Fräulein Schüüch? Väter müssen loslassen lernen
- thomasvonriedt
- 17. Dez.
- 7 Min. Lesezeit

Ich gehöre zu den Glücklichen: ein Sohn, eine Tochter. Und obwohl mein Beruf mich oft forttrug, wie ein Zug, der zu früh abfährt, habe ich ihren Weg nie aus den Augen verloren – eher begleitet als kontrolliert. Vielleicht staune ich deshalb bis heute so über vieles an meiner Tochter. Aufgewachsen bin ich nur mit einem Bruder; das Zusammenleben mit einer Schwester blieb mir fremd. Das Weibliche kannte ich zuerst aus dem Sohn-Mutter-Verhältnis und später aus den Erfahrungen, die mit der Heirat meiner Frau ganz selbstverständlich in mein Leben traten. Ich dachte, ich sei vorbereitet. Ich war es nicht.
Als ich von ihrer Geburt erfuhr, blitzte ein Gedanke auf, der heute wirkt wie ein Fossil aus einer anderen Welt: ein Mädchen – also kein Stammhalter. Es ist mir nicht peinlich, dass dieser Reflex da war. Peinlich ist eher, wie wenig ich damals verstand, was uns gerade geschenkt wurde.
Im Spitalflur roch es nach Desinfektionsmittel und warmem Plastik. Irgendwo klapperte Metall, eine Tür fiel leise ins Schloss. Ich stand neben meiner Frau, dieser Mischung aus Glück, Erschöpfung und Staunen, die nur frisch gebackene Eltern im Gesicht tragen. Dann legte man mir dieses kleine, runzlige Wesen in den Arm. „Alles dran, alles gut“, sagte die Hebamme. Jemand ergänzte: „Ja, ja, die blauen Augen haben sie alle, aber vielleicht bleiben sie ja.“ Meine Mutter meinte später mit trockenem Pragmatismus: „Sieht aus wie eine Orange.“ Die Gelbsucht in den ersten Tagen verging, als wäre sie nie da gewesen. Was blieb, war dieses irritierende Gefühl, dass das Leben gerade etwas sehr Grosses vorhatte.
Über die Jahre entwickelte sich das Kind erfreulich – ein Satz, den man so sagen kann und der doch zu wenig ist. Die blauen Augen blieben tatsächlich. Das Haar wurde lang und blond. Und irgendwo zwischen den ersten tapsigen Schritten und dem ersten selbstbewussten „Ich kann das allein!“ wuchs in mir ein Stolz, der sich nicht in Fotos oder Anekdoten unterbringen lässt. Meine Prinzessin stand im Zentrum meiner Liebe. Na gut: im Zentrum fast meiner Liebe, denn da war ja auch noch der Bruder, der zu Recht seine eigene Bühne verlangte. Aber so war es eben: Sie hatte eine Art, einen Raum zu füllen, ohne laut zu werden.
Ruhig und verspielt war sie schon immer. Wenn ich nach Hause kam – oft zu spät, manchmal zu müde –, fand ich sie stundenlang im Wohnzimmer auf dem Boden, umgeben von kleinen Welten, die sie sich gebaut hatte. Ihre Busenfreundin sass daneben, beide vertieft, die Köpfe dicht zusammen, als würden sie eine geheime Sprache sprechen. Kein Gezänk, kein Gerangel um dieses oder jenes Spielzeug, höchstens ein leises Kichern, das mich an eine offene Tür erinnerte: Man hörte nur, dass da Glück war.
Einmal, ich sehe es noch vor mir, sass ihr Bruder am Küchentisch und malte Buchstaben, so krumm, wie Kinderbuchstaben eben sind. Er war genervt, schob das Blatt weg, wollte spielen. Sie legte ihm die Hand auf den Arm, nicht wie eine kleine Lehrerin, eher wie eine Schwester, die ihren Platz kennt. „Schau, das ist ein A“, sagte sie, und zeichnete es langsam nach, als wäre es eine Spur im Schnee. Er schnaubte, versuchte es noch einmal. Sie nickte. Geduld war bei ihr nie Mühe, sondern Haltung.
