Gesellschaftliches Verhalten und Vaterstolz
- thomasvonriedt
- 17. Dez.
- 5 Min. Lesezeit

Ein Ehepaar genoss mit Freunden ein Abendessen in einem besonderen Lokal. Hier arbeiteten Menschen mit Beeinträchtigungen – aufmerksam, professionell und mit einer Selbstverständlichkeit, die jeden Respekt verdiente. Die Teller kamen rasch, die Empfehlungen sassen, der Service war herzlich. Vor allem aber: Das Essen war hervorragend. Zwischen Vorspeise und Hauptgang lag dieses warme, leicht summende Glück einer Runde, die sich mag, die plaudert, lacht, anstösst, immer wieder neue Fäden aufnimmt und sie genüsslich weiterspinnt.
Der Ehemann jedoch beobachtete aus dem Augenwinkel einen der Freunde. Schon seit geraumer Zeit fragte er sich, wann dieser Kollege wohl die Nerven verlieren würde. Es ging um etwas, das manche sofort wahrnehmen und andere gar nicht – oder sie halten es für völlig normal. Vielleicht ist es eine Frage des Alters, der Herkunft, der Erziehung. Vielleicht auch einfach der Tagesform. Wie auch immer: Das Essen ging weiter, und tatsächlich legten sich erste feine Spannungen in die Stirn des besagten Freundes. Ein Blick zu viel, ein leichtes Zusammenpressen der Lippen – nichts Dramatisches, aber ein Vorzeichen.
Ein paar Tische weiter hinten sass eine Familie mit zwei Jungen. Der eine mochte drei oder vier Jahre alt sein, der andere war etwas älter. Beide schienen sich am Tisch zu langweilen. Irgendwann rutschten sie von den Stühlen, dann wurden aus Blicken erste Zuckungen in den Beinen – und schliesslich ein Spiel, das ihnen wie ein Befreiungsschlag vorkam: Sie begannen, im Restaurant herumzutollen. Ihre selbst erfundene Rennstrecke führte direkt hinter einem Gast vorbei, dann den Gang hinunter in den zweiten Raum, wo ein riesiger Berner Sennenhund gutmütig auf sie wartete, als gehöre er zum Parcours. Mit jedem Durchlauf wurden sie lauter, schneller, ungestümer. Die Eltern? Sie blieben sitzen, redeten weiter, lächelten vielleicht kurz, ohne wirklich einzugreifen.
Der Gast – jener Freund am Tisch – war kein Kinderhasser. Im Gegenteil: eigentlich ein freundlicher, sozialer Mensch. Doch er konnte es nicht ertragen, wenn Kinder schreiend und unkontrolliert durch den Raum rasten, als sei dies ein Spielplatz. Man sah, wie seine Geduld dünner wurde. Die Schultern spannten sich, der Blick verfolgte die Rennenden, die Stirn bekam Falten, bis er den ersten Kommentar fallen liess, halblaut, aber so, dass es bis an den Tisch drang:
„Schon wieder Kinder einer Mutter, die nicht weiss, was Manieren sind und einfach alles zulässt. Früher mussten Kinder sich noch benehmen …“
Damit war das Thema eröffnet, wie ein Fenster, das man im Winter aufstösst: plötzlich ist es zugig, aber man diskutiert trotzdem. Keine Disziplin, keine Manieren. Früher hätten Kinder den Erwachsenen am Tisch zugehört; höchstens hätten sie ein Buch lesen dürfen oder mit Malstiften still etwas gemalt. Heute, so hiess es, habe ja jedes Kind ADHS – oder wie man das inzwischen nenne. Und überhaupt: War früher nicht alles besser?
Die Diskussion wogte leise zwischen den Gängen hin und her. Und während man noch abwog, kam der jüngere Junge erneut angerast. Diesmal platzte es aus dem Freund heraus wie ein Korken:
„So, jetzt aber! Sofort aufhören!“
Der Ausruf traf das Kind wie ein plötzliches Gewitter. Es erstarrte im Lauf, verlor das Gleichgewicht, stiess mit dem Kopf gegen ein Tischbein, schob dabei einen Beistelltisch zur Seite – und stand dann halb benommen, doch ohne einen Laut, wieder auf. Keine Tränen, kein Protest. Nur dieser verblüffte Blick, der nicht wusste, wohin mit sich. Die Mutter sammelte ihre Kinder zum x-ten Mal ein, zog sie an den Tisch zurück – kein Wort der Entschuldigung, kein Blick zum Betroffenen. Dann kehrte wieder diese erleichterte Stille ein. Am Tisch wurde nachgeschenkt, man prostete der wiedergewonnenen Ruhe zu, so wie Menschen es tun, wenn sie etwas Unangenehmes hinter sich lassen.
