Max im Piemont
- thomasvonriedt
- vor 7 Tagen
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Max, der Meister des Grüns, erlebte eine unerwartete Metamorphose, als er sich eines frühen Herbstmorgens – noch leicht benommen vom Nachtflug – plötzlich nicht mehr in der kühlen Caddy Box, sondern in der weichen Dunkelheit eines Bennington Bags wiederfand. Das leise Rumpeln unter ihm verriet: Er war unterwegs. Wohin, das wusste er nicht.
Erst als der Reissverschluss mit einem satten „Zzzzip“ geöffnet wurde, fiel warmes Licht auf seine weisse, leicht vernarbte Oberfläche. Vor ihm lag kein vertrautes heimisches Fairway, sondern eine Landschaft, die aussah, als hätte jemand ein Postkartenmotiv über die Hügel gegossen: sanfte Wellen aus Weinreben, dazwischen silbergraue Olivenbäume, Haselnussbüsche und ferne Dörfer mit roten Ziegeldächern, die wie hingestreut auf den Kuppen sassen.
„Benvenuto in Piemonte, Max“, sagte eine sonore Stimme. Eine Hand nahm ihn behutsam aus der Tasche. „Hier beginnt heute dein Dolce-Vita-Handicap.“
Der Sprecher hiess Gino, und er war einer von ihnen – den Grappisti. So nannte sich eine kleine, eingeschworene Gruppe von Senioren, die jedes Jahr für ein paar Tage aus dem Alltag ausbrachen, um die Hügel rund um Cherasco unsicher zu machen. Ihr Lebensmotto war einfach und kompromisslos: Golf spielen, noch besser essen und niemals schlechten Wein trinken.
Die Grappisti waren bekannt für ihre Liebe zu erlesenem Rebensaft, zu den kulinarischen Köstlichkeiten Italiens, zu ihrem oft etwas chaotischen Golfspiel – und für ihre Fähigkeit, aus jedem Augenblick ein Fest zu machen. Man hatte schon gehört, sie hätten einmal ein Clubturnier in eine improvisierte Modenschau verwandelt, nur weil der Kellner zufällig eine rote Fliege trug.
Heute hatten sie einen Ehrengast: Max, den wanderlustige Golfball.
Ein anderes Spiel
Nachdem Max aus der Enge seines Bags befreit worden war, rollte er neugierig über den Abschlag von Tee 1. Rechts und links säumten Reihen von Nebbiolo-Reben den Hang, dazwischen dufteten Haselnussbüsche der Sorte Tonda Gentile. Die Sonne stand noch tief, tauchte alles in warmes Gold und versprach einen jener piemontesischen Tage, an denen man beinahe vergessen konnte, dass es ausserhalb der Hügel überhaupt eine Welt gab.
„Max, mio amico“, sagte Paolo, der älteste der Grappisti, und klopfte behutsam mit dem Schläger an seine Dimples, „hier spielen wir ein wenig anders als bei euch daheim.“ „Anders, wie?“, hätte Max gerne gefragt, doch als Golfball musste er sich mit einem innerlichen Augenrollen begnügen.
Die vier Senioren – Gino, Paolo, Carlo und Ruedi – stellten sich auf wie für ein Texas Scramble. Statt aber Bälle abzuschlagen, holte Gino aus einem Korb kleine Traubenbündel hervor und verteilte sie.
„Regel Nummer eins unseres Spiels“, erklärte Carlo feierlich, „kein Schlag ohne anschliessenden Schluck. Regel Nummer zwei: Wer eine Traube fallen lässt, muss Max küssen. Regel Nummer drei…“
„…werden wir unterwegs neu erfinden“, ergänzte Ruedi und alle lachten.
Sie hatten ein eigenwilliges Spiel entwickelt, eine Mischung aus Bocce, Weinlese und Golf: Auf dem Fairway standen in verschiedenen Abständen Weingläser auf kleinen Holzpodesten. Die Grappisti versuchten, die Traubenbündel mit möglichst viel Gefühl in die Gläser zu „chippen“. Wer traf, durfte das Glas leeren. Wer knapp vorbeizielte, musste laut „Mamma mia“ rufen und bekam tröstend einen Schluck aus der Reserveflasche.
