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Max' Zeitreise zum Bogenwettbewerb

  • thomasvonriedt
  • vor 7 Tagen
  • 9 Min. Lesezeit
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Wie es begann – Max’ erster Zeitsprung

 

Max sass bequem in seinem gestreiften Polstersessel in der warmen Stube und liess den Tag hinter sich. Im offenen Kamin knackte das Feuer, die Schatten tanzten über Bücherregale und Familienfotos. Auf dem Fernseher lief sein heimlicher Lieblingsfilm: The Rocky Horror Picture Show.

 

Spätestens beim „Time Warp“ war es um Max immer geschehen.

 

Er liebte die schräge Geschichte, den morbiden Humor – und vor allem die Choreografie. Max war ein begnadeter Tänzer, das wusste er. Im Golfclub jagten sich die Gerüchte: Bei besonderen Turnieren war er der König des Parketts. Die Damen verfolgten ihn mit langen Blicken, jene, die er tatsächlich zum Tanz bat, erzählten noch Jahre später davon. Manche Ehemänner bedankten sich innerlich beim „Meister des Grüns“, weil sie währenddessen ihr Bier in Ruhe trinken konnten. Andere führten später daheim eher schwierige Gespräche.

 

Auf dem Bildschirm setzte gerade die bekannte Musik ein.

 

„It’s just a jump to the left…“

 

Max’ Zehen begannen im Takt zu wippen. „Ein Zeitsprung mit dem Time Warp, das wäre mal was“, dachte er und stellte sich das 18. Grün im Jahr 2050 vor – oder die Clubterrasse anno 1975.

 

Er stand auf, drehte die Lautstärke seiner Sonos-Anlage hoch und stellte sich mitten ins Wohnzimmer. Der Teppich wich dem Parkett, seine Knie bekamen dieses vertraute, angenehme Kribbeln.

 

Ein Sprung nach links.

Ein Schritt nach rechts.

Die Hände an die Hüften, Knie zusammen, Becken dreimal nach vorn – und wieder von vorn.

 

Je länger er tanzte, desto weniger achtete er auf den Film. Die Musik übernahm. Die Flammen im Kamin schienen im Takt zu flackern, das Wohnzimmerlicht wurde seltsam blass. Max’ Schritte wurden grösser, die Drehungen schneller. Der Refrain brandete zum x-ten Mal auf, und im selben Moment verzog sich das Bild auf dem Bildschirm kurz, als würde jemand an der Zeit drehen.

 

„Noch einen Sprung“, dachte Max und lachte. „Links. Oder war es rechts?“

Er sprang.

 

Plötzlich fühlte sich der Boden unter seinen Füssen anders an. Kein glattes Parkett, eher kratzig. Es knirschte. Seine Drehung stockte.

 

„Na super“, dachte er. „Mit Flip-Flops tanzt man keinen Time Warp.“

 

Flip-Flops?

 

Zwischen seinen Zehen spürte er feinen, kühlen Sand.

 

 

Am Strand

 

Der Gesang verklang, die Geräusche veränderten sich. Das Knistern des Feuers wich dem Rauschen von Wasser. Stimmen, Lachen, irgendwo ein kreischendes Kind. Als der Nebel vor seinen Augen sich lichtete, stand Max nicht mehr im Wohnzimmer.

 

Er stand barfuss in Flip-Flops in blendend weissem Sand. Die Sonne brannte von einem wolkenlosen Himmel, das Meer des Golfs von Mexiko glitzerte in sattem Türkis. Kinder spielten Beachball, Jugendliche posierten in grellen Bikinis und Shorts, muskulöse Jungs diskutierten, wie man am besten eine der jungen Frauen ansprechen konnte. Ältere Paare lagen unter Sonnenschirmen, eingemummt in bunte Badetücher.

 

Max blickte an sich hinunter. Badeshorts. Kein Poloshirt, keine Golfschuhe, kein Handschuh.

 

„Definitiv nicht der Bunker an Bahn 18“, murmelte er.

 

Hinter ihm klirrte etwas. Er spürte ein Gewicht auf seiner Schulter. Er tastete nach hinten – ein Köcher. Voller Pfeile, nicht voller Eisen und Hölzer.

 

„Komisch“, dachte Max. „Ich gehe doch sonst nie halb nackt zum Golfen.“

 

Ein Schatten fiel auf ihn. Er drehte sich um. Vor ihm stand ein Hüne von einem Mann, Oberkörper frei, Muskeln wie aus Stein gemeisselt. Neben ihm ein schlanker junger Mann mit feinem Gesicht und viel zu langen Wimpern.

 

„Na, Weisskugel“, grölte der Muskelprotz. „Stehst du auch für den Schiesswettbewerb an?“

 

Weisskugel – vermutlich wegen seines bis jetzt nicht ganz gebräunten Bauches.

