top of page

Max und der Gevatter

  • thomasvonriedt
  • vor 6 Tagen
  • 8 Min. Lesezeit
ree


Es war einer dieser Abende, an denen der Golfplatz wie vergessen dalag. Kein Motorengeräusch vom E-Cart, kein Lachen aus dem Klubhaus, nur das leise Rascheln des Windes im Rough und das monotone Klacken einer einsamen Fahne am 18. Grün.

 

Max, der Meister des Grüns, ruhte in einem kleinen Divot am Rand des Fairways. Er hatte viele Runden erlebt, glanzvolle Abschläge und jämmerliche Hooks, Jubel und Flüche. Seit Ravens Nest war etwas in ihm ruhiger geworden. Und doch spürte er an diesem Abend eine merkwürdige Spannung, als würde der Platz den Atem anhalten.

 

Der Himmel zog sich zu, ein grauer Vorhang schob sich vor die letzten Sonnenstrahlen. Da hörte Max Schritte. Langsame, schwere Schritte, die nicht zu einem eiligen Flight passten. Dann sah er ihn.

 

Am Tee der 1. Bahn stand eine Gestalt, in einen langen, dunklen Mantel gehüllt. Dort, wo andere ein Bag trugen, hing über seiner knochigen Schulter etwas, das wie eine Mischung aus Sense und Golfschläger aussah: ein gebogener, silbrig schimmernder Schaft, unten eine Schlagfläche, oben der angedeutete Griff eines Werkzeugs, das man lieber nicht zu genau betrachtete.

 

Der Tod war auf den Platz gekommen.

 

Max hätte sich zusammenrollen mögen, wenn Golfbälle so etwas könnten. Stattdessen blieb er still liegen und beobachtete. Der Tod trat aus dem Schatten, und zu Max’ Überraschung war seine Erscheinung weniger furchteinflössend, als er immer erzählt worden war. Ja, da waren die knochigen Hände, die leere Kapuze, aus der kein Gesicht, nur eine Ahnung von Tiefe zu sehen war. Aber da war auch etwas anderes – eine gelassene Ruhe, wie bei einem alten Marshall, der schon jede Art von Flight gesehen hat.

 

Der Tod blickte auf Max hinunter.

 

„Du musst Max sein“, sagte er mit einer Stimme, die klang, als wehte Wind durch einen alten Baum. „Man spricht von dir. Meister des Grüns, Bezwinger verfluchter Plätze.“

 

Max spürte, wie ein leises Kribbeln durch sein Inneres ging. „Wenn du gekommen bist, um mich einzulochen“, antwortete er, „wäre es nett zu wissen, ob es ein Par, ein Birdie oder ein schmutziges Doppel-Bogey wird.“

 

Der Tod lachte. Es war kein böses Lachen, eher ein trockenes, etwas rostiges Kichern.

 

„Immer diese Annahme“, sagte er. „Dass ich nur für das letzte Loch zuständig bin. Ich spiele auch Trainingsrunden, weisst du. Manchmal muss man sich den Platz anschauen, bevor man jemanden heimbringt.“

 

Er hob seinen… Schläger? Sense? – und deutete auf das Tee.

 

„Komm, Max. Eine Runde. Nur wir zwei. Achtzehn Löcher, kein Publikum, keine Scorekarte. Nur das Spiel.“

 

Max wusste, dass ihm die Wahl vermutlich ohnehin nicht zustand. Aber irgendetwas in dieser Einladung klang nicht nach Ende, sondern nach Gespräch.

 

„In Ordnung“, sagte er. „Aber du schlägst ab. Ich will sehen, wie der Tod seinen Drive setzt.“

 

 

Loch 1 – Der erste Schlag

 

Der Tod legte Max auf das Tee, stellte sich erstaunlich lehrbuchmässig an den Ball und holte aus. Kein übertriebener Schwung, keine Show. Nur ein ruhiger, kontrollierter Drive. Die Bewegung glich einer Sense, die durchs hohe Gras fuhr – fliessend, unvermeidlich.

