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Der Mond ist aufgegangen….zur Erinnerung an Gertrud Gaupp

  • thomasvonriedt
  • 17. Dez.
  • 3 Min. Lesezeit
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Wenn ich an Gertrud denke, dann denke ich an...

 

Tausend Momente meiner Jugend erwachen und drängen darauf, meinen Kopf zu verlassen. Unglaublich, dass erst eine überraschende Einladung zu einem Abschieds-Apéro für Gertrud nötig war, um längst verstaubte Erinnerungen wieder zum Leben zu erwecken.

 

20 Jahre lebten wir im selben Haus, der Nummer 31, die Braunis ganz oben, daneben das Fränzi. Einen Stock tiefer die Gaupps und die Christens mit Carlo und Robert. Im Parterre wohnte Robert Giger, der gefürchtete Hauswart, und gegenüber die Familie Populin und die Söhne Alex und Gaetano. Elf Kinder, in allen Altersstufen,  erlebten zusammen eine sorglose Jugend. Das heisst nicht, dass wir von familiären Schicksalsschlägen verschont geblieben wären, aber es war eine unbeschwerte Zeit. Keine Super-Mario-Spiele, keine Handys bestimmten unser Leben – es war die Fantasie, die regierte, und die Kinder hielten sowohl die Eltern als auch den strengen Hauswart stets auf Trab. Es gäbe viele Geschichten zu erzählen, doch ich möchte mich auf die verstorbene Gertrud konzentrieren.

 

Die Erinnerungen an jene Zeit liegen nun bald 70 Jahre zurück. Gertrud hatte die schwierigste Phase ihres Lebens als Mutter von vier Kindern gemeistert. Ihr Hans war an Polio verstorben und hinterliess Tommy, Rahel, Maya und die noch ungeborene Eva. Die Liebe zu ihren Kindern und ihre Malerei halfen ihr, dieses harte Schicksal zu überwinden. Gerade die Freude an der Kunst brachte viel Farbe in das einfache Leben der 50er Jahre. Am heimischen Tisch wurde gebastelt und gemalt. Die Wohnung erlebte regelrechte Invasionen von Kindern, denn Fernsehen gab es nicht. Dafür gingen wir zu einem älteren, kinderlosen Ehepaar, die jeweils zehn oder mehr Kindern in ihrer Stube Ivanhoe schauen liessen. Welch ein Glück!

 

Als ältestes Kind der Braunis empfand ich die Gaupp-Kinder als meine Geschwister. Thomas war mein liebster Freund, und für Rahel hätte ich mich wohl geopfert. Maya und Eva waren noch zu klein, um als Spielgefährten zu dienen, und so beschränkte sich meine Rolle auf die Aufsicht der Kleinen. Eigentlich lebten wir in zwei Wohnungen, assen dort, machten unsere Hausaufgaben, spielten zusammen und durften manchmal bei dem einen oder anderen übernachten. Die gemeinsamen Ferien in den Bergen oder im Rustico in Oggio bei der Grossmutter waren unbeschreiblich.

 

Gertrud wusste uns nicht nur gut unter Kontrolle zu halten, sondern förderte auch unsere kreative Seite.  Sie öffnete uns die Augen für die Schönheiten der Welt, von Flora und Fauna, was bestens in unsere fantasiereiche Jugend passte.

 

An einem Herbstabend, vermutlich 1958, stand der Mond riesig am Himmel. Der Abendstern blinkte, und die Glocken der reformierten und der katholischen Kirche in Oerlikon schlugen zur Betzeit (oder war es die Bettzeit?). Das Glockenspiel unterschied sich deutlich. Ein paar Vögel suchten ihre Nester und sogar die ersten Fledermäuse auf der Jagd nach Insekten flogen, pfeiftonähnliche Töne ausstossend vorbei. Zu Hause, bei meinen Eltern, lag mein kleiner Bruder im Kinderbettchen, und ich, ich durfte wieder einmal bei Tommy übernachten. Das verhiess später ins Bett gehen zu müssen und hinterher im Dunkeln noch lange schwatzen zu können

 

Zu der Zeit war 20 Uhr typische Bettzeit – vielleicht noch mit einer Geschichte etwas verlängert. An diesem Abend, geblieben ist mir nur die Situation in Tommys Zimmer, standen wir drei Grossen, Thomas, Rahel und ich, und die noch kleine Maya mit Getrud vor dem offenen Fenster. Die Abendfrische und die Zimmerwärme kämpften noch um die Vorherrschaft.  Gemeinsam schauten wir an den Abendhimmel, verfolgten den Lauf der Sterne und suchten nach Sternschnuppen und dem Abendstern, der Venus. Gertrud animierte uns, das beliebte Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“ zu singen. Warum? Ich weiss es nicht, gesungen haben wir mit Inbrunst sogar das kleine Maieli.

 

Der Mond ist aufgegangen,

Die goldnen Sternlein prangen,

Am Himmel hell und klar.

Der Wald steht schwarz und schweiget,

Und aus den Wiesen steiget,

Der weisse Nebel wunderbar.

 

 

So standen wir am Fenster, der Wald lag keine 200 Meter entfernt, schwarz und schweigend. Vielleicht hatte sich sogar Nebel auf der Wiese vor dem Haus niedergelassen. Die Hektik des Tages liessen wir mit den beruhigenden Liedern hinter uns. „Weisst du, wie viel Sternlein stehen“, „Schlaf, Kindlein, schlaf“ – diese Lieder gehörten sicher dazu, aber ich weiss es nicht mehr genau. Bald schliefen wir wohl tief und fest – ich bei Thomas, und die Mädchen im Zimmer mit Eva. Das Sandmännli streute ihr schon lange Schlafsand in die Augen.

 

Heute denke ich, dass Gertrud den Kindern sagen wollte, dass einer der funkelnden Sterne ihr Vater sei. Was waren wir privilegiert, so aufzuwachsen. Danke, danke Gertrud.

 

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