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Jeanne d'Arc verbrannte nicht, sie ertrank

  • thomasvonriedt
  • 25. Nov.
  • 5 Min. Lesezeit
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Feuer


Feuer hat mich seit jeher fasziniert. Man sagt mir sogar eine besondere Begabung nach, wenn es darum geht, selbst im strömenden Regen ein Feuer zu entfachen. Ich bin am Zürichberg aufgewachsen, und das „Füürle“ im nahen Wald war nach der Schule unsere liebste Beschäftigung. Damals gab es keine Handys, die ablenkten, keine blinkenden Konsolen oder Bildschirme. Stattdessen war Winnetou unser Held – er wusste, wie man Feuer ohne Streichhölzer macht und dabei unentdeckt bleibt. Das beeindruckte uns. Ein rauchendes Lagerfeuer war ein kleines Wunder, ein Stück Freiheit, das nach Harz, Erde und Abenteuer roch. Und selbst wenn unsere Feuer selten unentdeckt blieben – sie waren jedes Mal ein Triumph.

 

Jeden Sommer durfte ich während der Schulferien zu meinem Cousin nach Bern. Heute weiss ich, dass ich in Wahrheit musste. Mein Cousin war ein Einzelkind – brav, höflich, ein wenig zahm. Mein Onkel hoffte wohl, dass sein Sohn endlich einmal auf mutige Gedanken käme. In mir sah er den geborenen Anstifter, und er hatte recht: Ideen fehlten mir nie. Das Haus war riesig – vom Keller bis zum Dachboden ein Abenteuerspielplatz. Von der Dachterrasse aus konnte man das Bundeshaus sehen, darüber wehte die Schweizer Fahne. In der obersten Etage lagen die Gästezimmer, zwei davon für die Kinder, eines hatte einst das Kindermädchen bewohnt.

 

Vor dem Ersten Weltkrieg war es in gutbürgerlichen Familien üblich, junge Frauen aus dem Schwabenland als Haushaltshilfe und Kinderbetreuerin zu engagieren. Zentralheizungen waren selten. In jedem Raum stand ein gusseiserner Ofen, den man mit Briketts und Eierkohle füttern musste. Im Erdgeschoss und im ersten Stock wurde mit Öl geheizt – per Hand aus einem Bidon in die Öfen gegossen. Im Keller stand der 1000-Liter-Metalltank. Natürlich bot ich mich begeistert als Heizer an. Bald hatte ich das Feuer im Griff: das Zünden, das Glühen, das Zähmen. Die Briketts und die Eierkohle lagerten im Kohlenkeller – ein Ort, der nach Staub, Hitze und Abenteuer roch.

 

Das Brennmaterial in die oberen Stockwerke zu tragen war mühsam, doch es hatte etwas Befriedigendes: Das Wissen, dass man mit eigener Kraft Wärme schuf – und dieses flackernde Licht, das Leben in die Zimmer brachte.

 

Heute genügt ein Fingertipp auf dem Handy, um die Heizung zu aktivieren. Beeindruckend, ja – aber es ersetzt nicht das Knistern, das Flackern, das Knacken. Nicht den würzigen Geruch des Holzes, der die Luft erfüllt. Nur ein Schwedenofen oder ein Kamin können noch etwas von dieser Magie heraufbeschwören.

Wenn die Briketts und die Eierkohle ihre Glut entfalten, verschwinden die Flammen, und durch das kleine Sichtfenster glüht ein Herz aus Rot und Orange.



Die Schlacht um Orléans


Während eines Ferienaufenthalts in Bern entdeckten wir in der Hausbibliothek Bücher über das Schicksal von Märtyrern. Besonders die Geschichte der Jeanne d’Arc liess mich nicht mehr los. Diese junge Frau, die für ihren Glauben kämpfte, die Heilige von Orléans – und ihr grausamer Tod auf dem Scheiterhaufen.

 

Ich stellte es mir bildlich vor: wie die Kleider Feuer fangen, das Haar, die Haut. Wie der Rauch die Lungen füllt, bis keine Luft mehr bleibt. Der Körper, der sich windet, das Fett, das schmilzt, das Feuer, das sich daran nährt, bis nur Asche übrigbleibt. Ein paar Zähne. Ein paar Knochen. Der Gedanke liess uns erschauern.