 

Der Ball löste sich vom Tee, stieg in die dämmrige Luft, beschrieb eine perfekte Flugkurve und landete mitten im Fairway.

 

„Du hast Übung“, bemerkte Max, als er zur Ruhe kam.

 

„Ich habe Zeit gehabt“, antwortete der Tod und ging gemächlich den Ball an. „Unzählige Leben, unzählige Plätze. Die meisten meiner Begegnungen sind kurz. Viele zu kurz. Aber gelegentlich spiele ich eine ganze Runde.“

 

„Und wie ist dein Handicap?“, fragte Max.

 

„Unspielbar“, sagte der Tod trocken. „Du würdest die Zettel nicht mögen, auf denen meine Ergebnisse stehen.“

 

Sie gingen weiter das Fairway hinunter. Der Platz lag still, aber nicht feindselig. Der Tod schien den Weg zu kennen, als wäre er hier schon oft gegangen.

 

„Sag mir, Max“, begann er nach einer Weile, „wovor fürchtest du dich eigentlich? Vor mir? Vor dem letzten Schlag? Oder davor, dass deine Runden sinnlos gewesen sein könnten?“

 

Max dachte nach. „Ich glaube, ich fürchte mich weniger vor dir als vor einem schlechten Ende“, sagte er. „Vor einem Ball, der im Wasser verschwindet, ohne dass jemand merkt, was für eine Linie er hatte. Vor einer Geschichte, die keiner zu Ende erzählt.“

 

Der Tod nickte. „Viele fürchten sich nicht vor mir, sondern vor dem, was unerzählt bleibt.“

 

 

Loch 5 – Der Bunker

 

Am fünften Loch, einem kurzen Par 4, spielte der Tod einen riskanten Schlag über einen Bunker. Der Ball, überrascht von einer plötzlichen Böe, landete mitten im Sand.

 

„Aha“, sagte Max, „offenbar bist du nicht unfehlbar.“

 

Der Tod stellte sich an den Bunkerschlag. „Unfehlbar wäre langweilig“, meinte er. „Und es würde euch nichts lehren.“

 

Er setzte den Schläger hinter Max in den Sand, schlug auf – und Max schoss in einem hohen Bogen heraus, landete weich auf dem Grün und rollte in Richtung Fahne.

 

„Bunker sind interessant“, sagte der Tod, während sie dem Ball nachgingen. „Die meisten von euch geraten hinein und denken, das sei eine Strafe. Dabei ist es nur ein anderer Untergrund. Ihr könnt immer noch raus. Es braucht nur einen sauberen Schlag und ein bisschen Mut.“

 

„Und wenn man stecken bleibt?“, fragte Max.

 

„Dann probiert man es noch einmal“, sagte der Tod schlicht. „Solange ihr atmet, gibt es den nächsten Schlag. Ich komme erst, wenn keine Schwünge mehr in euch sind.“

 

Max schwieg einen Moment. „Also bist du kein Richter?“

 

Der Tod schüttelte den Kopf. „Ich bin kein Schiedsrichter, kein Kommentator und schon gar nicht der, der das Turnierprogramm schreibt. Ich bin nur der, der euch vom Platz begleitet, wenn eure Runde vorbei ist.“

 

Loch 9 – Das Wasser

 

Am neunten Loch lag ein grosser Teich vor dem Grün. Die Abenddämmerung spiegelte sich in der dunklen Oberfläche, die Fahne wackelte im frischen Wind.

 

„Hier sind viele Bälle geblieben“, meinte Max leise.

 

Der Tod nickte. „Ein Wasserhindernis erinnert euch daran, dass es Dinge gibt, die ihr nicht kontrollieren könnt. Böen, Nerven, eine minimale Fehlbewegung im Handgelenk – und schon seid ihr drin.“

 

Er legte Max auf das Tee. „Aber das Wasser ist nicht böse“, fuhr er fort. „Es ist nur da.“

 

Beim Schlag flog Max knapp über die Kante des Teichs, so tief, dass er das Gefühl hatte, das Wasser streife ihn an einem Dimple. Er landete kurz vor dem Grün.