Max wurde bald in dieses Ritual eingebunden. Immer wieder setzten sie ihn als Zielmarke neben die Gläser, und wenn jemand besonders knapp traf, rollte Max wie von Zauberhand ins Glas hinein. Nach dem dritten geglückten Kunststück ernannten ihn die Grappisti offiziell zum Ehrenball des Piemont. Jemand setzte ihm einen improvisierten Hut aus Weintrauben auf – zwei Traubenstränge links und rechts, eine in der Mitte – und erklärte ihn zur „neuen Gallionsfigur des Genuss-Golfs“.
Der Golfplatz verwandelte sich in wenigen Löchern in eine lebendige Weinparty. Zwischen den Schlägen erzählten sie einander Geschichten von früher: von verlorenen Turnieren, gewonnenen Herzen, verpatzten Putts und grossartigen Flaschen, die die Wunden wieder geheilt hatten. Max hörte zu, so gut ein Ball eben zuhören kann, und stellte fest, dass manche Fehlschläge auf dem Fairway in der Erinnerung fast schöner wurden als perfekte Runden.
Im Reich des Barolo
Am frühen Nachmittag rollte die kleine Gesellschaft – dieses Mal in E-Carts – den Hügel hinunter zu einem renommierten Weingut. Die Luft roch nach feuchter Erde, nach Herbstlaub und einem Hauch Trüffel, der sich aus den nahen Wäldern herüberstahl.
Der Hausherr, ein schlanker Winzer mit tiefen Lachfalten, begrüsste sie mit einem Händedruck, der Max beinahe aus Ginos Hand hätte rollen lassen.
„Benvenuti. Heute zeige ich euch, warum man Barolo nicht trinkt, sondern mit ihm spricht“, sagte er.
Sie stiegen die schmalen Stufen in den kühlen Weinkeller hinab. Übermannshohe Eichenfässer aus bestem französischem Holz reihten sich wie schlafende Riesen aneinander. Die Luft war schwer vom Duft des fermentierenden Weins – eine Mischung aus dunklen Beeren, Holz, einem Hauch Vanille und etwas, das an alte Bücher erinnerte.
Max wurde vorsichtig auf einem Fass platziert und lauschte. Der Winzer erklärte, wie aus Nebbiolo-Trauben, Geduld und ein bisschen sturem piemontesischem Stolz der König der Weine entstehe. Die Grappisti nickten ernsthaft, stellten erstaunlich fachkundige Fragen und stritten sich leise darüber, ob der Jahrgang 2016 nun wirklich besser sei als 2013.
Bei der anschliessenden Degustation wurden Gläser geschwenkt, Farben geprüft und Aromen gesucht.
„Rosen“, meinte einer.
„Teer“, warf ein anderer ein.
„Ich rieche Golfplatz im Nebel“, sagte Ruedi, und sie lachten, bis ihnen die Tränen kamen.
Max lag inzwischen gemütlich in einer Holzschale zwischen zwei Flaschen und fühlte sich, als sei er vom nüchternen Sportgerät zum stillen Zeugen eines uralten Rituals geworden.
Acht Gänge und ein „il conto“
Am Abend versammelten sich alle in einem kleinen Gourmetrestaurant im Dorf. Der Speisesaal war schlicht, die weissen Tischdecken makellos, die Weingläser gross genug, um darin kleine Welten zu spiegeln. Die vier Kollegen, ihre Frauen und Max – der diskret in der Mitte des Tisches lag – erwarteten das grosse Finale des Tages.
Die Küche schickte, was sie zu bieten hatte:
Feine Vitello-Tonnato-Scheiben, zarte Tajarin mit Butter und Salbei, Risotto mit Barolo, geschmorte Rindbäckchen, Käse aus den Alpen, ein Dessert mit Haselnüssen, das wie eine Hommage an die umliegenden Hügel schmeckte. Zu jedem Gang ein anderer Wein, sorgfältig erklärt vom Sommelier, der gelegentlich liebevoll zu Max hinüber schielte, als wolle er prüfen, ob auch der Ehrengast zufrieden war.
