Livingstone am Tierspital in Züri
- thomasvonriedt
- 25. Nov.
- 8 Min. Lesezeit

oder wie Retos Gummistiefel für die Nachwelt erhalten blieben.
Der Reto
In den letzten Tagen las ich einen Artikel über Angst, Phobien und den Umgang damit. Es wurde sogar berichtet, dass „öisä Fernseh-Äschbi“ unter Höhenangst gelitten habe. Als Reaktion darauf meldete er sich, ohne zu zögern, für einen Tandemsprung aus 4000 Metern Höhe zusammen mit einem erfahrenen Trainer an. Die Angst besiegte er erfolgreich.
Auf der nächsten Seite berichtete die Tageszeitung über das besorgniserregende Ansteigen häuslicher Gewalt. Als ich später erneut über das Thema Angst nachdachte, erinnerte ich mich an Reto, einen Schulkollegen von der Winterthurerstrasse.
Eigentlich hiess er Reto Donatsch und hatte eine kräftige Statur. Er war einer, den man gerne im Völkerball oder beim Prügeln in seinem Team hatte. Zu Hause sprach er Romanisch. Heute weiss ich, dass „Donatsch“ nichts mit «Totsch» zu tun hat und seine Familie aus dem Bündnerland kam.
Die Leute, die direkt an der Winterthurerstrasse wohnten, hatten es nicht leicht. Die Strasse war laut, und die Häuser waren sehr einfach, meistens vier bis sechs Stockwerke hoch und fast wie Kasernen gebaut. Sie bildeten eine natürliche Barriere zwischen der belebten Strasse und dem dahinter liegenden, beschaulichen Quartier, das sich bis zur Frohburgstrasse erstreckte. Die Wohnungen waren winzig, drei Zimmer waren die Norm, und meist mussten sich mehrere Kinder ein Zimmer teilen.
Bad und WC befanden sich in einem engen, fensterlosen Raum. In der Küche gab es häufig noch einen Spülstein aus Stein (den Schüttstein), und falls es einen Kühlschrank gab, bot er gerade genug Platz für Butter und einige wenige Lebensmittel. Der Besen- und Kleiderschrank waren im Flur eingebaut und beherbergten Vaters Hut und Mantel, Mutters kostbarsten Besitz und einige andere Dinge der Eltern. Die Windjacken der Kinder hingen bei den meisten Leuten an Haken an der Wand.
Retos Vater war als Wüterich bekannt und berüchtigt. Ich denke, er war alkoholabhängig. Damals konnte man noch häufig Bierflaschen vor der Wohnungstür oder im Keller gestapelt sehen. Auch auf dem Bau wurde viel getrunken, und wir sammelten die Flaschen, um das Pfand einzulösen. Wir wussten, dass man sich vor dem Vater in Acht nehmen musste.
Die damalige Erziehung war auf Gehorsam ausgerichtet, denn der Mann war das Oberhaupt der Familie. Väter waren einfach die Könige; sie konnten alles, wussten alles und durften alles befehlen. Wenn nötig, brüllten sie auch herum.
Es war nicht ungewöhnlich, dass wir uns gegenseitig erzählten, wie unsere Eltern uns manchmal mit dem Teppichklopfer, dem Gürtel oder einfach mit der Hand bestraften. Keller wurden als Strafräume genutzt, und Hausarrest war üblich – es gab nichts, was es nicht gab.
Neben Reto gab es auch noch den Edeli, eigentlich Edi, einen kleinen, wendigen Jungen mit blasser Haut, und den Bobo von der Murwiesen sowie einige andere. Edeli wurde Jahre später bekannt unter den Jugendlichen, weil er früh Gauloises rauchte und das schnellste Moped, eine VeloVap, in der Umgebung besass. Reto und ich waren Mitglieder der Wolfstruppe „Major Tavel“ und trugen stolz echte englische Gummistiefel und Pfadi-Dolche mit Sägevorrichtung.
Das Leben war ein Abenteuer, und wenn man so nah am Wald lebte, war man immer auf der Suche nach neuen Abenteuern. Wir kämpften gegen feindliche Indianer oder Ritter, manchmal auch gegen den Gessler. Wir bauten Baumhäuser mit Seilen und Hunderternägeln, die wir auf Baustellen fanden, und stauten den Bach, bis er die Frohburgstrasse überschwemmte. Nur Schulaufgaben und der Zimmerarrest hielten uns zu Hause. Mädchen waren nett, aber wir brauchten sie nur, um Essen zu organisieren. Kurz gesagt, es war eine grossartige Zeit, und uns wurde nie langweilig.
Am Fluss Kongo
Die neueste Attraktion in unserer Kinderwelt war die Grossbaustelle des geplanten Tierspitals der Universität Zürich. Erste Baugruben waren bereits von riesigen Eisenmonstern ausgehoben worden. Die grössten Baumaschinen kamen aus Amerika; einige davon trieben Eisenpfähle in den Boden. Es herrschte reger Verkehr von Fahrzeugen, Waren und Menschen.