 

„Und was“, fragte Max, als er zur Ruhe kam, „ist mit denen, die ins Wasser fallen? Sind sie verloren?“

 

Der Tod setzte sich neben den Ball, als hätte er alle Zeit der Welt.

 

„Verloren? Nein“, sagte er. „Nur woanders. Ihr seht nur die Oberfläche. Ihr nennt es ‚verlorener Ball‘, weil ihr ihm nicht mehr folgen könnt. Aber aus meiner Sicht…“ Er liess den Satz offen und blickte auf den dunklen Teich.

 

„Aus deiner Sicht?“, hakte Max nach.

 

„Aus meiner Sicht“, sagte der Tod, „ist jeder Ball, der ins Wasser fällt, an einem Punkt seines Weges angekommen. Nicht weniger wertvoll als der, der auf dem Grün zum Birdie gelocht wird. Ihr messt Wert in Ergebnissen. Ich eher in Geschichten.“

 

 

Loch 13 – Über Par

 

Je weiter sie spielten, desto weniger unheimlich wurde die Präsenz des Todes. Seine Schwünge waren ruhig, seine Kommentare knapp, aber nie verletzend. Er freute sich über gelungene Schläge nicht überschwänglich und ärgerte sich über schlechte nicht. Es wirkte, als sei ihm klar, dass der Score zweitrangig war.

 

Am dreizehnten Loch, einem langen Par 5, blieb Max nach dem dritten Schlag zu kurz im Semi-Rough liegen.

„Über Par“, brummte Max. „Nicht gerade meisterhaft.“

 

„Vielleicht“, sagte der Tod, „aber was hast du gelernt?“

 

Max dachte nach. „Dass ich den zweiten Schlag nicht so gierig hätte spielen sollen. Ein sicherer Lay-up wäre klüger gewesen.“

 

„Eben“, sagte der Tod. „Über Par heisst nicht: ‚Du bist schlecht.‘ Es heisst: ‚Hier gibt es etwas zu verstehen.‘ Wenn ihr jedes Loch im Leben mit Birdie spielt, lernt ihr weniger als bei einer ehrlichen 79 mit ein paar Doppel-Bogeys.“

 

„Und was ist mit denjenigen, die nie eine Chance bekommen, besser zu werden?“ fragte Max. „Den Bällen, die gleich beim ersten Schlag im Wald verschwinden?“

 

Der Tod schwieg eine Weile. „Auch die gehören zur Runde“, sagte er dann. „Nicht jede Geschichte ist lang. Aber jede ist vollständig – auf ihre Weise.“

 

 

Loch 18 letzter Putt?

 

Schliesslich standen sie am Abschlag der 18. Ein enger Korridor aus Bäumen, das Klubhaus in der Ferne, die Fahne im letzten Licht des Tages.

 

„Ist das jetzt…?“ Max brach ab.

 

„Das letzte Loch?“, vollendete der Tod. „Für heute, ja. Für dich? Wir werden sehen.“

 

Er schlug ab, sicher und ohne Spektakel. Max flog den Korridor entlang und landete in einer idealen Position. Ein zweiter Schlag brachte ihn aufs Grün. Der Tod trat an den Putt heran und legte den Schläger hinter Max.

 

„Hast du Angst, dass ich dich jetzt einlochen und nicht mehr herauslassen werde?“, fragte er.

 

„Etwas“, gab Max zu. „Aber weniger als zu Beginn der Runde.“

 

„Warum?“

 

„Weil ich verstanden habe“, sagte Max langsam, „dass du nicht der bist, der mich aus dem Spiel nimmt. Du bist der, der mit mir zum Ausgang geht, wenn es so weit ist. Der Platz gehört nicht dir. Er gehört auch nicht mir. Wir sind nur… Gäste.“

Der Tod lächelte – oder zumindest hatte Max das Gefühl, dass er lächelte.

 

„Gut beobachtet“, sagte er. „Also, Max, Meister des Grüns: Bist du bereit für diesen Putt?“

 

Max lauschte in sich hinein. Da war keine Panik, nur eine ruhige, klare Konzentration.

