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Ich bekomme sie alle

  • thomasvonriedt
  • 12. Dez.
  • 5 Min. Lesezeit
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In dunkler Vorzeit

 

Die Zeiten waren hart, unerbittlich in ihrem Griff. Ein stetiger, gnadenloser Regen peitschte über das Land – tiefer und kälter als jede Erinnerung der Ältesten. Wochenlang hielt das unwirtliche Wetter die Welt im Bann, ein düsteres Omen, das selbst die erfahrensten Druiden beunruhigte. Sie flüsterten von aussergewöhnlichen Opfern, von einem Preis, den die Naturgötter forderten, um die Ordnung wiederherzustellen.

 

Der Druide, ein Schatten unter Schatten, verkündete das Unvermeidliche: ein Menschenopfer, ein Tribut an den ziegenbeinigen Gott. Ausgerechnet der älteste Sohn des Häuptlings war auserwählt, am nächsten Morgen geopfert zu werden.

 

In der Nacht hallten dumpfe Trommelschläge durch die Dunkelheit – ein trauriges Lied des Abschieds. Die Frauen weinten, ihre Stimmen verloren sich im Wind. Der Druide, erhaben und unnahbar, rezitierte die alten Verse, während der Sohn des Häuptlings, betäubt vom Opfertrank, die Zeremonie nur verschwommen wahrnahm. Mit einem plötzlichen, erbarmungslosen Schlag trennte die Axt seinen Schicksalsfaden. Er fiel – und mit ihm ein Schwall aus Blut und Leben, während am Himmel Blitze zuckten, als ob die Götter selbst erschauerten.

 

Die Stammesmitglieder flohen, getrieben von Urangst, als das Kratzen von Klauen über den Menhir-Steinen die Luft zerriss und Schwefeldunst die Szene erfüllte. Der Ziegenbeinige hatte sein Opfer angenommen. Niemand wagte, ihm in die Augen zu sehen – in die Abgründe eines Gottes, der so grausam war wie das Schicksal selbst.

 

 

Im Osttirol

 

Mir war empfohlen worden, die Wallfahrtskirche als Ziel meiner Wanderung zu wählen – einen Ort, umgeben von schaurigen Legenden und zweitausend Jahre alter Heiligkeit. Es hiess, junge Männer seien hier im Lauf der Jahrhunderte immer wieder spurlos verschwunden. Im 17. Jahrhundert errichtete die Kirche an dieser Stelle ein Gotteshaus – teils aus Dankbarkeit, dass die Gemeinde von den Schrecken des Krieges verschont blieb, teils, um den Aberglauben zu bannen, der sich um die alte Kultstätte rankte.

 

Die staubige Strasse führte steil hinauf aus dem Tal. Unter der gnadenlos brennenden Sonne, bei über 30 °C, sehnte ich mich nach einem Schluck kühlen Wassers. Beim dritten Kreuzwegbild, wo Jesus zum ersten Mal unter dem Gewicht des Kreuzes zusammenbricht, glaubte ich, ein schadenfrohes Kichern zu hören. Ein unbehagliches Gefühl beschlich mich.

 

Beim zehnten Bild entdeckte ich, verborgen hinter dichtem Gras, die Ruinen der alten Kultstätte. Archäologen hatten hier wohl den Legenden nachgespürt. Im Zentrum der Anlage standen die Überreste einer Steinbank, die einst als Altar gedient haben musste. Auf dem schwarzen Granit waren seltsame Symbole zu erkennen – darunter drei tiefe, krallenartige Kerben. Trotz der Hitze überkam mich eine eisige Kälte.

 

Ich eilte weiter, vorbei am zwölften Bild, wo Jesus entkleidet und ans Kreuz genagelt wurde. Als ich schliesslich vor der Wallfahrtskirche stand, war es, als beträte ich eine andere Welt. Mit jedem Schritt ins kühle Innere liess ich die bedrückende Atmosphäre hinter mir – doch das Echo des Kicherns und das Bild der Krallenspuren liessen mich nicht los.

 

 

Die Berg Kapelle

 

Die Kirche war ein Meisterwerk sakraler Kunst – eine harmonische Symmetrie aus schlichter Architektur und tiefsinnigen Fresken. Das Licht, das durch die bunten Glasfenster fiel, erweckte die Darstellungen des ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse zum Leben. Hier, so schien es, fand der Gläubige Trost in der Leidensgeschichte Christi.

 

Ich liess mich auf einer der unbequemen Holzbänke nieder. Sonntags und an Feiertagen musste dieser Ort voller Dorfbewohner sein, die an den Lippen des Priesters hingen – gläubig, naiv, ergeben. Während ich die Fresken betrachtete, schweiften meine Gedanken. Ich hatte über die Fehltritte der Kirchenmänner gelesen, über Zweifel an Marias Unfehlbarkeit und über die Gestalt des Versuchers. Als Nichtgläubiger sah ich in den biblischen Geschichten eher moralische Wegweiser als göttliche Offenbarung.