Auf der Heimfahrt erinnerte sich der Ehemann an eine Sonntagsgeschichte aus den Jahren, als seine eigenen Kinder noch klein waren. Es war eines dieser seltenen Wochenenden gewesen, an denen er allein mit ihnen war: Die Frau im Ausland, er zu Hause – verantwortlich für alles von A bis Z. Mit einer Ausnahme: Das Sonntagsessen wollte er sich im Restaurant gönnen. Ein kleines Fest für alle, dachte er.
Gesagt, getan. Die Kinder wurden in ihre Sonntagskleidung gesteckt, was die Tochter sichtbar freute. Der Vater zog seinen braunen Cerruti-Anzug an, ein weisses Button-Down-Hemd und eine blau-weiss gestreifte Krawatte. Dann ging’s los, mit dieser angenehmen Mischung aus Vorfreude und leichter Nervosität, die Eltern kennen, wenn sie mit Kindern „fein essen“ gehen.
Der Tisch war reserviert. Eine aufmerksame Serviertochter brachte sofort Malstifte und ein Büchlein zum Ausmalen – vorbildlich, dachte er erleichtert. Für die Kinder gab es Himbeersirup, für ihn ein Glas Rotwein. Ein kleiner Salat, danach Wiener Schnitzel mit Pommes frites. Und, welch ein Glück aus Kinderperspektive: Ketchup – zu Hause streng verboten. Er sah ihren Gesichtern an, dass allein diese rote Freiheit den Ausflug wert war.
Und dann geschah etwas, das ihn still glücklich machte: Die Kinder assen mit Messer und Gabel wie die Grossen. Kein Stochern mit dem Löffel im Teller, kein Ketchup-Feuerwerk, kein Gezappel. Selbst das Schneiden des Schnitzels gelang dem Sohn ohne Mühe. Der Vater sass da, genoss sein Essen – und noch mehr den Anblick seiner vorbildlichen Kinder. Er fühlte diesen unaufdringlichen Stolz, den man nicht hinausposaunt, weil er sich sonst wie Prahlerei anhört.
Das gutbürgerliche Restaurant war an diesem Sonntagmittag gut besucht. Überall sassen Senioren und ältere Gäste, genossen die Ruhe, unterhielten sich mit Freunden oder widmeten sich still ihrem Sonntagsmenü. Der Vater liess den Blick schweifen – und bemerkte die tuschelnden Damen am Nebentisch. Sie waren bereits bei Dessert und Kaffee und beurteilten eifrig die übrigen Gäste.
„Was die für einen Rock trägt – nein, aber!“
„Hast du gesehen? Der bestellt sich schon zum dritten Mal Nachschlag Nudeln!“
Er musste schmunzeln, sah wieder zu seinen Kindern – und dann hörte er die Worte, die seine Brust vor Stolz anschwellen liessen:
„Schaut euch den Vater mit seinen herzigen Kindern an! Wie gesittet sie essen, so nett gekleidet. Ob das wohl ein geschiedener Mann ist, der heute seine Kinder hat? Und wie gut sie sich benehmen – der Kleine hält Messer und Gabel wie die Grossen, und das Mädchen hilft ihm ganz selbstverständlich.“
Diese Anerkennung tat ihm gut, mehr als er erwartet hätte. Und sie löste einen stillen Entschluss aus: seiner Frau zu Hause zu sagen, wie sehr er ihre Erziehung schätzte. Nicht als Pflichtsatz, sondern als ehrlichen Dank.
Und damit stellt sich die Frage, die ihn auch auf der Heimfahrt aus dem heutigen Abend nicht losliess:
Warum müssen heute so viele Regeln den Kindern zuliebe aufgeweicht werden? Dabei liessen sich gesellschaftliche Normen auch ohne Zwang vermitteln – freundlich, konsequent, mit Blick auf das Miteinander.
Zum Wohle aller.










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