Für uns Lausbuben im Alter von acht bis zehn Jahren war es ein wahres Paradies für Mutproben und Beschaffungsaktionen. Wir hatten ständig Bedarf an Nägeln, Seilen und Brettern. Kupferkabel waren begehrt, um daraus Agraffen herzustellen. Mit diesen Agraffen konnten wir die Pfister-Boys von jenseits der Winterthurerstrasse effektiv in Schach halten. Es schmerzte schrecklich, wenn eine Agraffe auf den Oberschenkel traf.
Der Edeli war absolut schwindelfrei; er konnte auf die Kräne klettern wie ein Affe, während wir uns sehr überwinden mussten. Ich glaube, Edeli wäre sogar auf den Ausleger geklettert und hätte oben herumgetanzt. Dabei fühlten wir uns jedoch äusserst unwohl, und schliesslich konnten wir ihn überreden, herunterzukommen. Dann stand er da, die Hände in den Taschen seiner blauen Hose aus Manchester-Stoff, und sagte: „Das war ja gar nichts“, und genoss die Aufmerksamkeit.
Der Reto war von Natur aus ein ruhiger Junge, kräftig und oft in sich gekehrt, aber er war immer dabei. Ich denke, er hatte mehr Talente, als wir damals erkannten; vielleicht lag es daran, dass die Dinge in seiner Familie zu Hause nicht ganz in Ordnung waren.
Eines Tages waren wir wieder unterwegs, auf einer Expedition durch die Sümpfe im schwarzen Afrika. Der Kongo, ein riesig breiter Strom, sollte besonders wasserreich sein und links und rechts seines Bettes verheerende Überschwemmungen verursachen. Grosse Teile des Landes waren daher dauerhaft feuchtheisse Sümpfe, gefährlich wegen der Schlangen und Krokodile. Wir mussten durch sie hindurch, um die goldene Stadt zu finden.
Zuerst kämpften wir uns durch den Dschungel (das Unterholz vor der Grossbaustelle), indem wir den Weg mit unseren Macheten (Holzschwertern und Taschenmessern) von den zahlreichen Lianen und stacheligen Büschen freimachten. Dann mussten wir die von Skorpionen verseuchten Steilwände (Bauabsperrungen) mit unseren Seilen überwinden und uns auf der anderen Seite lautlos im hohen Gras verstecken.
In der trockenen Steppe gab es Zyklopen (Sicherheitsleute und Vorarbeiter), die den Weg zur goldenen Stadt versperrten. Hunderte von Metern mussten wir auf dem Bauch kriechen; dann und wann konnten wir uns auch hinter einem Felsbrocken (Bauwagen oder Holzstapel) verstecken, und schliesslich standen wir vor dem Sumpf.
Der Sumpf blubberte aufgrund des vulkanischen Untergrunds und sah eklig klebrig aus (Baustelle mit Lehmschlamm), und für uns schien er unüberwindbar zu sein. Wir hatten keine Kanus dabei, keine einheimischen Träger, wir waren erschöpft und suchten nach einem sicheren Weg. Die uns zur Verfügung stehenden Bretter reichten nicht aus, um den Sumpf (die Grube) zu überqueren.
Uns blieb nichts anderes übrig, als den unsicheren Weg durch den Sumpf zu nehmen – eine Brutstätte von Blutegeln und anderen grässlichen Tieren. Unsere Lanzen (Stöcke aus Haselnussholz) mussten als Sondier Stäbe dienen, die Ausrüstung wurde auf unseren Rücken geschnallt, und los ging es.
Der Reto war unser Sir Livingstone, er hatte das Buch über dessen Reisen in der Schulbibliothek ausgeliehen und war völlig begeistert. Dabei war es Nebensache, dass Livingstone eigentlich am Sambesi unterwegs gewesen war. Livingstone-Reto machte sich auf den Weg, den Sumpf zu durchqueren. Vorsichtig bewegte er sich über den unsicheren Boden, und wir folgten ihm, immer in die gleiche Spur tretend wie die Indianer in Karl Mays Geschichten.
Jedes Mal, wenn wir in den Schlamm traten, gab es ein an Furz erinnerndes Geräusch, und beim Herausziehen des Fusses hörte es sich saugend an, und der Abdruck im Schlamm füllte sich schnell mit brackigem Wasser. Der Kongosumpf war äusserst tückisch, und wir mussten auf der Hut vor Krokodilen oder Zyklopen sein.
Wer ins Wasser fiel, war verloren, erklärte Livingstone. Er würde von scharfen Zähnen zerrissen, von Blutegeln ausgesaugt, das Wasser würde in seine Lunge laufen, und er würde qualvoll ertrinken. Livingstone war vollkommen konzentriert, und wir anderen folgten vorsichtig. Dann und wann mussten wir uns ducken, wenn einer dieser Zyklopen am Horizont auftauchte und nach Eindringlingen suchte, ohne Gnade.
Livingstone zeigte mit seinem Stock auf den Schlamm und erklärte, dass das Wasser wohl über 100 °C heiss sei, man könne hier sogar Eier kochen. Die Zyklopen bräuchten Spiesse, um ihre Opfer über dem heissen Dampf zu braten. Von Zeit zu Zeit sahen wir uns um, steckten unsere Stöcke in den Boden für besseren Halt und schritten zügig voran. Ein Schritt nach dem anderen – und plötzlich gab der Boden nach.
