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Billigvelo Euroschrott – Siegerkind

  • thomasvonriedt
  • vor 6 Tagen
  • 5 Min. Lesezeit
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Eine kleine Velo-Lektion über Status und Stolz

 

 

Als der Prospektstapel wieder einmal auf dem Küchentisch landete, war klar, dass es nicht bei Magenbrot-Angeboten und Gartenschläuchen bleiben würde. Irgendwo zwischen Sonderpreisen und bunten Werbefotos lauerte stets das nächste „Unverzichtbare“. Mein Sohn blätterte mit dem Ernst eines Einkaufsleiters, der die Zukunft seines Unternehmens sichern muss. Dann legte er den Finger auf ein Mountainbike und sah mich an, als hätte er gerade das fehlende Puzzleteil für sein Leben gefunden.

 

Auch in den späten 1980er-Jahren war es für Eltern nicht einfach, die durch Werbung geweckten Wünsche der Kinder zu erfüllen. Handys gab es nicht, Influencer noch weniger, von TikTok ganz zu schweigen. Aber Prospekte, Kataloge und Plakate wirkten schon damals zuverlässig: Sie machten aus einem „ganz ordentlichen“ Fahrrad über Nacht ein „das brauche ich unbedingt“.

 

Eigentlich hatte sich an der Mechanik des Begehrens seit den Tagen der Dreigang-Velos nichts geändert. Früher waren es fünf Gänge, dann Rennräder, dann die nächste technische Stufe. Wer dazugehören wollte, schaute nach links und rechts. Und wenn Selbstbewusstsein kurz wackelte, versprach der Markt schnelle Stabilität – gegen Bargeld.

 

Eltern sind dabei gefordert. Und irgendwann knickt der Vater ein. Man kennt das Sprichwort vom Tropfen, der den Stein höhlt. In Wahrheit höhlt er vor allem Nerven und Portemonnaie. Und wenn man ehrlich ist: Den Wunsch, den man selbst einmal hatte, sieht man gern im eigenen Kind erfüllt. Warum sollte der Junge mit einem unendlich schweren, irgendwo billig erstandenen Fahrrad für zehn Franken zur Schule fahren? Die Mutter und die Großmutter hätten den Kopf geschüttelt, und die Nachbarn hätten sich ihr Teil gedacht.

 

Also tat ich das, was besorgte Eltern tun: Ich informierte mich, rechnete, setzte ein Budget fest und sammelte Coupons, die man als Anzahlung verwenden konnte. Monatelang ging das so, bis sich endlich eine Lösung abzeichnete. Ein Großmarkt bot ein 18-gängiges Mountainbike für deutlich weniger als 1000 Franken an. Solide gebaut, in frischen Farben – rot-weiß-grün –, dazu Gepäckträger, Velopumpe und Getränkeflasche. Ein rundes Paket.

 

Ein solches Fahrrad musste den physischen Anforderungen eines Zehnjährigen genügen. Und die Konstruktion ließ hoffen, dass man im Notfall selbst etwas reparieren könnte, statt beim kleinsten Defekt einen Spezialisten zu brauchen. Heute, mit den verkapselten Wunderwerken auf zwei Rädern, erscheint mir das fast nostalgisch.

 

Nur der Preis war immer noch hoch. Doch der Großmarkt hatte Ambitionen: Marktanteile ausbauen, Kundschaft nach Bachenbülach locken – damals noch deutlich ländlicher als heute. Der Preis fiel erst auf 450 Franken. Das war schon eher im Rahmen. Kurz darauf folgte ein Sonderverkauf: plötzlich 300 Franken. Ich spürte, wie das Budget aufatmete.

Mit einem Coupon über 150 Franken in der Brieftasche fuhr ich „was gisch, was häsch“ nach Bachenbülach, holte das Schnäppchen ab und stellte mich an der Kasse an. Der Kassierer musterte den Gutschein und schüttelte den Kopf. Er könne ihn nicht annehmen, der Preis sei ja bereits reduziert.

 

Ich erklärte ihm freundlich, aber bestimmt, dass nirgendwo eine Einschränkung stehe. Kein Ablaufdatum, kein Hinweis auf Ausschluss bei Aktionen. Der Kassierer blieb stur, ich blieb höflich stur. Schließlich einigten wir uns darauf, den Geschäftsführer zu holen.

 

Der Geschäftsleiter kam, hörte sich das Ganze an, sah den Coupon, sah den Preis, sah mich – und man konnte ihm beim inneren Rechnen zusehen. Seine Laune sank sichtbar, doch er musste zugeben, dass der aufmerksame Käufer im Recht war. Ich kassierte meinen klaren Sieg.

 

So kamen 18 Gänge für 150 Franken nach Hause.