Das kulinarische Erlebnis erreichte seinen Höhepunkt mit einem goldschimmernden Grappa, der mit seiner Wärme bis in die Fingerspitzen kroch und alle Gespräche eine Nuance weicher machte. Man lachte, sang, jemand versuchte sich an einem italienischen Schlager, und für einen Moment schien es, als könnte die Zeit in diesen vier Wänden einfach stehenbleiben.
Dann kam, unausweichlich, der Moment des „il conto“.
Der Kellner legte eine kleine, lederne Mappe auf den Tisch, als handle es sich um ein Staatsgeheimnis. Auf einmal waren alle sehr interessiert an ihren Servietten, an der Deko oder an dem, was draussen im Dunkeln an Autos vorbeifuhr.
„Also gut“, sagte schliesslich Gino, griff zur Mappe und öffnete sie. Die Zahl darin war beeindruckend. Barolo und acht Gänge schrieben ihre eigene Sprache, und sie bestand nicht aus kleinen Ziffern.
„Ruhig, ragazzi“, meinte Paolo und zog eine zweite Mappe aus seiner Jacke – eine, die aussah wie eine altmodische Scorekarte. „Wir teilen das wie ein Stableford-Ergebnis: jeder nach Handicap und Trinkfestigkeit.“
Es wurde gerechnet, gelacht, nachverhandelt und am Ende grosszügig bezahlt. Niemand wollte, dass der Tag mit kleinlichen Diskussionen endete. „Wir investieren in Erinnerungen“, meinte einer der Grappisti, und damit war alles gesagt.
Die Runde löste sich nur langsam auf. Noch lange sass man auf der Piazza vor dem Restaurant, die Jacken über die Schultern gelegt, Gläser in der Hand. Irgendwo spielte jemand leise auf einer Gitarre. Die Luft war mild, der Himmel klar, und Max lag in der Mitte des Tisches, den Traubenhut mittlerweile leicht verrutscht, und betrachtete die Sterne, die hier ein wenig heller zu leuchten schienen als anderswo.
Ein Golfball lernt Dolce Vita
Als die ersten Sonnenstrahlen am Horizont auftauchten und die Ziegeldächer in zartes Rosa tauchten, stand die kleine Gesellschaft auf. Umarmungen, Versprechen für das nächste Jahr, letzte Witze über Handicap, Hüftgelenke und Barolo-Jahrgänge wurden ausgetauscht.
Gino hob Max ein letztes Mal hoch, betrachtete ihn und sagte: „Du bist kein normaler Ball, Max. Du bist jetzt einer von uns. Ein Grappista.“
Max, der ambitionierte Golfball, fühlte sich plötzlich weniger als ein präzises Sportgerät und mehr wie ein kleiner, runder Zeuge eines wunderbaren Exzesses aus Golf, Wein und Freundschaft. Die Zeit mit den Grappisti hatte seine Perspektive erweitert. Er hatte gelernt, dass ein perfekter Drive nicht das Einzige ist, was zählt – manchmal ist ein schiefer Schlag, gefolgt von einem herzlichen Lachen und einem guten Glas Wein, näher dran am Glück.
Als er zurück in den Bennington Bag gelegt wurde, fiel ein letztes Stückchen getrocknete Traube von seinem Hut. Max lächelte innerlich.
Die Hügel des Piemont glitten langsam aus seinem Blickfeld, doch der Duft von Barolo, Haselnüssen und gegrilltem Fleisch blieb in seiner Erinnerung. Und irgendwo zwischen Cherasco und Barolo wussten die Grappisti jetzt, dass man das Leben nicht nur in Metern und Stableford Punkten messen kann – sondern auch in gemeinsam geleerten Flaschen und Geschichten, die man immer wieder gerne erzählt.
Max war sicher: Auf ihn warteten noch viele Runden. Aber diese eine, in den Weinbergen des Piemont, würde immer ganz vorn auf seiner persönlichen Scorekarte stehen.










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