Reto (Livingstone) in Not
Livingstone versank langsam in dem grauenhaften Sumpf, der gierig und schmatzend versuchte, ihn zu verschlingen. Der schwarzgraue Schlamm erreichte bereits seine Knie, und er sah nur noch ein grauenvolles Ende vor sich. Was würde aus seinen Gefährten werden? Seine Mutter würde Tränen vergiessen, die ganze Nation würde trauern.
Er blickte sich ängstlich um, ob die riesigen Krokodile oder Zyklopen ihn entdeckten, während wir uns bereit machten, um Livingstone zu retten. Zum Glück kamen keine Krokodile und keine Zyklopen. Plötzlich wirkte Livingstone viel jünger. Sein Tropenhut war verschwunden, ebenso sein Schnauzbart, und in seinen Augen schienen Tränen zu stehen.
Aus Livingstone wurde wieder der Reto, und er begann wirklich zu heulen und zu schluchzen. Der Dschungel verschwand, der Sumpf war weg, und ganz Afrika löste sich auf. Übrig blieb nur die riesige Baugrube, gefüllt mit kaltem Wasser und Schlamm. Es war April, die Sonne brannte nicht mehr, und wir begannen allmählich, die Ernsthaftigkeit der Situation zu begreifen. (Warum heisst es eigentlich „der Ernst“ und nicht „der Hans der Lage“?)
Mit der Hilfe unserer Haselnuss-Lanzen und Seile gelang es uns, den mittlerweile völlig verängstigten Reto aus dem Schlamm auf sicheren Boden zu ziehen. Von heroischem Livingstone oder Henry Morton Stanley war nichts mehr übrig. Der Schrecken hatte sich in unsere Gesichter eingebrannt, wir waren von oben bis unten verdreckt. Reto war besonders schmutzig, bis zur Hüfte voller Schlamm.
Edeli rief lachend: „Hey, schaut mal, deine Gummistiefel und eine Socke sind weg!“
Jetzt packte den Reto aber die Angst, und er wollte unbedingt nach dem im Schlamm versunkenen Stiefel suchen. Mit vereinten Kräften hielten wir ihn jedoch zurück, es war zu gefährlich.
In einer der Bauhütten, wo auch manchmal Zement angerührt wurde, fanden wir Wasser und einen Schlauch. Mit eiskaltem Wasser reinigten wir uns so gut wie möglich, und dann schlichen wir uns alle mit einem unbehaglichen Gefühl nach Hause. Wir wussten, dass es Konsequenzen geben würde, besonders für den unglücklichen Reto.
In den nächsten Wochen fehlte Reto bei unseren samstäglichen Wölfli Treffen. Die Leiterin erklärte lediglich, dass seine Eltern ihn krankgemeldet hätten. Wir hätten uns nie getraut, ihn zu besuchen.
An einem Mittwochnachmittag, an dem wir schulfrei hatten, traf ich den Edeli, der im Nachbarhaus von Reto wohnte und daher sicher den wahren Grund kannte. So behauptete er zumindest, dass Retos Vater völlig ausser sich gewesen sei und ihn kräftig verprügelt habe. Seine Mutter habe Hilfe bei den Nachbarn gesucht, um den Vater zu beruhigen. Seine Schreie seien bis nach Oerlikon zu hören gewesen, und wahrscheinlich könne er weder gehen noch sitzen, möglicherweise für immer. Vielleicht übertrieb er etwas, das tat er öfters.
Da seine Familie wenig Geld hatte und die Strafe sein musste, hätten sie Reto zu Stubenarrest verurteilt. Wochen nach dem Vorfall erklärte er uns, dass der Schlamm und die verlorenen Gummistiefel ihm eigentlich keine besondere Sorge bereitet hatten, er sich aber vor seinem Vater und vor dem fürchtete, was ihm blühte. Am Tierspital spielten wir weiterhin „Entdeckungsreisen am Kongo“, aber die Sümpfe wussten wir zu meiden.
Epilog
ahre später sollen sich die Donatschs getrennt haben, und der Reto, also Livingstone, soll sich so gut entwickelt haben, dass er es gar ins Gymnasium schaffte. Was aus ihm wohl geworden ist? Nie mehr habe ich ihn getroffen, nachdem sie weggezogen waren, aber die Angst vor seinem Vater in den Augen, die habe ich nie vergessen.
Im September bin ich durch das Tierspitalareal spaziert, so eine Art Spurensuche, und erinnerte mich dabei auch an unser Kongo-Abenteuer. Ich bin sicher, sollten Archäologen in 1000 Jahren auf dem Gelände Gummistiefel finden, werden sie sich fragen, wie Livingstones Stiefel hierhergekommen sind und warum der so kleine Füsse hatte.
Eines ist sicher: Man schlägt Kinder nicht – und schon gar nicht wegen eines läppischen Paares Gummistiefel.










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