 

Der Kohlenkeller war unser Königreich. Dort störte niemand. Zwischen alten Werkzeugen, Regalen und Kisten lag die Geschichte in der Luft. Besonders fasziniert war ich von einem Werkzeugkasten, den der Grossvater 1890 aus Kalifornien mitgebracht hatte. Mein Cousin schwor, irgendwo im Keller seien Revolver und Jagdgewehr versteckt. Wir fanden sie nie – wahrscheinlich eine Erfindung seiner Fantasie. Doch ich hätte nur zu gern die Waffe gehalten, mit der er sich, wie er behauptete, im Wilden Westen gegen hundert Indianer verteidigt hatte.

 

Merkwürdigerweise befand sich das Bad im Keller. Niemand wusste, warum es dort eingebaut worden war. Bei der Kälte und dem schummrigen Licht einer 20-Watt-Birne zu baden, war eher eine Strafe. Der Wandboiler, der das Wasser erhitzte, war kürzlich übermalt worden. Mein Cousin erzählte, darauf habe sich einmal ein Handabdruck gezeigt – ein Zeichen des Unheils. Die Grossmutter habe früher Séancen abgehalten, und ein Geist sei dabei im Haus geblieben. Ich verstand das nicht. Warum sollte ein Geist sich an einem Boiler festklammern?

 

Wir fanden Leim, Holz, Papier, Schnüre und Draht. Beflügelt von Jeannes Schicksal beschlossen wir, die Schlacht um Orléans nachzustellen. Wir bauten Festungswälle aus Briketts, errichteten Türme, leimten Pferde, bogen Reiter aus Draht. Eine kleine Armee wuchs – Reiter, Fussvolk, Kanoniere. Jeanne d’Arc stand an der Spitze, mit Flagge und Federbusch, ausgerüstet für die Ewigkeit.

 

Seit Tagen tobte die Schlacht. Die Engländer hielten stand, ihre Bogenschützen schossen präzise aus der Distanz. Die Franzosen stürmten an – und wir gossen flüssigen Kerzenwachs als Pech auf sie herab. Brennende Pfeile flogen, die Mauern fingen Feuer, der Rauch kroch über den Boden. Wir schufen ein Inferno im Miniaturformat. Jeanne kämpfte bis zuletzt, vom Pfeil getroffen, aber aufrecht im Sattel. Dann kam der Regen – unser göttliches Eingreifen aus der Giesskanne – und löschte das Feuer.



Jeanne d’Arcs überraschendes Ende


Wasser ergoss sich über das Schlachtfeld, riss Ritter, Reiter und Leichen mit sich fort. Die Türme fielen, Mauern brachen ein. Die Schlacht endete in einer Sintflut.

 

Doch Jeanne starb nicht auf dem Scheiterhaufen, wie die Geschichtsbücher behaupten. Nein – sie ertrank im Schlamm aus Dreck, Blut und Kohlenstaub, im Keller eines bürgerlichen Hauses in Bern.

 

Wir starrten fassungslos auf das zerstörte Schlachtfeld, als plötzlich eine donnernde Stimme durch die Decke grollte:

 

„Heitere Fahne! Wollt ihr das Haus in Brand setzen?!“

 

Der Rauch war durchs Kellerfenster gedrungen, der beissende Geruch verbreitete sich im Treppenhaus. Die Nachbarn hatten bereits die 118 gewählt. Meine Grossmutter – mutig wie eine Stauffacherin – griff zum Gartenschlauch und schickte eine Sintflut durch das Kellerfenster. Das Wasser prasselte auf Jeanne, auf ihre Soldaten, auf uns. Ein echtes Wunder, das alle Flammen löschte.

 

Wir standen tropfnass da, russverschmiert, bedrückt, dass Jeanne nicht gerettet werden konnte. Ihr Federbusch ragte noch aus dem Schlamm, das Schwert in der Hand. Der Kohlenkeller dampfte, der Rauch stieg auf wie Weihrauch nach einer Messe. Die Engländer flohen, der Krieg war vorbei.

 

Und ich? Ich war nass bis auf die Knochen – aber glücklich.

Denn geblieben ist die Erinnerung an die Schlacht im Kohlenkeller, an den Geruch von Rauch und Leim, an das Knistern der Briketts. Geblieben ist auch meine Liebe zum Feuer – und zu den Geschichten, die daraus entstehen.

 

Ja, Feuer begeistert mich noch immer. Heute entzünde ich es friedlicher – um mit Freunden und den Senioren Cervelat-Würste über der Glut zu braten. Und manchmal, wenn das Holz leise knackt, sehe ich in den Flammen die Silhouette von Jeanne d’Arc – standhaft, unbesiegt, und ein wenig verrusst.

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