 

Der Jüngere lächelte säuselnd. „Bist du auch ein berühmter Bogenschütze?“

 

Max blinzelte. „Schiesswettbewerb? Ich… äh… ich bin eigentlich Golfer. Ambitionierter Golfer. Ping, wie Bubba Watson.“

 

Der Muskelmann lachte dröhnend. „Heute bist du Bogenschütze, mein Freund. Regeln sind Regeln.“

 

Erst jetzt nahm Max die anderen Gestalten am Strand wahr – und blieb kurz stehen.

 

Da war Katniss aus den Hunger Games, in kurzen Sportshorts, die Pfeile prüfend in der Hand. Da war Paris aus Troja, der nebenbei Beachvolleyball spielte und sich überlegte, ob Helena wohl auch Badeferien mochte. Legolas, der Elb, spritzte Badegäste mit einer Wasserpistole nass und traf dabei mit beunruhigender Präzision nur die Zehen. Robin Hood aus Sherwood schob lässig seinen Hut in den Nacken und taxierte die Geldbörsen der Zuschauer. Neben ihm stand Wilhelm Tell, ernst und konzentriert, die Armbrust so selbstverständlich in der Hand, als wäre sie Teil seines Arms. Ein junger Mann mit Locken, Pfeil und Bogen, aber eindeutig zu wenig Kleidung, war unschwer als Eros zu erkennen – seine Pfeile hatten andere Ziele als Scheiben. Und ganz am Rand, gelassen die Muskeln dehnend, stand Herkules und sah aus, als hätte er schon ganz andere Monster erledigt.

 

Max schluckte. „Alles klar“, dachte er. „Ich bin im Olympia der Bogenschützen gelandet – und trage Badeshorts.“

 

Der Muskelprotz klopfte ihm auf die Schulter. „Ich bin Herkules“, stellte er sich vor. „Und du bist…?“

 

„Max. Aus dem Schwarzwald.“

 

„Schwarzer Wald.“ Herkules grinste. „Klingt nach einem netten Sparringpartner.“

 

 

 

Regeln am Strand von Naples

 

Eine bucklige Gestalt mit fransigem Haar und Sonnenbrand trat vor die Gruppe. Er trug ein ärmelloses T-Shirt, auf dem „Referee“ stand, und eine Trillerpfeife.

 

„Ich bin Riff-Raff“, verkündete er mit krächzender Stimme. „Wettbewerbsleiter aus einer anderen Galaxie. Willkommen zum Megalodon Archery Contest in Naples, Florida!“

 

Er deutete auf eine gewaltige Kartonattrappe am Strand: das aufgerissene Maul eines monströsen Hais, Zähne wie Messer, darüber ein riesiges Auge.

 

„Ziel ist das Auge des grässlichen Megalodon“, erklärte Riff-Raff. „Drei Pfeile pro Schütze. Wer die Linse trifft, gewinnt. Kiemen, Maul, Augenbraue zählen als Applaus, aber nicht als Sieg.“

 

„Fragen?“

 

Robin Hood hob die Hand. „Wie ist die Beute aufgeteilt?“

 

„Beute?“ Riff-Raff blickte verwirrt. „Es gibt Ruhm, Ehre – und eine Runde Margaritas an der Strandbar.“

 

„Ich bin dabei“, murmelte Robin.

 

Wilhelm Tell musterte Max. „Hast du schon mal auf etwas anderes geschossen als Golfbälle?“

 

„Nur auf Stableford-Ergebnisse“, meinte Max trocken. „Aber einen Ball aus hundert Metern in ein 10-Zentimeter-Loch zu schlagen, ist auch nicht ganz ohne.“

 

Tell nickte langsam. „Dann schauen wir mal, Weisskugel.“

 

Die Schützen stellten sich auf. Etwa fünfzehn Meter trennten sie von der Hai-Attrappe. Auf diese Distanz wirkte das Auge des Ungeheuers eher wie ein etwas grösserer Leberfleck.

 

„Alles bereit zum ersten Durchgang – Schuss frei!“ brüllte Riff-Raff und fuchtelte mit den Armen.

 

 

 

Erster Durchgang – Augenbrauen

 

Herkules spannte den Bogen, als wollte er eine Eiche ausreissen. Sein Pfeil bohrte sich wuchtig in die Stirn des Hais, nur knapp oberhalb des Auges.

 

„Nicht schlecht“, kommentierte Robin. „Aber den Hintersinn hast du verfehlt.“

 

Katniss schoss schnell und präzise; ihr Pfeil landete direkt im inneren Augenring. Eros schoss versehentlich in Richtung Publikum – eine junge Touristin blieb wie angewurzelt stehen, griff sich ans Herz und starrte daraufhin verliebt einen etwas übergewichtigen Rettungsschwimmer an.