Fantasie und Träume begleiteten sie; Sorgen brauchte man sich kaum zu machen. Genau genommen war sie ein eher scheues Kind, besonders gegenüber Fremden. Sie war nicht die, die auf Festen zu den Erwachsenen rannte und Fragen stellte; sie beobachtete erst, sortierte, kam dann auf ihre Weise dazu. Und seltsamerweise waren ihre Mutter und ich darüber nicht unglücklich. In einer Welt, die immer lauter zu werden scheint, war ihre stille Art wie ein Versprechen, dass nicht jedes Leben um Aufmerksamkeit kämpfen muss.
Die Jahre vergingen trotzdem schneller, als ich es mir eingestehen wollte. Plötzlich waren da Schultage, Hefte, Turnbeutel, Geburtstagslisten. Täglich galt es, den Schulweg viermal zu bewältigen – selbst bei Hudelwetter und Kälte. Unsere Strasse war eine dieser Strassen, in denen Kinder noch Kinder sein dürfen. Sie lernten früh, den Weg gemeinsam zurückzulegen. Wie oft stand ich am Fenster und sah dieses Grüppchen losziehen: Rucksäcke, Mützen, ein paar übermütige Rufe, und dann waren sie weg, als hätten sie ein eigenes, Miniaturdorf, das nur ihnen gehörte. Was gab es da nicht alles zu erleben, zu besprechen, zu verhandeln, Freundschaften zu knüpfen, sich zu streiten und wieder zu vertragen! „Helikopter-Eltern“ und SUV-Mütter von heute wissen wahrlich nicht, was sie ihren Kindern durch überfürsorgliche Begleitung nehmen. Dieses tägliche „Selber gehen“ war nicht nur Wegstrecke, es war Weltaneignung.
Irgendwann – sie war schon eine Weile nicht mehr klein, aber noch weit weg von erwachsen – sprach mich ein Nachbar an. Ein freundlicher Mann, der oft spazieren ging und immer grüsste. „Sag mal“, meinte er, „deine Tochter wechselt immer das Trottoir, wenn ich ihr entgegenkomme. Nicht nur bei mir, auch bei anderen Leuten.“ In mir funktionierte sofort das innere Alarm-Gitter herunter. Der besorgte Vater denkt nicht an banale Dinge. Ich dachte an Streit mit Schulfreundinnen, an Mobbing, an heimliche Tränen, vielleicht sogar an eine unglückliche erste Liebe, die ich nicht mitbekommen hatte.
„Vielleicht war sie einfach in Gedanken“, sagte ich. Es klang vernünftig. Und doch nahm ich mir vor, hinzusehen.
Ein paar Tage später beobachtete ich sie zufällig selbst. Sie kam den Hügel herunter, den Rucksack lässig über einer Schulter, die Schritte leicht. Ein Mann ging ihr entgegen. Ich sah, wie sie kurz innehielt, fast unmerklich, dann eine neue Linie wählte – wie ein Spieler, der ein Feld anders anläuft. Kein Sprint, kein Angstblick, nichts Dramatisches. Einfach ein Wechsel. Als hätte sie beschlossen: Das ist der sicherere Weg. Meine Sorge war nicht weg. Aber sie nahm eine andere Farbe an.
Mit dem Eintritt in die Pubertät veränderte sich vieles. Sie wurde nicht plötzlich laut oder trotzig – dafür war sie zu sehr sie selbst –, aber sie begann, ihren Raum anders zu verteidigen. Manchmal war sie da und zugleich woanders, in einem Innenleben, das sich den Eltern nicht mehr so leicht öffnen lässt. Wenn sie den Gehsteig wechselte: Warum denn nicht? Ich hasste es seinerzeit auch, wenn Erwachsene meinten, sie müssten mich nach Schule, Noten oder „ob ich schon eine Freundin habe“ befragen. Heranwachsende Kinder verabscheuen diese neugierigen Fragen. Manche Personen finden sie schleimig, andere fühlen sich in ihrer Gegenwart schlicht nicht wohl. Distanziertheit ist in diesem Alter kein Affront, sondern eine Art Selbstschutz.