 

„Ja“, sagte er. „Aber ich wäre dir dankbar für ein ehrliches Ergebnis.“

 

Der Tod holte aus und stiess ihn an. Max rollte, glatt und gleichmässig, auf die Fahne zu. Kurz bevor er den Lochrand erreichte, hob ein leichter Windhauch das Fahnentuch, und ein winziger Grashalm lenkte seine Linie minimal ab. Max tanzte am Loch, schaute kurz hinein – und machte einen halben Kreis, um einen Fingerbreit neben der Kante liegen zu bleiben.

 

Stille. Dann lachte der Tod leise.

 

„Ein klassischer Lip-Out“, sagte er. „Die wohl eleganteste Art zu sagen: Bis jetzt nicht.“

 

Max atmete innerlich auf. „War das… Absicht?“

 

„Ich manipuliere keine Grüns“, antwortete der Tod. „Ich bin nicht der Greenkeeper. Aber manchmal denke ich, der Platz selbst hat eine Meinung. Und heute scheint er zu sagen: Deine Runde ist bislang nicht vorbei.“

 

Er hob Max auf, drehte ihn spielerisch zwischen seinen knochigen Fingern und setzte ihn behutsam neben das Loch zurück, an eine Stelle, von der aus er die Fahne und den Himmel sehen konnte.

 

 

Abschied in Harmonie

 

„Wirst du wiederkommen?“, fragte Max.

 

„Zu dir? Sicher“, sagte der Tod. „Zu jedem von euch. Aber nicht jede Nacht, nicht jede Runde. Ich habe genug zu tun. Und du hast offensichtlich noch ein paar Abschläge vor dir.“

 

„Was soll ich mit dem Rest meiner Runden machen?“, wollte Max wissen.

 

Der Tod sah über den Platz, der nun im Zwielicht lag. „Spiele bewusst“, sagte er. „Hör auf, nur die Scorekarte anzustarren. Schau auf den Flight, mit dem du unterwegs bist. Auf den Himmel über dir. Auf den Wind, der deine Flugbahn verändert. Und wenn du im Rough landest, dann erinnere dich an heute: Es ist nur ein anderer Untergrund, kein Urteil.“

 

Er machte ein paar Schritte rückwärts, und mit jedem Schritt schien sein Mantel dunkler, sein Umriss undeutlicher zu werden.

 

„Eine letzte Frage“, rief Max ihm nach. „Fürchtest du dich vor irgendetwas?“

 

Der Tod blieb stehen. „Nur vor Runden“, sagte er, „in denen jemand alles richtig gemacht hat – aber nichts gespürt. Leere Perfektion ist mir unheimlicher als jeder Fehlschlag.“

 

Dann hob er die Sense, als wäre sie ein Schläger, zum Gruss, und neigte leicht den Kopf.

 

„Wir sehen uns, Max“, sagte er. „Aber nicht heute.“

 

Mit diesen Worten löste er sich im Schatten der Bäume auf. Der Wind setzte wieder ein, die Geräusche der Nacht kehrten zurück. Irgendwo klirrte leise die Fahne am Mast.

 

Max lag am Rand des Lochs und sah zum Himmel, der zwischen den Wolken ein paar Sterne freigab.

 

Er dachte an Bunker und Wasser, an missglückte Schläge und perfekte Drives, an Ravens Nest und an die Runde mit dem Tod. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er keine Rastlosigkeit mehr, sondern eine tiefe, ruhige Freude.

 

„Also gut“, sagte er zu sich selbst. „Dann spielen wir eben weiter.“

 

Und als am nächsten Morgen ein früher Golfer seine Tasche schulterte, griff eine Hand zufällig nach einem Ball, der hell und unscheinbar zwischen anderen lag.

 

„Der hier“, murmelte der Golfer. „Der fühlt sich gut an.“

Max lächelte innerlich, als er in die Tasche glitt.

Die Runde ging weiter.

Kommentare


bottom of page