft lag wie ein endloser Sommer vor ihnen.
An einem dieser Tage, als die Sonne über Bonita Beach stand und das Meer in silbrigen Wellen schimmerte, beschloss Sheila, sich im kleinen Café am Strand eine Limonade zu gönnen. Sie lehnte sich zurück, sog die salzige Brise ein – und bemerkte ihn.
Einen jungen Mann, kaum älter als sie, sportlich gebaut, elegant gekleidet. Dunkle Augen, kurzer Haarschnitt, ein gestreiftes T-Shirt, Jeans von Levi’s – und eine gewisse Ruhe in seiner Art, die ihn von den anderen unterschied. Er trat selbstbewusst ein, bestellte etwas zu trinken und setzte sich an den Nebentisch.
„Vielleicht ein Tourist“, dachte Sheila. „Vielleicht aus Europa.“
Er holte ein Buch aus seiner Tasche und begann zu lesen. So vertieft war er, dass er Sheilas neugierige Blicke gar nicht bemerkte. Fasziniert musterte sie ihn – bis sie sah, dass das Buch in deutscher Sprache verfasst war.
„Interessantes Buch?“, fragte sie schliesslich, beinahe über sich selbst erschrocken. Sie hatte noch nie zuvor einen Fremden einfach so angesprochen – und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.
Der junge Mann hob den Kopf, lächelte verlegen und antwortete mit leichtem Akzent:
„Oh ja, eines meiner Lieblingsbücher. Es handelt von modernen Trainingsmethoden im Golfsport. Ich heisse Tim – aus der Schweiz, from overseas!“
Sheila lachte leise. Seine Offenheit gefiel ihr. Kurz darauf sassen sie bereits zusammen am Strand, und die Stunden vergingen, ohne dass einer von beiden es bemerkte. Tim erzählte von seiner Heimat, von hohen Bergen, klaren Seen und der kleinen Grossstadt Zürich, die er liebevoll beschrieb, als wäre sie ein verborgenes Juwel. Sheila lauschte, wie verzaubert von seiner Stimme, und spürte, dass dieser junge Mann anders war – gebildet, höflich, sensibel.
Ein Mann mit Stil, dachte sie. Genauso, wie ich ihn mir immer gewünscht habe.
Tim war nach Florida gekommen, um in Naples zu trainieren. Sein Traum: Golfprofi zu werden, auf der europäischen Tour zu spielen. Zusammen mit einer Gruppe junger Athleten, der More Better Golf Association, arbeitete er täglich an seinem Schwung, an Präzision und Ruhe. Nach dem Training trafen sich die „MBGA-Boys“ mit ihrem Trainer Jack in einer Sportsbar, bestellten Steaks und Fries, tranken kaltes Bier und lachten laut. „Das sollten wir daheim auch haben», meinte Tim einmal schmunzelnd, „nicht nur diese Beizen voller alter Männer.“
So oft es das Training zuliess, traf er sich mit Sheila. Sie zeigte ihm ihr Florida – die Mangrovenwälder bei Sonnenuntergang, die breiten Strände, an denen Pelikane schwebten, die kleinen Tanzlokale mit Live-Bands und ewigem Lächeln. Er wiederum nahm sie in Gedanken mit nach Zürich, auf Spaziergänge entlang der Limmat, auf Gipfel, wo Kühe weideten und die Welt in Blau und Grün versank.
Bald war zwischen ihnen mehr als Freundschaft.
An den Abenden kehrten sie oft ins Sheila’s 5950 zurück. Die Jukebox spielte ihr Lied, und sie tanzten eng aneinandergeschmiegt, während die Neonlichter auf ihren Gesichtern flackerten. Es sprach sich schnell herum, dass Sheila ihr Herz verloren hatte – an einen Fremden, ausgerechnet aus Europa. Die Mädchen schwärmten, die Jungs murrten, doch niemand konnte die beiden trennen.
Von seiner Liebe zu Sheila beflügelt, schrieb Tim eines Nachts ein Lied – schlicht und ehrlich, mit dem Titel „Sheila“. Als er es im Diner vor Publikum sang, fiel es einem Gast auf: dem jungen Musiker Tommy Roe, der an diesem Abend zufällig mit seiner Band probte. Er bat um die Noten, arrangierte das Stück neu – und wenige Monate später lief „Sheila“ in allen Radios der USA. Ein Sommerhit war geboren, und mit ihm die Legende eines Mädchens aus Bonita Bay und eines Schweizers, der ihr Herz gewann.
Doch jeder Sommer endet. Als Tims Aufenthalt endete, stand der Abschied unausweichlich bevor. Sie umarmten sich lange am Flughafen von Miami, Tränen auf beiden Seiten. Briefe folgten, Woche für Woche, voll Sehnsucht und Hoffnung. Bis Sheila, gerade achtzehn geworden, eines Tages beschloss, ihm zu folgen. Sie sparte, liess sich einen Pass ausstellen und bestieg das Flugzeug nach Zürich.
Schon als sie ausstieg, wusste sie: Sie hatte das Richtige getan. Die klare Luft, die Berge am Horizont, Tims Lächeln – alles passte. Sie fand Arbeit, lernte Deutsch, lachte über ihre Fehler, und bald war sie in dieser Neuen Welt zu Hause.
Ein Jahr später, an einem lauen Sommerabend, sassen sie am Ufer des Zürichsees. Die Sonne versank hinter den Alpen, das Wasser glühte wie Gold – und Tim bat um ihre Hand. Sheila sagte Ja. Es war der Beginn eines neuen Lebens, fern der Heimat, aber voller Liebe. Sie bereute keinen einzigen Schritt.
Mehr als fünfzig Jahre sind seither vergangen. Sheila und Tim leben noch immer in Zürich, in einem alten Haus mit Blick auf die Stadt. Manchmal, wenn der Regen an die Scheiben klopft, schalten sie die Stereoanlage ein, legen „Sheila Baby“ auf, tanzen barfuss durchs Wohnzimmer – und lächeln.
Denn manchmal, so scheint es, schreibt das Leben selbst die schönsten Lieder.










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