Rudi Ratlos - und der Geiger geigt uns einen.
- thomasvonriedt
- vor 6 Tagen
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Ratlos zu sein, ist unangenehm. Also habe ich beschlossen, diesem Zustand genauer auf den Grund zu gehen. Das Woxikon listet über 366 Synonyme in 17 Gruppen auf. Ich bin tatsächlich sprachlos – das hatte ich nicht erwartet – und gleichzeitig beeindruckt, wie vielschichtig und präzise die deutsche Sprache diesen Zustand beschreibt. Noch erstaunlicher finde ich allerdings, dass es keinen Eintrag für das Gegenteil von »ratlos« zu geben scheint. »Ratvoll« existiert nicht, »randvoll« hingegen schon. Allmählich bin ich ratlos, wie ich dieses Problem lösen soll. Es scheint zu stimmen: Guter Rat ist teuer.
Rudi
Im Jahr 1974 spielte der berühmte Stehgeiger Rudi im Panikorchester. Bei einem pompösen Ball brillierte er mit geschmeidigen Strichen und noch mehr Pomade in den Haaren. Er fungierte als musikalischer Leiter im Duett mit Udo. Rudi Ratlos, der wieder auf den Brettern stand, die die Welt bedeuten, wurde eigens aus dem Altersheim abgeholt – von diesen cleveren Geschäftsleuten. Zweifellos bewegte dieses Duo damals die Welt und versetzte sie in Sprachlosigkeit. Ratlos waren vor allem jene Kritiker, die sich fragten, wie es geschehen konnte, dass ein Stehgeiger aus den Roaring Twenties sich von einem zottelhaarigen, spastischen Rocker zum Tango überreden liess.
Der Geiger, der uns gerade einen Evergreen vorspielt, heisst Rudi Ratlos. Mit achtzig Jahren und zittrigen Fingern bewegt er sich schon leicht wankend. Warum heisst er Rudi? Und warum ausgerechnet ratlos? Während ich darüber nachdenke und meine Nachforschungen beginne, spielt Rudi den Tango auf eine Weise, die uns verzaubert. Er ist ein solcher Wahnsinnsmacher, dass selbst ein falscher Ton uns nicht stört – und Carl Brutal tanzt den Schieber noch einmal.
Duo
Man sagt, die Schweizer seien Spätzünder. Was den musikalischen Auftritt zweier Brüder betrifft, trifft das absolut zu. Ich bin zugegebenermaßen ratlos, wie und warum es überhaupt zu diesem unvergesslichen Privatauftritt der »Singing B. Brothers« kommen konnte. Phänomenal ist, wie das Engagement eines professionellen Möhners (von englisch »moaning« für Stöhnen als Hintergrundbegleitgesang) und der schönsten Stimme der Stadt erstmals zu einem Duo vereint wurden – brüderlicher Singwahnsinn.
Es gab kaum Vorbereitung, doch das Timing der Bewegungen im Rhythmus eines argentinischen Tangos war perfekt. Dazu kam die überaus präzise Aussprache der deutschen Sprache. Die Amerikaner würden sie wohl »Natural Born Entertainers« nennen. Die Kritiker waren einmal mehr sprachlos. Einzig Rudi fehlte mit dem schmalzigen Sound seiner Geige, während Carl Brutal den Schieber noch einmal tanzte.
Konzert
Im bürgerlichen Salon (wohl eher der Stube) der Familie hingen noch immer leichte Duftspuren von Pfeifentabak in der Luft – vielleicht Amsterdamer? – zusammen mit dezenten Hauchnoten von Chanel No. 5. Möglicherweise war es aber eine andere, unbekannte Note, die den strengen männlichen Geruch durchdrang. Das Klavier hatte den Korridor schon lange nicht mehr gesehen, und es gab nur wenige Hinweise auf regelmässige musikalische Aktivitäten, abgesehen von einem Telefonrundspruchgerät auf dem untersten Regalbrett (auch Tablar genannt) im Bücherregal.
Bei genauerem Hinsehen entdeckte man jedoch einige Exemplare antiker Liederbücher sowie »Des Knaben Wunderhorn«. Offensichtlich hatte sich jemand in der Familie ernsthaft mit Gesang beschäftigt. Ich bin verwirrt.
Die Konzertbesucher richteten ihre Aufmerksamkeit auf die beiden Künstler, die mit der Eleganz von Tänzern aus der »West Side Story« ihre Finger schnippten und ihren Oberkörper rhythmisch bewegten, um dann die Ode an Rudi Ratlos zu präsentieren. Und Carl Brutal tanzte den Schieber noch einmal.
