Max und der Fluch von Ravens Nest
- thomasvonriedt
- 17. Dez.
- 7 Min. Lesezeit

Eine fantastische Geschichte über Max, den Meister des Grüns, und seinen Kampf um die Befreiung des verwunschenen Golfplatzes Ravens Nest.
Wie es begann
Tief in einem abgelegenen Tal, umgeben von nebelverhangenen Wäldern und überwucherten Grabstätten, lag der verfluchte Golfplatz von Ravens Nest. Auf diesem von düsteren Mythen umrankten Gelände herrschte eine Stille, die mehr mit sich trug als nur die Abwesenheit von Geräuschen – etwas Unausgesprochenes, ein schweres, kaltes Warten.
Mitten auf einem der verwitterten Grüns steckte ein alter Golfschläger, wie eine verdrehte Fahnenstange: rostig, vom Wetter gezeichnet, der Griff längst ausgefranst. Über die Jahrzehnte war dieses merkwürdige Relikt zum Sinnbild des Fluchs geworden. Man erzählte sich, der letzte Besitzer habe versucht, mit einem letzten Schlag Ruhm zu erzwingen – und dabei etwas geweckt, das besser weitergeschlafen hätte.
Seit jener Nacht ruhte Max, der ambitionierte Golfball, auf diesem Platz. Einst war seine Oberfläche schneeweiss und glänzend gewesen, bereit für grosse Turniere. Doch seit vielen Jahren war er nicht mehr gespielt worden. Sein Glanz war stumpf geworden, und in der Einsamkeit hatte er ein Bewusstsein entwickelt, das mehr Fluch als Segen war. Sein lautloses Seufzen schien sich im Nebel zu verfangen und über die Hügel zu wehen. Niemand hatte den Mut, den Platz zu betreten – und niemand wollte das Schicksal von Max teilen.
Bis zu jener Nacht.
Ein gewaltiges Unwetter brach über Ravens Nest herein. Blitze zerrissen den Himmel, Donner liess die Hügel erzittern, und der Nebel wurde von sturmartigen Böen wie zerrissenes Tuch über den Boden gejagt. Inmitten dieser tobenden Elemente stand eine einsame Gestalt am Rand des verfluchten Platzes: Victor.
Victor war kein Held aus den Legenden, sondern ein Mensch mit zu vielen Fragen und zu wenig Antworten. Er kannte die Geschichten von Ravens Nest seit seiner Kindheit. Und er kannte auch seine eigenen Schatten – Fehler, Verluste, Schuld. In jener Nacht hatte er beschlossen, wenigstens einen Fluch zu brechen: den des Golfplatzes.
Mit einer Taschenlampe in der Hand und einem alten Bag über der Schulter betrat er Ravens Nest. Jeder Schritt auf dem vom Moos überwachsenen Fairway hallte unnatürlich laut. Das leise Wimmern, das der Wind zu tragen schien, wurde stärker, je näher er dem verfluchten Grün kam.
Max spürte Victor, lange bevor der erste Lichtstrahl ihn traf. Das monotone Trommeln der Regentropfen auf seiner stumpfen Hülle verstummte fast vor Erwartung. Als Victor näherkam, rollte Max, von einer unsichtbaren Kraft geführt, ein paar Zentimeter über das alte Grün – auf den Eindringling zu.
Victor hielt inne. Vor ihm lag ein einzelner Golfball, matt, aber von einer seltsamen, inneren Präsenz umgeben. Dahinter steckte der verwitterte Schläger im Loch, als hätte jemand mitten im Schwung aufgehört und alles einfach sich selbst überlassen.
Mit zitternden Händen ergriff Victor den Schläger. Irgendetwas in ihm flüsterte, dass es einen letzten Schlag brauchte. Einen einzigen, der all das beenden konnte. In einem Akt, der irgendwo zwischen Verzweiflung und Selbstaufopferung lag, legte er Max vor sich hin, holte aus – und schlug.
In dem Moment, in dem der Schläger auf Max traf, brach die Welt auseinander.
Ein grelles, unnatürliches Licht schoss über das Grün, der Boden bebte, und ein infernalisches Heulen fuhr durch den Nebel. Der alte Schläger zerbarst in Victors Händen, als wäre er aus Glas gewesen. Max schoss in einem hellen Lichtbogen in die Luft, für einen Sekundenbruchteil schien er zu leuchten wie ein kleiner Stern – und war dann verschwunden.
Der Donner verstummte. Der Regen ebbte ab. Nebel legte sich, als würde jemand ihn behutsam vom Platz heben. Eine unirdische Ruhe breitete sich aus.
