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Max und die Senioren der Oberen Alp

  • thomasvonriedt
  • 17. Dez.
  • 5 Min. Lesezeit
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Auf einem abgelegenen Golfplatz hoch oben in den Alpen, dort, wo die Luft klar nach Harz und Heu roch und die Kühe wie gemächliche Zuschauer am Rand der Fairways standen, landete eines Tages Max, der Meister des Grüns. Er war schon viel herumgekommen in der Golfwelt, doch die „Obere Alp“ kannte er nur aus Geschichten – von steilen Abschlägen, engen Fairways und einem Klubhaus, in dem der Kuchen mindestens so wichtig war wie das Handicap.

 

Schon am ersten Tee bemerkte Max, dass hier etwas anders war als auf den Plätzen, die er sonst kannte. Kein gehetztes Getrappel zu Startzeiten im Fünf-Minuten-Takt, kein lautes Gehabe, keine Diskussionen über Schlägerloft und Ballkompression. Stattdessen: ein paar gemütliche Gestalten in bunten Polos, die an der Bank sassen, in die Berge schauten und offenbar keine Eile hatten.

 

„Das müssen sie sein“, dachte Max. „Die berühmten Senioren der Oberen Alp.“

 

Sie nannten sich selbst augenzwinkernd so – eine kleine, eingeschworene Truppe rüstiger Rentnerinnen und Rentner, die sich mehrmals die Woche trafen. Nicht, um Rekorde zu brechen, sondern um den Tag zu teilen. Golf war ihr Vorwand, Freundschaft ihr eigentliches Ziel.

 

Max rollte neugierig näher heran.

 

„Schaut mal, da kommt Verstärkung“, sagte einer mit wettergegerbtem Gesicht und einem Schiebermützchen, das schon bessere Tage gesehen hatte. „Ein Max-Ball, wenn ich das Muster richtig erkenne.“

 

„Wir können noch einen Max gebrauchen“, lachte eine Dame mit silbergrauen Locken. „Unser letzter Max ist nach Mallorca ausgewandert – wegen des Wetters.“

 

Die Senioren stellten sich nach und nach vor: Hans, der ehemalige Lehrer, der jeden Abschlag mit einem Sprichwort garnierte; Leni, die klein, präzise und auf dem Grün gnadenlos war; Kurt, früher Bergführer, heute eher „Rough-Spezialist“; und Marta, deren Lachen man schon drei Bahnen weiter hörte.

 

„Komm, Max“, sagte Hans und legte den Ball vorsichtig auf das Tee. „Heute spielst du bei uns. Aber eines gleich vorneweg: Wir kämpfen nicht ums Resultat. Wir kämpfen nur gegen schlechte Laune.“

 

Schon nach den ersten Schlägen merkte Max, wie entspannt es zuging. Keiner regte sich auf, wenn ein Ball im Rough verschwand. Statt Fluchen hörte man Sätze wie:

 

„Ach, dann kommt er halt das nächste Mal näher ans Loch,“

oder?

 

„Solange wir ihn wiederfinden, ist er nicht verloren – das gilt übrigens auch für Menschen.“

 

Zwischen den Schlägen blieb immer Zeit für einen Blick ins Tal, für einen Kommentar zum Wetter oder für eine kurze Erinnerung an früher.

 

„Siehst du die alte Lärche da drüben?“, fragte Kurt an Bahn 3, als Max im Semirough lag. „Da habe ich mal im Winter mit Skitouristen heruntergeführt. Einer hat sich vor Angst an den Baum geklammert – den mussten wir fast aus dem Stamm sägen.“

 

Er lachte, und die anderen lachten mit, obwohl sie die Geschichte schon kannten.

 

An Bahn 5, einem kurzen Par 3, erzählte Leni, wie sie mit 60 erst mit dem Golfen angefangen hatte.

 

„Früher hatte ich keine Zeit“, sagte sie, stellte sich ruhig an den Ball und schickte Max mit einem sanften Schlag direkt aufs Grün. „Kinder, Haushalt, Arbeit. Heute habe ich Zeit – aber die Knie machen nicht mehr alles mit. Also spiele ich nur noch neun Loch. Reicht vollkommen für ein gutes Gespräch.“

 

Hans wiederum nutzte jeden Abschlag für kleine Lebensweisheiten:

 

„Denk dran, Max“, sagte er, bevor er einen Drive leicht verzog, „im Leben wie im Golf: Man muss nicht immer in der Mitte landen. Hauptsache, man kommt vorwärts.“

 

Als sie über den Platz schlenderten – denn rennen wollte hier niemand –, spürte Max, wie sich seine Perspektive veränderte. Früher hatte er jede Runde an Ergebnissen gemessen, an Stableford-Punkten und persönlichen Bestleistungen. Hier oben, mit den Senioren der Oberen Alp, schien die Zeit sich zu dehnen. Jeder Schlag war eher Anlass zum Austausch als zur Selbstkritik.