 

„Ups“, sagte Eros unschuldig. „Berufsrisiko.“

 

Max war dran. Er merkte, wie seine Hände zitterten. Bisher hatte er Pfeile höchstens in Zeichentrickfilmen gesehen. Doch dann erinnerte er sich an seine Golf-Routine: einatmen, zwei Probeschwünge, Blick aufs Ziel.

 

„Ist doch auch nur ein langer Chip“, redete er sich ein.

 

Er nahm die Haltung ein, die ihm Tell im Vorbeigehen zugeflüstert hatte – „Ellbogen hoch, nicht klemmen“ –, spannte die Sehne und liess los.

 

Der Pfeil schoss los, schneller, als er mit den Augen folgen konnte, und traf – die Augenbraue des Megalodon.

 

Max atmete aus. Kein Volltreffer, aber weit weg vom Totalausfall. Der Applaus der Zuschauer war freundlich.

 

„Für einen Golfer gar nicht übel“, murmelte Robin.

 

„Da ist noch Luft nach oben“, sagte Tell. „Zum Beispiel bis in die Linse.“

 

 

Zweiter Durchgang – Ablenkungen

 

Für den zweiten Pfeil war Max deutlich nervöser. Die Sonne stand höher, der Sand fühlte sich plötzlich heisser an, und aus der Strandbar klangen erste Takte einer Latino-Playlist.

 

Herkules traf wieder wuchtig in die Stirn, diesmal etwas näher am Auge. Katniss’ Bogen ächzte unter der Spannung, aber ihr Pfeil setzte sauber im äusseren Rand der Iris auf. Legolas schnippte seinen Pfeil fast gelangweilt ab – direkter Treffer in den Augenrand, so präzise, dass einige Zuschauer unwillkürlich zurückzuckten.

 

Eros schoss auf gut Glück über die Schulter – sein Pfeil traf einen heissblütigen Italiener aus Salerno, der daraufhin der deutlich älteren Amerikanerin Betty neben ihm einen Heiratsantrag machte.

 

„Ziel verfehlt, Wirkung erreicht“, kommentierte Eros zufrieden.

 

Max merkte, wie seine Aufmerksamkeit zu den Szenen am Rand wanderte: die lachende Touristengruppe, das Glitzern des Wassers, eine Frau im weissen Badeanzug, die ihm zuwinkte. Er schluckte, spannte den Bogen – und liess zu früh los.

 

Der Pfeil streifte das Maul des Hais und blieb schliesslich in den gezeichneten Kiemen stecken.

 

„Kiemen sind kein Auge“, sagte Tell trocken.

 

Robin grinste. „Ablenkung durch Publikum. Kenne ich vom Turnier in Nottingham.“

 

Max knurrte innerlich. „Beim Golf hätte ich jetzt ein Bogey“, dachte er. „Aber hier ist noch ein Pfeil übrig.“

 

 

Dritter Durchgang – Golf im Kopf

 

Riff-Raff hob dramatisch die Arme. „Finale Runde! Letzter Pfeil! Wer jetzt nicht trifft, ist raus aus der Legende!“

 

Die Strandbesucher drängten näher heran. Die Luft vibrierte vor Erwartung. Herkules traf wieder wuchtig nahe am Auge, Robin setzte einen präzisen Schuss direkt unter die Iris, Wilhelm Tell platzierte seinen Pfeil elegant im äusseren Augenring.

 

Dann war Max an der Reihe.

 

Er schloss kurz die Augen. In seinem Kopf war plötzlich nicht mehr der Strand von Naples, sondern das 7. Loch seines Heimatplatzes. Windrichtung, Distanz, Schlagroutine.

 

„Es ist ein Drive“, sagte er leise zu sich selbst. „Nur eben mit Pfeil.“

 

Er atmete einmal tief durch, stellte die Füsse so hin, wie er es vor jedem Abschlag tat, hob die Arme, spannte den Bogen – und wartete einen Herzschlag länger als zuvor. Das Stimmengewirr um ihn herum rückte in den Hintergrund, das Meeresrauschen verschmolz mit dem eigenen Puls.

 

Dann liess er los.

 

Der Pfeil schoss los, schnurgerade, als hätte jemand eine unsichtbare Linie zwischen ihm und dem Auge des Hais gespannt. Für einen Moment schien die Welt stehenzubleiben. Selbst die Möwe in der Luft erstarrte.

 

Mit einem leisen, aber eindeutigen Plopp bohrte sich der Pfeil genau in die Mitte der gemalten Linse. Er vibrierte noch einen Moment, gefangen zwischen den Pfeilen von Herkules, Robin und Tell, und kam dann zur Ruhe.

