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Jura - Home is where your heart is

  • thomasvonriedt
  • 16. Dez.
  • 7 Min. Lesezeit
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Unterwegs im Jura

 

Der Tag war eine Verheissung: 15 °C, makelloser Sonnenschein, ein Himmel so tiefblau, als hätte jemand das Blau nachgegossen. Die Bäume trugen alle Farben des Spätherbstes, vom satten Grün bis zum warmen Braun, dazwischen jene Gelb- und Rottöne, die den Indian Summer in die Schweiz übersetzen.

 

Ludwig und Karo steuerten den Balmbergpass an, Start ihrer Herbstwanderung. Im Mittelland hing – jahreszeitlich fast pflichtschuldig – ein dichter Nebelschleier, der sich wie Watte an die Jurafelsen heftete. Oben, sagten sie sich, wartete das Nebelmeer. Oben herrschten mildere Temperaturen, oben begannen die Weiten des Solothurner und Aargauer Juras.

 

Der Rucksack: ordentlich bestückt. Erste-Hilfe-Set, Kompass, Decke, Jacken, Verpflegung für den ganzen Tag. Eine alte Zeitung und Streichhölzer für den Notfall. Empfang war in der Gegend selten ein Thema, die GPS-App also einsatzbereit. Die Schweizer Wanderwege: gut markiert, Entfernungen verlässlich. Ein Land, das Ordnung kann.

 

Seit gut einem Jahr lebten sie in der Region Aarau. Arbeit hatten sie schnell gefunden: Ludwig in einem Industriebetrieb, Karo in einer Schokoladenproduktion. Sie sparten für Röns bei Feldkirch, wo Karo ein Stück Land besass und wo einmal ein Haus stehen sollte – regionaltypisch, gemauert aus Plänen und Hoffnung.

 

Vorarlberger, sagt man, sind bodenständig, traditionsbewusst. Ludwig und Karo träumten von Familie, mindestens zwei Kindern. Heimat, das wussten sie, ist weniger ein Ort als ein Zustand des Herzens.

 

Die Integration lief glatt. Ihr Vorarlberger Idiom lag nah am Rheintaler, und sie waren neugierig auf Land und Leute. Eine Tageszeitung hatte den Balmberg empfohlen: wilde Schönheit, schroffe Felsen, unberührte Natur. Abgelegene Höfe boten Rast, Käse, Milch, Kräutertee – es klang nach einem sicheren, guten Tag.

 

Sie fuhren im VW Golf über Balsthal nach Welschenrohr, bogen dann auf die Bergstrasse nach Oberbalmberg ab. Dort sollte der Wagen stehen, dort begann die Tour: nordostwärts, entlang einer imposanten Felswand bis zu einem einsamen Hof.

 

Irgendwo auf dem Balmberg


Sie gingen eigenständig, sicher, der Anstieg sanft, die Schritte ruhig. Erster Halt: der letzte Bauernhof vor der Felswand. Von dort der Querweg entlang des Abhangs bis in den Osten; zwischen zwei Wänden, hiess es, führe ein Pfad südwärts zu einem weiteren Gehöft. Dort wollten sie rasten, Würste braten, Sonne tanken.

 

Unter ihnen lag das Mittelland, Solothurn und Wangen an der Aare in Nebel gehüllt. Fern zeichneten sich Hügelketten ab, dahinter – an guten Augenblicken – der Kamm der Alpen, hoch und seltsam fern.

 

„Es ist wunderbar, Ludi. Es fühlt sich an wie daheim. Es gibt nichts Schöneres, als in einem Alpenland zu leben“, sagte Karo. Der Satz blieb in der klaren Luft stehen.

 

Auf den Weiden standen Rinder und blickten ihnen nach, vermutlich Galloways oder Hochlandrinder. Ludwig erinnerte sich an einen Artikel: Biobauern, alte Rassen, seltene Sorten, Direktvermarktung. Daneben Milch- und Käsebetriebe, Kräuterleute für die Gesundheitsindustrie. Und die traditionellen Höfe, entlegen, rau, nicht immer mit artgerechter Haltung. Eigenbrötler gäbe es, hiess es, Zufahrten holprig, nur für Traktoren oder Militärjeeps – wer kein solches Gefährt hat, geht zu Fuss.

 

Schon in Oberbalmberg hatte man sie ermahnt, die Markierungen nicht zu verlassen. „Die Hänge sind tückisch“, sagte ein Wanderer. Man habe schon Leute verloren – meist jung, immer im Herbst. Ludwig lächelte weg. „Klingt nach einer Gruselgeschichte. In der Schweiz überrascht nichts. Alles ist organisiert, und man ist stolz darauf.“

 

Sie näherten sich dem ersten Abbruch. Der Weg war markiert, doch schmal und exponiert; Trittsicherheit war kein Tipp, sondern Bedingung. Fünfzig Meter tiefer der Abgrund – eine Zahl, die man im Kopf besser kleinhält.