 

In einer Spielpause am Abschlag von Bahn 7 setzten sie sich auf eine Bank mit Blick auf ein kleines Bergseeli.

 

„Weisst du, Max“, begann Marta und wickelte ihre Hände um die warme Thermoskanne, „irgendwann merkst du, dass die wichtigen Ergebnisse nicht auf der Scorekarte stehen. Sondern hier.“ Sie tippte sich an die Stirn – und ans Herz.

 

Hans nickte. „Früher habe ich meinen Schülern beigebracht, wie wichtig Noten sind“, sagte er. „Heute sage ich meinen Enkeln: Lernt die richtigen Menschen kennen. Das trägt weiter als jede Eins in Mathematik.“

 

Max lauschte. In den Dimples seiner Oberfläche sammelten sich Sonnenreflexe und halbe Erinnerungen. Er verstand: Diese Senioren spielten nicht, um der Jugend zu beweisen, dass sie noch mithalten konnten. Sie spielten, um sich selbst und einander treu zu bleiben.

 

Auf den letzten Bahnen wurde der Ton noch leichter. Es wurde über verpatzte Putts aus den 80ern gelacht, über alte Skiferien und darüber, wie man früher ohne Helm Velo gefahren war. Immer wieder tauchten aber auch stillere Momente auf: eine kurze Pause am Rand des Fairways, ein Blick ins Tal, ein Seufzer über Freunde, die nicht mehr mitspielen konnten.

 

„Für die spielen wir mit“, sagte Leni leise, als sie einen konzentrierten Putt versenkte. „Solange wir laufen können, kommen wir herauf. Und du, Max, bist ab jetzt unser Glücksball.“

 

Nach der Runde versammelte sich die Gruppe wie immer im Wintergarten des Clubhauses. Die Sonne stand tief und tauchte die Bergkette in ein warmes Abendlicht. Auf dem Tisch standen Apfelkuchen, Nusstorte und dampfender Kaffee. Später kamen noch ein Glas Rotwein und ein paar Geschichten „für nach neun Uhr“ dazu.

 

Max lag in der Mitte des Tisches, neben der Blumenvase und zwischen ein paar zerknitterten Scorekarten, die niemanden mehr wirklich interessierten.

 

Sie sprachen über frühere Berufe, über erste Autos, die nie angesprungen waren, über den ersten Flug in die Ferien und darüber, wie schnell aus „Wir gehen mal kurz in Rente“ ein neues, grosses Kapitel geworden war.

 

„Weisst du, Max“, sagte Kurt und strich mit einem Finger nachdenklich über die Kerben auf der Balloberfläche, „irgendwann siehst du jeder Delle und jedem Kratzer an, wo du schon überall warst. Bei Bällen und bei Menschen.“

 

Die anderen nickten. Es war still, aber keine schwere Stille – eher eine, die Platz liess zum Nachdenken.

 

Dann schob Marta Max ein kleines Stück weiter in Richtung Kuchenplatte. „Und vergiss eines nie“, sagte sie und lächelte verschmitzt. „Man kann das Leben ernst nehmen – oder ernsthaft geniessen. Wir hier oben haben uns für Letzteres entschieden.“

 

Gelächter, Gläserklirren, der Duft von frisch gebackenem Kuchen – und mitten drin Max, der nicht mehr nur „Meister des Grüns“ war, sondern auch so etwas wie das Maskottchen der Senioren der Oberen Alp. Ein kleiner, weisser Glücksbringer, der still zuhörte und alles speicherte, was an diesem Tisch erzählt wurde.

 

Als der Tag sich neigte und die Schatten länger wurden, rollte Max zum Fenster und sah hinunter auf den Platz. Die Senioren verabschiedeten sich, jeder auf seine Art: ein Schulterklopfen hier, eine Umarmung dort, ein „Bis nächste Woche, wenn die Knie mitmachen“.

 

Max fühlte sich seltsam leicht. Er hatte verstanden, dass es im Leben – und auf dem Golfplatz – nicht nur um sportliche Erfolge geht. Es geht um die Geschichten, die man unterwegs sammelt, um die Menschen, mit denen man sie teilt, und um die Fähigkeit, über einen missglückten Schlag genauso herzlich lachen zu können wie über einen gelungenen.

 

Die Senioren der Oberen Alp hatten an diesem Tag nicht einfach ein neues Maskottchen bekommen. Sie hatten Max gezeigt, dass Golf weit mehr ist als nur ein Sport – es ist eine Reise, die man am besten mit Freundschaft, Gelassenheit und einer Prise Humor spielt.

 

Und so rollte Max am Abend zufrieden über das stille Grün, während die Berge dunkelblau in den Himmel wuchsen. In seinen Dimples trug er nun nicht nur Grasflecken und Flugkurven, sondern auch eine Handvoll neuer Erinnerungen – und das stille Versprechen, bald wiederzukommen.

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