Und dann dieses unbarmherzige Vergleichen. Bei den Jungen waren es die ersten Barthaare, die Muskeln, der Mut. Bei den Mädchen waren es andere Attribute, die angeblich optimiert werden müssten: Figur, Haut, Stimme, Beliebtheit. Wer möchte nicht die Party-Queen der Schule sein, angehimmelt von allen Jungs? Gölä schrieb später „Schwan“ – ein Lied, das diese Zeit auf den Punkt bringt: dieses Gefühl, irgendwie noch nicht fertig zu sein und doch schon beurteilt zu werden. Ich sah meine Tochter in dieser Brandung stehen. Nicht hilflos. Aber wachsam.
Schwer fällt es dem in seine Tochter vernarrten Vater, sie herzugeben. Dafür gibt es unendlich viele Beispiele in der Geschichte der Menschheit – und doch spricht kaum jemand darüber, wie sich das aus der Vaterperspektive anfühlt. Man wird automatisch der Wächter, der Mahner, der, der zu früh die Schatten sieht. Jugendlieben kamen und gingen. Nicht alle gefielen mir. Manche blieben mir unbekannt. Sie erzählte nicht viel, und ich lernte langsam, das auszuhalten. Loslassen beginnt oft damit, dass man nicht mehr nachhakt, nur um die eigene Unruhe zu beruhigen.
Dann kam der Tag, der im Rückblick wie ein Riss im Kalender aussieht.
Sie verliess das Haus. Nicht dramatisch, nicht im Streit. Eher so, wie sie immer war: entschlossen und leise. Es war eine Zeit mit Liebeskummer – dieser Art von Schmerz, der einen gleichzeitig härter und verletzlicher macht. Dazu eine schwere Erkältung, das Gesicht blass, die Augen trotzdem klar. Toronto war das Ziel. Eine Stadt, die auf der Landkarte weit weg ist und im Herzen noch weiter. Sie hatte keine Wohnung, aber eine Kreditkarte – und den Willen, sich ihr Leben selbst zu bauen.
Ich trug den Koffer zum Auto und hörte mich scheinbar beiläufig fragen: „Hast du wirklich alles?“ Das war eine lächerliche Frage. Man hat nie alles. Nicht in einem Koffer und schon gar nicht im Leben. Sie lächelte kurz, dieses alte Kinderlächeln, das ich zu kennen glaubte, und sagte: „Wird schon.“ Mehr nicht. Keine grossen Abschiedsworte, kein Pathos. Genau darin lag ihr Mut.
Als das Auto weg war, stand ich noch eine Weile vor der Haustür. Die Strasse war plötzlich still. Im Flur lag ein Schal, den sie vergessen hatte, ein grauer, unscheinbarer Schal – und mir kam er vor wie ein Symbol. Ich hob ihn auf und roch daran. Das ist die Sorte Sentimentalität, über die Männer nicht gern sprechen. Aber sie passiert trotzdem.
Die Trennung war lang. Der Kontakt blieb, aber er war anders. Kurze Nachrichten. Fotos von Strassen, von Schnee, von einem Café, von irgendeinem komischen neuen Gericht. Bisweilen ein Telefonat, in dem ich in ihrer Stimme hörte, wie sie sich um sich selbst herum eine neue Welt baut. Toronto war vereistes Pflaster, neue Leute, fremde Regeln. Und irgendwann, zwischen Heimweh und Selbstbehauptung, wurde aus meiner Prinzessin sichtbar eine Frau. Nicht weil eine Stadt es tat. Sondern weil sie es tat.
Der Clou der Geschichte?
Seit sie zurück ist, läuft sie strammen Schrittes auf der richtigen Seite der Strasse und des Trottoirs. Kein Ausweichen mehr, kein unmerkliches Abdriften. Sie steht da, wo sie stehen will. Von wegen scheu: eine zielorientierte, moderne Frau mit wachem Blick und einer Entschiedenheit, die mich zugleich beruhigt und staunen lässt. Manchmal sehe ich noch das kleine Mädchen – die blonden Haare, die blauen Augen, den geduldigen Finger über dem Papier des Bruders. Aber ich sehe es wie durch ein Fenster in ein anderes Zimmer.
Loslassen heisst nicht, dass das Vaterherz leer wird. Es heisst, dass es den Platz wechselt. Früher war ich ihre Welt. Heute ist sie ihre eigene Welt. Und ich darf darin Gast sein – nicht mehr Wächter, sondern Zeuge.










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