 

Begegnung


Wie Bergziegen nahmen sie die Passage, traten dann leicht talwärts unter die Wand. Der Pfad zog an der Felsflanke entlang; dreissig Minuten bis zum Hof, schätzte Ludwig. Nach ein paar Minuten entschieden sie: Rast.

 

Es war ein Ort, den man sich merken würde. Die Kalksteinwand im Rücken, vor ihnen das Nebelmeer, darüber eine Sonne mit milder Kraft. Grasgeruch, die letzten Blüten, rote Beerenbüsche, Pilze unter dem Fichtenrand. Der Herbst war nicht im Rückzug, er feierte.

Ludwig baute eine kleine Feuerstelle, Karo breitete Decken aus, holte die Verpflegung hervor. Kurz darauf brannte eine fast rauchfreie Flamme, Tannenharz duftete hell. Ludwig schnitzte zwei Haselstöcke, Karo schnitt Brot und ritzte die Würste kreuzweise ein.

 

„Cervelat“, sagte Ludwig und grinste, „Nationalwurst. Wenn sie sich aufbiegt wie ein Schweinchen, ist sie perfekt.“

 

Karo lachte, zog eine Flasche Sekt aus dem Rucksack – Welschriesling Brut aus Gols. „Ein Stück Heimat in der Fremde.“ Europa in Reinkultur, dachte Ludwig. Oder Rheinkultur.

 

Sie füllten die Gläser, als Steine den Pfad hinab polterten. Zuerst hielten sie es für Wild oder einen verspäteten Wanderer. Dann stand ein Mann vor ihnen: ungepflegter Bart, grüne Militärhosen aus grobem Filz, Knotenstock in der Hand. Der Blick: rau, prüfend.

 

„Was macht ihr hier?“, knurrte er.

 

Ludwig runzelte die Stirn. „Wie bitte?“

 

„Ich fragte, was ihr hier macht“, wiederholte er – und liess den Blick an Karo haften, zu lang, zu offen.

 

„Wir geniessen den Tag, die Aussicht, die Natur“, sagte Ludwig ruhig. „Wir essen, und später gehen wir zurück zum Auto.“

 

Der Mann hörte zu, doch sein Blick blieb. Etwas an ihm stimmte nicht. Er wirkte wie einer, der ausserhalb der Ordnung lebt – der im Wald nicht spaziert, sondern wohnt.

 

„Ja, ja … euch gefällt die Gegend.“ Er nickte. „Wo es einem gefällt, da ist man zu Hause. Zu Hause ist, wo das Herz ist.“

 

Dann drehte er sich um und verschwand zwischen den Fichten. Kein Ast knackte.

 

„Ludi, hast du gesehen, wie der mich angeschaut hat?“, flüsterte Karo. „Der war unverschämt.“

 

„Ein Eigenbrötler“, sagte Ludwig. „Gibt’s hier wie daheim. Komm – Sekt, Wurst, Sonne.“


 

Die Holzhütte

 

„Ludwig, wach auf! Wir sind eingeschlafen. Die Sonne geht gleich unter“, sagte Karo leise, aber dringlich.

 

Ludwig fuhr hoch, rieb sich die Augen, löschte die Glut sorgfältig. Aus dem Tal kroch bereits der Nebel, vorerst weich, doch dicht genug, um die Sinne zu dämpfen. „Los. Erst zum Hof, dann über die Alpstrasse zurück.“

 

Im Bergwald zog die Dämmerung schnell an. Nebel legte sich zwischen die Stämme, und jeder Schritt verlor an Kontur.

 

„Verdammt, eine Lampe“, murmelte Ludwig. Streichhölzer halfen hier nicht. Das diffuse Licht im Nebel machte die Welt unfassbar.

 

„Bleib nah bei mir“, sagte er. „Halt dich am Rucksack fest.“

 

Schatten lösten sich von den Bäumen und kehrten als Bäume zurück. Das Gefühl, beobachtet zu werden, blieb, wie eine Hand im Nacken. Schliesslich wurden die Schritte unsicherer, der Pfad unsichtbar, und mit dem Unsichtbarwerden wuchs die Gefahr: Ein falscher Tritt, ein Ausrutscher – und die Statistik würde einen Strich notieren.

 

Karo begann zu weinen. „Ich kann nicht mehr. Lass uns unter einem Baum bleiben, ein Feuer machen, warten, bis es hell ist.“

 

„Das Gehöft ist nah“, sagte Ludwig, mehr zur Beruhigung als aus Gewissheit.

 

Sie waren längst vom Weg, ohne es zu merken. Statt zum Hof gingen sie in den Wald hinein, tiefer, tastend. Zweige schlugen ins Gesicht, Wurzeln stellten Beine, Dornen zogen Fäden aus Stoff. Die Kälte kroch, biss. Ludwig trat auf eine feuchte Wurzel, rutschte, stürzte, schlug mit der Stirn auf. Warmes Blut sickerte in ein kaltes Auge.