Adolf
Ich bin verwirrt. Rudi soll Leibmusiker von Adolf Hitler und Eva Braun gewesen sein? Er – der schönste Geiger der Stadt und der Liebling aller Frauen! Das konnte dem deutschen Adolf kaum gefallen haben, da die meisten Geiger Ungarn oder Nichtarier waren. Kürzlich las ich, dass Udo diesen Textteil heute für unangemessen hält und das Lied deshalb nicht mehr live singt. Nun ja, er wird seine Gründe haben. Vielleicht war es auch Udos Freund Honi, der sich beschwerte, als der Zug auf dem Weg nach Pankow war.
Carl Brutal jedenfalls stört das nicht. Er tanzte den Schieber noch einmal und führte Lady Nett übers Parkett.
Der Rhythmus, den jeder mitfühlen kann, die Melodie, die niemals vergessen wird. Der Amsterdamer wischte sich heimlich eine Träne aus dem Augenwinkel – selten zeigte er solche Gefühle. Seine schwarzhaarige Gattin zupfte an ihrem Faltenrock und rückte ihre Frisur ins rechte Licht. Ihre Augen strahlten vor Bewunderung für die Künstler, fast grenzenlos. Udo hätte sich das dünne Haar von der Stirn gewischt, sich artig verbeugt, Rudi hätte den Geigenbogen geschultert und mit der linken Hand die pomadisierte Schmalzlocke nach hinten gestrichen – nur Carl Brutal tanzt selbst ohne Musik den Schieber noch einmal.
Ratlos?
Udo geht auf die 80 zu – hat er noch Haare oder nur noch den Hut tief ins Gesicht gezogen? Ich bin verwirrt. Rudi spielt heute nur noch für Petrus, den Amsterdamer und seine dunkelhaarige Gattin mit den leuchtenden Augen. Alles Vergangenheit, kaum jemand erinnert sich noch an Rudi. Der Möhner schlägt heute die Trommel, und seine schöne Stimme erinnert sich nur noch schemenhaft an ihre Karriere als städtischer Sängerknabe. Carl Brutal, ganz fatal, rutschte beim Schieber aus, und Lady Nett pflegt ihn nun am Bett.
Rudi hat sich wieder in die Herzen der Gesangsbrüder hineingegeigt. Deren Knie beginnen zu zucken, die Finger schnippen. Der Tango ist zurück, ebenso der Rhythmus, den jeder spürt. Unsichtbar für die Gäste sagt Hubert von Goisern: »Aufgeigen müsst ihr, Burschen!«, während Carl Brutal mit Lady Nett wieder über das Parkett gleitet, fast wie Engel.
Rudi, mit reichlich Pomade im Haar, lässt seine Geige singen, das Panikorchester schwillt an, und an einem gewöhnlichen Sonntag wird ein prunkvoller Ball veranstaltet. Über YouTube schaltet sich tatsächlich noch Udo zu, in einem weissen Frack, hellblauen Hosen mit grosser Gürtelschnalle und schwarzem Hemd. Er trägt immer noch seine Prinz-Eisenherz-Frisur und keinen Hut. Rudi lächelt und streicht mit dem Bogen über die Saiten. Zwei, drei Klänge genügen, um eine ganz besondere Stimmung zu erzeugen: sinnlich, warm auf dem Parkett, erotisch wie ein Tango und erfüllt von Zigarrenrauch.
Das typische Klicken der iPhone-Kamera holt mich in die Gegenwart zurück. Mein Duett-Partner summt leise den letzten Ton, und ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Der Zauber ist verflogen. Ratlos? Nicht mehr.
Nachtrag
Ich möchte Udo Lindenberg für den Text danken, der mich im Jahr 1974 so begeisterte und letztlich zu dem einmaligen Auftritt der »Singing B-Brothers« führte. Ohne den guten Udo zu fragen, habe ich hier Passagen aus dem Songtext verwendet – wie hätte ich es sonst machen können? Damals war er mit seinem Panikorchester auf der »Andrea Doria« unterwegs, später reiste er im Sonderzug nach Pankow. Wenn er nicht auf Tour war, zog er sich gern in seine Suite im Hotel Atlantic zurück.
Endlich, im Jahr 2014, nach vierzig Jahren Fernbekanntschaft, standen wir uns auf dem Mönchsberg in Salzburg gegenüber. Ich genoss ein vorzügliches Essen im Restaurant M32 mit Geschäftsfreunden, während er schwer beschäftigt, war: Zigarren rauchen und Cocktails trinken – eine wunderbare Männerbeschäftigung. Aber ich hatte wieder Pech. Ben Becker traf ich später, 2018, noch einmal in einem Wellnesshotel, und seine Frau begleitete ihn, was mich davon abhielt, ihn auf den Abend am Mönchsberg anzusprechen.
Man weiss nie.
Kürzlich las ich, dass Udo Lindenberg neuerdings auch gesund lebt, ähnlich wie Keith Richards. Er soll nachts an der Alster joggen.
Er weiss, dass es hinter dem Horizont weitergeht – dorthin, wo Rudi heute seine Geige spielt.










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