 

Der „Göppel“ wurde begeistert empfangen. Plötzlich war Strampeln kein mühsames Pflichtprogramm mehr, sondern Abenteuer. Damals fuhren die Kinder jeden Tag: zur Schule, von der Schule, zum Spielplatz, wieder zurück. Sie saßen fest im Sattel und legten nebenbei Kilometer zurück. Super Mario steckte höchstens in der Jackentasche oder im Schulranzen – das echte Spiel fand draußen statt. Kurz gesagt: Die Kinder waren beneidenswert fit. (Heute sehe ich behelmte Kinder das Rad den Hügel hinaufschieben, während sie mit der freien Hand ein iPhone balancieren.) Die Welt dreht sich weiter, auch ohne meine Zustimmung.

 

Eine Weile war alles gut. Dann, beim Abendessen, tauchte der Satz auf, der selten nur einmal auftaucht: „Alle haben ein richtiges Fahrrad.“

„Alle?“ fragte ich.

„Ja. Giant, Wheeler, Scott… nur ich nicht.“

 

Es war erstaunlich, wie präzise ein Zehnjähriger plötzlich über Kettenblätter, Gewichtsvorteile und Gangabstufungen sprechen konnte. Er erklärte die Vorzüge der Markenräder, als sei er Prospektberater in eigener Sache. Diese Diskussion zog sich über mehrere Essen hin. Wenn es um seine Wünsche ging, war der Junior zäh wie eine Bergziege. Ich fragte mich gelegentlich, warum diese Ausdauer nicht in die Matheaufgaben floss.

 

Irgendwann kulminierte das Ganze. „Euroschrott“, sagte er – mit der Überzeugung eines Menschen, der ungerechte Zustände anprangert. Er sah sich als Paria unserer Wohngemeinde und war sicher, wir Eltern würden als Geizhälse dastehen. Das sei peinlich, meinte er, oder in seiner Sprache: „peino“.

 

Nun waren wir gefordert: das Selbstwertgefühl stabilisieren, unsere Investition verteidigen – und gleichzeitig vermeiden, gleich wieder ein neues Rad zu kaufen.

 

Man sagt, Väter wollten immer das letzte Wort haben. Mag sein. In dieser Situation war es jedenfalls nützlich. Ich fragte vorsichtig, wer denn genau diese großartigen Fahrräder habe und was sie so viel besser mache. So bekam ich in einem kleinen Schnellkurs die aktuelle Markenwelt erklärt. Ich nickte verständnisvoll und ließ mir fachkundig die Schwächen unseres Bikes auflisten: 18 statt 21 Gänge, ein paar Kilo schwerer, nicht ganz so „smooth“ im Design.

 

Ich versuchte mir vorzustellen, was wir früher mit dem Fahrrad gemacht hatten: Radball, kurze Wettkämpfe, Sprünge über Bordsteine, Ausflüge über Stock und Stein. Hätte ich damals so ein „Euroschrott“-Rad gehabt, ich wäre der König des Schulhofs gewesen.

 

Ein paar Tage später sah ich ihn mit seinen Kollegen vor dem Schulhaus stehen. Zwei Jungs prahlten mit ihren blitzenden Markenbikes, die im Sonnenlicht fast wichtiger wirkten als ihre Besitzer. Mein Sohn hörte zu, stellte sein rot-weiß-grünes Gefährt daneben und grinste nur. Da war etwas in seiner Haltung, das mir gefiel.

 

Am Abend griff ich das Thema wieder auf.

 

„Ihr fahrt doch manchmal Rennen von der Schule nach Hause, oder?“

„Ja!“

„Und wer gewinnt dann?“, fragte ich so beiläufig wie möglich.

 

Er sah mich an, zuckte mit den Schultern und sagte ganz cool: „Ich.“

 

In mir machte sich eine stille Erleichterung breit – und ein Elternstolz, den ich nicht sofort zugeben wollte.

 

„Siehst du“, sagte ich. „Der Fahrer gewinnt. Nicht das Rad. Deine Kraft, deine Ausdauer, dein Wille – das ist es. Lass sie ihre teuren Bikes haben. Wenn sie dich damit nicht schlagen können, sagt das mehr über dich als über jedes Preisschild.“

 

Er hörte zu, ohne zu protestieren. Vielleicht, weil der Satz zum ersten Mal nicht nach Haushaltsplan klang, sondern nach Anerkennung.

 

Das Fahrrad tat noch ein paar Jahre seinen Dienst. Es begleitete den Jungen durch Regen, Waldwege und Schulhofrennen, wurde zerkratzt, geflickt, weitergefahren. Irgendwann stand es dann doch am Rand – alt, verbogen, nicht mehr zu retten. Als wir es schließlich entsorgten, merkte ich erst, wie viel Kindheit an diesem rot-weiß-grünen Rahmen hing.

 

Und wie wenig „Euroschrott“ darin steckte.

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