 

Stille.

 

Dann brach der Strand in Jubel aus.

 

„Was? Ausgerechnet die Weisskugel?“ brummte Herkules ungläubig.

 

Robin zog respektvoll den Hut. „Willkommen im Club.“

 

Wilhelm Tell nickte, sehr schweizerisch. „Sauber gearbeitet“, sagte er nur.

 

Riff-Raff riss die Arme hoch, die Trillerpfeife zwischen den Zähnen. „We have a winner! Max aus dem Schwarzwald, Meister des Grüns – und jetzt auch Meister der Linse!“

 

 

Time Warp am Strand

 

Riff-Raff sprintete zur Anlage der Strandbar, riss ein Kabel aus einem Lautsprecher und steckte es in sein eigenes Gerät. Sekunden später dröhnten die ersten Akkorde der Time Warp-Nummer über den Strand.

 

„Kennt ihr alle, oder?“ schrie er ins Mikro. „It’s just a jump to the left!“

 

Die Musik war wie eine Welle. Zuerst begannen ein paar Jugendliche zu tanzen, dann eine Gruppe älterer Herrschaften in zu grossen T-Shirts, dann die Bogenschützen selbst.

 

Max, noch den Bogen in der Hand, konnte nicht widerstehen. Ein Sprung nach links, ein Schritt nach rechts, Hände an die Hüften, Becken dreimal nach vorn. Der Sand spritzte bei jedem Schritt, die Menge jubelte.

 

Herkules hüpfte, als stünde er auf rot glühenden Kohlen, und lachte wie ein Kind.

Legolas wirbelte so elegant, dass selbst die Möwen kurz leiser kreischten.

Katniss rief: „Ich tanze eigentlich nie!“ – und legte dann eine Performance hin, die jeden Casting-Juror zum Weinen gebracht hätte. Robin Hood nutzte den Tumult, um dem Barkeeper ein paar Münzen abzuluchsen, tanzte dabei aber überraschend gut.

Wilhelm Tell liess sich von Katniss anstecken, seine Schritte waren anfangs steif, wurden aber zunehmend lockerer. Hätte seine zurückhaltende Frau Hedwig ihn so gesehen – sie wäre blass geworden.

 

Der Strand verwandelte sich in ein einziges, wild zuckendes, lachendes, tanzendes Meer aus Menschen. Kein Line Dance im amerikanischen Sinn, sondern ein harter, treibender Beat, der den Puls höher jagte.

 

Max tanzte mit, als ginge es um sein Leben. Vielleicht tat es das auch.

 

 

Wieder zu Hause

 

Mit jedem Sprung schien der Sand weicher zu werden, die Musik dumpfer, die Stimmen ferner. Das Licht wurde blasser, der Horizont verschwamm. Max spürte, wie sich die Umgebung wieder aufzulösen begann – genau wie im Wohnzimmer kurz vor seinem ersten Sprung.

 

Er drehte sich ein letztes Mal, alles wurde zu einem Strudel aus Farben: blaues Meer, weisser Sand, goldene Pfeile, rote Bikinis, Katniss’ Lachen, Riff-Raffs Krächzen.

 

Dann: Stille.

 

Wärme. Knistern.

 

Max blinzelte. Er sass wieder in seinem gestreiften Fauteuil, im Wohnzimmer. Im Kamin glomm noch ein Holzscheit und tauchte den Raum in gemütliches Licht. Der Fernseher war stumm, das Bild zeigte die sonntägliche Sportschau, gerade wurde ein Bundesligator in Zeitlupe wiederholt.

 

Max atmete tief durch.

 

„Habe ich das alles… geträumt?“

 

Er wollte sich vom Sessel erheben – und hörte es leise rieseln. Etwas fiel von seinen Füssen auf den Teppich. Verwundert blickte er hinunter.

 

Zwischen seinen Hausschuhen lag ein Häufchen feiner, weisser Sand.

 

Und daneben, fast unsichtbar im Teppichmuster, eine winzige goldene Pfeilspitze.

 

Max bückte sich, hob sie auf und drehte sie im Licht des Kaminfeuers. Das Metall glitzerte, als hätte es soeben noch eine Karton-Hai-Linse durchschlagen.

 

Er lächelte.

 

„Na gut“, murmelte er. „Dann war das wohl nur der Anfang.“

 

Auf dem Bildschirm pfiff der Schiedsrichter gerade ein Spiel an. Max steckte die Pfeilspitze in die Tasche seines Golfjacketts.

 

Seine Zeit als einfacher Meister des Grüns war vorbei.

 

Die Abenteuer konnten beginnen.

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