 

„Karo … siehst du das?“

 

Zwischen Stämmen, etwa zweihundert Meter entfernt, flackerte Licht. Zu ungleichmässig für Elektrik. Ein Docht, dachte Ludwig. Eine Petroleumlampe. Oder Kerzen.

 

„Ein Haus“, sagte er, und seine Stimme bekam Halt.

„Schnell“ sagte Karo. „Bevor wir erstarren.“

Sie stützte ihn, und sie gingen auf das Licht zu, Schritt für Schritt, als gingen sie in einen Satz hinein, dessen Ende noch verborgen war.


 

Überraschung


Die Hütte stand einsam, dunkles Holz, ein Dach mit Moos. Über der Tür eine verrusste Lampe, die schwach brannte. Durch das Fenster: nichts.

 

„Wir können hier übernachten“, flüsterte Karo.

 

Ludwig entzündete ein Streichholz. Das Innere: karg. Ein grob gezimmerter Tisch, zwei angeschlagene Stühle, ein rostiger Ofen, verstaubtes Geschirr. Ein Raum, der Zeit nicht sammelt, sondern abweist.

 

„Seit Jahren nicht gereinigt“, murmelte er. „Aber wieso brennt draussen die Lampe?“

 

Karo zündete eine Kerze an und öffnete die Tür zum Nebenraum. Modriger Geruch, eine einfache Liege mit alten Pferdedecken, ein kleiner Schrank, alles unter Staub. Über der Liege hing, handgewebt, ein Spruch:

„Heim ist, wo das Herz ist.“

Das Holz fürs Feuer würde knapp. „Ich hole Nachschub“, sagte Ludwig und trat hinaus.

 

Die Tür fiel hinter ihm mit einem Knall ins Schloss. Er riss an der Klinke. Nichts. „Karo! Die Tür klemmt!“

 

Drinnen: ein Scharren. Schritte. Ein Schrei, Karos Schrei. Ein dumpfer Aufschlag, schleifende Geräusche. Dann Stille, die sich in den Ohren ausbreitete.

 

„Karo?!“

 

Er rüttelte, rief, hörte sich älter werden. Minuten verrannen, dann eine halbe Stunde, vielleicht mehr. Zeit verlor Mass.

 

Im ersten Grau des Morgens fiel Laternenlicht auf die Stufen. Stiefel. Grüne Filzhosen. Ein Schatten, der kein Fremder mehr war.

 

Ludwig blinzelte hoch. „Der Waldschrat …“

 

„So, so“, sagte die raue Stimme, nun beinahe vergnügt. „Einfach in fremde Hütten einbrechen?“

 

Die Hand packte Ludwigs Kragen. Eine Bewegung, als hebe man ein Bündel. Die Tür sprang auf, Ludwig flog hinein. Die Kerze war längst erloschen. Dunkelheit nahm die Konturen und gab sie nicht zurück.

 

Eine Bodenluke stand offen; daraus stieg fahles Licht. An der Wand hing der Spruch, als sähe er ihnen zu:

„Heim ist, wo das Herz ist.“

„Wo ist sie?!“, schrie Ludwig.

 

Das Grinsen im Gegenlicht. Der Stoss. Die Stufen. Aufprall. Sterne.

 

Er sah es, bevor sein Verstand sich wehrte: Karos Körper an einem Haken. Aufgeschlitzt von Hals bis Unterbauch, Gedärme dampfend auf dem Steinboden, die blauen Hosen durchtränkt, Meindl-Schuhe geschnürt, als stünden sie noch in einer Landschaft, die längst fort war. Der Raum roch nach Eisen, feucht und warm, als atmete er.

 

Ein Lachen hinter ihm, tief und kehlig, beinahe geniesserisch. Der Mann tanzte auf der Stelle, als hätte er Musik im Kopf. Ein leeres Einmachglas in der einen Hand, in der anderen etwas, das noch zuckte: ein Herz.

 

Mit einer Geste, die jedes Wort verhöhnte, liess er es in das Glas gleiten, schraubte den Deckel zu und stellte es in eine Reihe auf das Regal.

 

Ludwig blinzelte gegen den Schmerz. Auf dem Regal: Dutzende Gläser, sauber beschriftet, chronologisch geordnet. In jedem ein roter, erstickender Schlag.

 

Über dem Regal hing, sorgfältig gestickt, ein Leinenbanner:


„Home is where the heart is.“


Ludwigs Brust hob und senkte sich stossweise; die Welt lief zusammen. Ein letzter, heiserer Atemzug – dann Stille in ihm.

 

Der Fahrer des Postbusses auf der Route nach Welschenrohr bremste kurz. Der rote VW Golf stand noch immer am Strassenrand in Oberbalmberg. Seit Tagen unbewegt.

 

Etwas an dem Bild war falsch. Autos kamen und gingen. Dieser blieb. Einsam. Still. Als wartete er – pflichtbewusst, geduldig – auf jemanden, der seine Rückkehr nicht mehr kannte.

 

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