 

Während ich noch in Gedanken versunken war, zogen draussen dunkle Wolken auf – ein Gewitter kündigte sich an. Ein unheimliches Kratzen an der Kirchentür riss mich aus meinen Überlegungen. Ich erhob mich und ging entschlossen zum Ausgang. Das Geräusch wiederholte sich, begleitet von einem schwachen Schwefelgeruch. Ich öffnete die Tür – und ein Sturmwind erfasste mich.

 

Draussen, nur wenige Schritte vom Eingang entfernt, standen drei Kreuze: Jesus in der Mitte, flankiert von den beiden Mördern Gestas und Dimas. Gestas’ Augen schienen mich mit Hass zu durchbohren, und ich meinte, ein spöttisches Lachen zu hören. Ein unerklärliches Gefühl sagte mir, dass ich diesen Ort sofort verlassen sollte. Ich eilte hinaus in den aufziehenden Sturm, begleitet vom Echo dieses unheilvollen Lachens.

 

Ein Unbehagen packte mich – eine Panik, die mir den Atem raubte. Ich beschleunigte meinen Schritt, den Kreuzweg hinab zum Parkplatz. Der Himmel verdunkelte sich zusehends, und wildes Wetterleuchten brach aus. Blitze zuckten im Sekundentakt, einige schlugen bedrohlich nah in die Felsen, einer direkt in das Areal der alten Kultstätte. Im flackernden Licht glaubte ich, eine Gestalt auf der Opferbank zu sehen – lachend, mit Krallen über den Stein fahrend.

 

„Lauf! Ich erwische dich doch“, schien sie zu spotten. Ein weiterer Blitz zerriss den Himmel, traf eine alte Tanne.

 

Mein Herz raste. Blitze sind unberechenbar, und Angst übermannte meine sonst so rationale Denkweise. Ich hastete zu meinem Auto, dem Schutz eines Faraday’schen Käfigs entgegen.

 

„Was für eine Memme ich bin, mich von alten Geschichten und einem Sturm einschüchtern zu lassen“, dachte ich, als ich endlich hinter dem Steuer sass. „Es gibt keine Teufel, die an Kirchentüren kratzen – das ist alles Humbug.“

 

Ich wischte Regen und Schweiss aus meinem Gesicht, startete den Motor und fuhr durch den strömenden Regen, dem Tunnel ins Tal entgegen. Doch trotz aller Vernunft blieb das Echo des Lachens in meinem Kopf – das Bild der Krallen auf Stein – wie ein unheimlicher Begleiter in dieser Nacht.

 

 

Inferno im Tunnel

 

AC/DCs Highway to Hell dröhnte aus den Lautsprechern – ein ironischer Soundtrack, als ich in den Tunnel einfuhr. Ein typischer Tunnel: grob in den Granit geschlagen, das Erbe unzähliger Spitzhacken und des Schweisses vergangener Arbeiter. Nur schwach beleuchtet, führte mich die blasse Mittellinie durch das Halbdunkel. Wasser tropfte von den Wänden, glitzerte im fahlen Licht, während das Thermometer über 30 °C kletterte.

 

Ich konnte das Ende des Tunnels noch nicht sehen. Die Klimaanlage kämpfte gegen die Hitze – 35 °C und steigend. Schweiss tropfte von meiner Stirn aufs Lenkrad. Dann blieb die Temperaturanzeige stehen, und mit einem letzten Zischen gab das Kühlsystem auf. Die Tunnelwände begannen in feurigem Rot zu glühen, als stünden sie in Flammen. Das Lenkrad wurde heiss, die Schalter am Armaturenbrett begannen zu schmelzen.

 

Im Rückspiegel loderten Flammen – sie leckten über den Asphalt, frassen sich voran. Die Strasse selbst schien sich aufzulösen. Ein schrecklicher Gedanke drang in mein Bewusstsein: Ich befand mich auf einem buchstäblichen Highway to Hell.

 

Dann erschien vor der Windschutzscheibe ein grinsendes Gesicht – das des Gehörnten. Ich spürte einen brutalen Schlag am Hinterkopf, einen Strom aus Schmerz, dann Dunkelheit.

 

„Wieder eine arme Seele verloren“, murmelte Alois und strich sich gedankenverloren über den Schnauzbart. Der erfahrene Rettungshelfer aus Osttirol schüttelte den Kopf, während sein Blick über den verkohlten Wagen glitt. Neben ihm stand Ambros, ein tiefgläubiger Bauer der Gegend, mit sorgenvoller Miene.

 

„Wie bei den anderen – ›Vade retro, Satanas‹ als letzte Worte …“, sagte Ambros leise.

 

„An genau der Stelle, wo sie sagen, der Teufel habe seine Kralle in den Felsen geschlagen“, fügte Alois hinzu, während ihm ein Schauer über den Rücken lief. „Alle Opfer waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt – und diese Wunde am Hinterkopf … fast wie von einer Axt.“

 

Alois berührte instinktiv das goldene Kreuz an seinem Hals. „Die Kelten opferten hier einst, und nun …“

 

Ein metallisches Kratzen durchbrach die Stille und hallte von der Tunnelwand wider. Ambros erstarrte. Sein Blick haftete im Dunkel. Eine unsichtbare Spannung legte sich über die Szene – als würden die alten Legenden des Ortes erneut zum Leben erwachen.

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