Victor stand allein auf dem Grün, die Schlägerreste zu seinen Füssen. Max war fort. Der Fluch schien gebannt – oder doch nicht?
Die Legende von Max’ Rückkehr
Victor kehrte wie im Traum zum alten Klubhaus zurück. Seine Freunde, die ihn zu dieser waghalsigen Aktion angestachelt hatten, verstummten, als sie sein bleiches Gesicht und den zerbrochenen Schläger sahen. Niemand wagte es, Fragen zu stellen. In den Tagen danach sprach man hinter vorgehaltener Hand von „der Nacht, in der der Fluch brach“ – und gleichzeitig von einem merkwürdigen Unbehagen, das geblieben war.
Ravens Nest wurde nicht wiedereröffnet. Die Natur begann zwar, sich ihren Platz zurückzuerobern, doch niemand fühlte sich bereit, zwischen den Grüns spazierenzugehen, als sei nichts geschehen. Stattdessen wuchs die Geschichte – und mit ihr die Legende von Max, dem Golfball, der im Licht verschwunden war.
Jahre vergingen.
Eines stürmischen Abends, als die Bewohner der umliegenden Dörfer die Fensterläden schlossen und das Feuer im Kamin höher drehten, rollte der Nebel erneut von den Hängen herab. Diesmal schien er zu glimmen – als würde jemand hinter einem Vorhang aus Dunst ein Licht an- und ausschalten.
Ein paar Mutige wagten einen Blick nach draussen. Was sie sahen, raubte ihnen den Atem: Über das alte Fairway von Ravens Nest schwebte ein kleines, silbernes Leuchten. Es bewegte sich nicht wie ein Mensch, nicht wie ein Tier – es rollte. In gleichmässigen Bögen, als würde es eine unsichtbare Bahn spielen. Wo es vorbeikam, schien der Nebel kurz aufzureissen und dann noch dichter zu werden.
Man flüsterte, Max sei zurückgekehrt.
Fortan erzählte man sich, der ehrgeizige Golfball sei nicht mehr nur ein Gefangener des Fluchs, sondern ein suchender Geist. Er suche keinen simplen Spielpartner mehr, sondern einen Verbündeten – eine Seele, die bereit sei, mit ihm den Weg zur endgültigen Erlösung zu gehen.
Doch etwas war falsch gelaufen.
In den Nächten, in denen das Licht über die Grüns zog, verschwanden bisweilen Menschen, die dem Ruf von Ravens Nest gefolgt waren – junge Draufgänger, alte Sturköpfe, ein paar, die einfach zu neugierig gewesen waren. Man fand ihre Autos am Rand des Tals, ihre Spuren im Tau – und dann nichts mehr. Es hiess, der Nebel habe sie verschluckt. Manche sagten, Max habe sie tiefer hineingeführt, als er je gewollt hatte. Andere behaupteten, der Fluch halte sich nun an denen fest, die freiwillig gekommen waren.
Victor hörte diese Geschichten. Jedes Mal zog sich etwas in seiner Brust zusammen. Er hatte den Fluch nicht gebrochen – er hatte ihn verändert.
Victor stellt sich der Wahrheit
Die Jahre vergingen, und Ravens Nest geriet langsam wieder in Vergessenheit. Nur an besonders stürmischen Abenden, wenn der Nebel schwer im Tal lag, sprachen die Alten in den Dorfstuben leiser. Dann erzählte man sich von dem leuchtenden Ball, der über die verfallenen Grüns rollte, und von den Spuren, die im Nichts endeten.
Eines Abends, lange nach der ersten stürmischen Nacht, sass Victor mit alten Freunden in einer Kneipe. Der Fendant war billig, die Stimmung laut, und irgendwann fiel – wie immer – das Stichwort: Ravens Nest.
„Du hast den Fluch doch gebrochen, oder?“ fragte einer.
„Komisch“, sagte ein anderer, „für einen gebrochenen Fluch verschwinden da noch erstaunlich viele Leute.“
Es war, als würde jemand einen alten, rostigen Nagel in Victors Gewissen drehen. Eine Mischung aus Scham, Wut und Müdigkeit stieg in ihm auf.
„Ich geh da noch einmal rauf“, sagte er plötzlich. „Allein. Heute Nacht.“
Die Runde verstummte. Dann folgte das übliche Lachen, dass jemand macht, wenn er hofft, es sei ein Witz. Aber Victor stand auf, bezahlte und trat hinaus in den windigen Abend.
Der Weg hinauf nach Ravens Nest war vertraut und fremd zugleich. Der Nebel schien ihn zu erwarten. Dieses Mal kam Victor ohne Bag und ohne Schläger – nur mit einer Taschenlampe und dem festen Vorsatz, nicht mehr davonzulaufen.
Als er das alte Grün erreichte, sah er ihn: den verwitterten Schläger, der wieder – oder immer noch – kopfüber im Loch steckte, als hätte er nie den Platz verlassen. Der Nebel waberte um ihn herum wie eine lebendige Erinnerung.
„Also doch nicht gebrochen“, murmelte Victor. „Nur auf Pause gestellt.“
Er trat näher, legte die Hand um den kalten Schaft und riss den Schläger mit einem kräftigen Ruck aus dem Boden. In diesem Augenblick wurde es im Tal so still, dass selbst der Wind zu lauschen schien.
Über dem Loch erschien ein kleines, helles Leuchten. Es pulsierte, als würde etwas tief darin atmen. Victor wich einen Schritt zurück.
Vor seinen Augen nahm das Licht Gestalt an: die Umrisse eines Golfballs, klarer und schöner, als es ein echter Ball je sein könnte. Max. Nicht mehr stumpf, nicht mehr gezeichnet, sondern in einem hellglänzenden Gewand, als bestünde er aus Mondlicht.
Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Victor hatte das Gefühl, jemand danke ihm – ohne Worte, nur mit einer Art warmem Druck in seiner Brust.
Dann schoss Max, der ambitionierte Golfball, in den Himmel. Immer höher, bis er nur noch ein Punkt war, dann ein Funken, dann nichts mehr.
Im selben Moment löste sich der Nebel. Nicht abrupt, sondern wie ein Tuch, das sanft zurückgezogen wird. Die Luft roch nach nassem Gras und Erde, nicht mehr nach abgestandener Angst. Der Wind trug kein Wimmern mehr, sondern nur sein eigenes leises Rauschen.
Der Fluch von Ravens Nest war gebrochen.
Max findet Frieden
In den Monaten danach veränderte sich das Tal. Moos und Gestrüpp wichen langsam gepflegten Wegen, die Grüns wurden wieder sichtbar, und auf den Fairways spross frisches Gras. Ein paar Mutige schlugen die ersten Bälle – zögerlich, oft mit einem Blick über die Schulter. Doch nichts Übernatürliches geschah.
Der alte, verwitterte Schläger, einst Symbol des Fluchs, wurde in einer kleinen Zeremonie am Rand des Fairways begraben. Nicht aus Aberglauben, sondern als Zeichen dafür, dass manche Geschichten besser im Boden ruhen.
Man begann, den Platz vorsichtig wieder zu bespielen. Erst waren es nur Einheimische, später kamen neugierige Gäste. Ravens Nest wandelte sich – langsam, aber unaufhaltsam – von einem Ort des Schreckens zu einem Ort der Erholung. Die düsteren Legenden wurden zu Lagerfeuergeschichten, die man mit einem Augenzwinkern erzählte.
Nur eine Figur blieb in den Erzählungen lebendig: Max, der ambitionierte Golfball.
Mit der Zeit veränderte sich sein Bild. Aus dem ruhelosen Geist wurde ein stiller Hüter. Man sagte, er sei nun eins geworden mit dem Platz, mit dem Gras, dem Wind, den Bäumen. Manche schworen, in besonders ruhigen Nächten ein sanftes Rollen im Tau zu hören, obwohl kein Spieler unterwegs war. Andere behaupteten, dass ein knapp missratener Putt auf wundersame Weise doch noch ins Loch fiel, wenn man auf Ravens Nest mit aufrichtigem Herzen spielte.
Die Menschen begannen, Max als eine Art Schutzpatron zu sehen – nicht furchteinflössend, sondern versöhnlich. Seine Geschichte wurde zu einer Legende der Erlösung: Ein Ball, der nicht ruhen konnte, bis der Fluch gebrochen war, und der am Ende Frieden fand – für sich und für den Platz.
Ravens Nest war nicht mehr der Ort, an dem man sich vor stürmischen Nächten fürchtete, sondern der, an den man zurückkehrte, wenn man Ruhe suchte. Und manchmal, wenn der Wind leise durch die Bäume strich und das Fahnentuch an Loch 18 sanft flatterte, hätte man schwören können, ein leises, zufriedenes Kichern zu hören.
Als würde irgendwo auf dem Grün ein kleiner Golfball denken:
So. Jetzt ist gut.










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