Henricus und der Turm über dem See
- thomasvonriedt
- 16. Dez.
- 15 Min. Lesezeit

Über diese Geschichte
Henricus von Brunon war einst ein stolzer Ritter im Dienst des Grafen von Toggenburg. Doch am Stammsitz auf dem Iddaberg verlor er alles – seine Geliebte Isalda, die jüngste Tochter des Grafen, und mit ihr seine Ehre. Verstossen und geächtet, zog er als Söldner durchs Land, getrieben von Zorn und Schmerz. Am Morgarten stand er an der Seite der Eidgenossen und sah, wie Tod und Wahnsinn über das Schlachtfeld fegten. Inmitten des Grauens erkannte er die Sinnlosigkeit des Tötens. Noch in jener Nacht legte er sein Schwert nieder und schwor, es fortan nur im Dienst des Guten zu führen. Seitdem streift Henricus als einsamer Wanderer durch die junge Schweiz – ein Kämpfer wider das Böse, gewappnet mit Mut, Klugheit und tiefem Glauben. Seine Schlachten sind nicht mehr gegen Menschen gerichtet, sondern gegen die dunklen Mächte, die in den Schatten lauern.
Prolog – Das Kind im Nebel
Im Winter des Jahres des Herrn 1316 lag das Land zwischen Uri, Schwyz und Unterwalden in bleierner Stille. Seit Wochen kein klarer Himmel, kein Laut, nur das beständige Wispern des Nebels, der aus den Schluchten stieg wie ein lebendiges Wesen. Er kroch durch Ställe und über Friedhöfe, legte sich auf Dächer und Gesichter, bis selbst die Hunde nicht mehr bellten.
In jener Zeit verschwand das Kind des Müllers Walter von Seelisberg. Man fand seine kleinen Spuren im Schnee, doch sie endeten abrupt – dort, wo der Nebel am dichtesten war. Die Leute sagten, der See habe es geholt. Andere flüsterten von einer alten römischen Seele, die in den Mooren ruhelose Kreise ziehe, seit sie ohne Beichte gestorben war. Henricus de Brunon hörte davon, als er eines Abends in der Schenke von Flüelen, dem Widder, einkehrte. Er sprach kein Wort, legte nur seine Hand auf das aus Eibenholz geschnitzte Kreuz an seiner Brust, bezahlte den Wein und machte sich noch in derselben Nacht auf den Weg.
Der Pfad führte ihn über gefrorene Felder und durch schweigende Wälder.
Der Nebel hing schwer, kalt und süsslich, wie Atem aus einer anderen Welt.
Henricus ging, bis er das Weinen hörte – leise, fern, wie aus dem Wasser selbst geboren.
Dann sah er das Kind.
Ein Mädchen von kaum sechs Jahren, barfuss, das Hemd durchnässt, die Augen starr.
Aus dem Nebel reckten sich Hände – feucht, grau, durchsichtig –, tastend, ziehend, flüsternd in einer Sprache, die längst begraben war. Latein, doch verdreht, höhnisch.
Ein Fluch, der aus der Zeit der Legionen stammte.
Henricus trat näher, zog das Kreuz, murmelte das Paternoster, doch die Nebelhände wichen nicht. Da erinnerte er sich an den alten Turm über dem See, dessen bronzene Spiegel die Sonne lenkten, um Signale über die Berge zu senden.
Er rannte dorthin, kehrte keuchend mit einer der polierten Scheiben zurück.
Und als im Morgengrauen endlich ein Schimmer durch den Dunst brach, stellte er den Spiegel gegen den Hang. Ein einziger Strahl traf den Nebel – glühend, rein, wie das Auge Gottes. Die grauen Hände zogen sich zischend zurück, das Kind sackte in seine Arme.
Ein Schrei – tief, uralt – zerriss die Stille. Dann nur noch der Wind.
Henricus kniete nieder. Im Schnee blieb eine Spur wie von Sandalen zurück, schwer und doch körperlos. Er wusste: Der Geist war gebannt, aber nicht erlöst.
Noch nicht.
Am Abend schrieb der Pfarrer von Seelisberg in seine Chronik:
«Ein Mann kam aus dem Nebel, das Kind auf dem Arm.» Er sprach nicht. «Nur seine Augen waren wie Spiegel – darin brannte noch der Himmel.“
Kapitel 1 – Der Turm über dem See
Am dritten Morgen nach der Rückkehr des Müllerknaben stand Henricus wieder am Ufer. Ich ging ein Stück hinter ihm, den Kragen hochgeschlagen, den Rosenkranz zwischen den Fingern, mehr aus Gewohnheit als aus Überzeugung. Der See lag schwer wie eine Zinnplatte, und doch wogte in seiner Tiefe ein Flüstern, das ich nicht hören, nur fühlen konnte. Es war, als hielte das Wasser den Atem an.
Über dem Gegenhang ragte der Turm, den wir Sonnenlenker nennen, gleichsam ein Finger, der seit Jahrhunderten in den Himmel weist. Die Leute sagen, die Römer hätten hier Spiegel aufgestellt – gross wie Türen, poliert wie das Gewissen eines Kindes –, um Zeichen über die Berge zu schicken. Ich weiss nicht, ob es so war. Aber es gibt Orte, denen die Dinge selbst Glauben schenken, weil sie so dastehen, als wären sie mit Absicht gebaut. Dieser Turm war so einer.
Henricus stieg den Pfad hinauf, als kenne er jeden Stein, jeden Windstoss. Die Fichten hielten still, obwohl ein Hauch vom Wasser herkam, der die Spitzen sonst erzittern liess. Drinnen roch es nach nasser Asche. Tropfen fielen aus einer Wunde im Gemäuer, und jedes Geräusch wurde von der Kälte sauber geschnitten, als hätte die Luft Kanten.
An den Wänden fand er Reliefs, in den Stein gedrückt wie ein Gedanke, den keiner mehr denkt, den der Stein aber nicht vergisst: ein Lorbeer, ein Adler, zwei Kinderhände, die sich nach einem Mann mit Helm strecken. Dort, wo der Mörtel die Oberfläche faltig machte, fuhr Henricus mit den Fingerspitzen entlang, langsam, als läse er Blindenschrift. Er blieb an einer Linie hängen, die tiefer eingeritzt war als alle anderen. Seine Lippen bewegten sich, ich hörte kein Wort. Das Feuer seiner Fackel lief über den Stein, als tastete es nach einer Antwort.
»Lucius Varinus«, sagte er schliesslich, nicht zu mir, eher zur Mauer hin. Der Name war kein Fund, er war ein Schlüssel, und er passte auf Anhieb.
Ich, der Pfarrer, der Worte liebt, spürte, dass ihm hier jedes Wort zur Last wurde. Als wir wieder vor der Tür standen, legte er mir eine Hand auf den Ärmel, ohne hinzusehen. »Morgen«, sagte er, »werden wir den Namen laut lesen. Und die Sonne wird zuhören.«
Ich nickte, obwohl ich nicht verstand, was die Sonne mit den Sünden zu tun haben sollte. In jener Nacht schrieb ich den Namen in mein Heft: Varinus. Ich verstärkte das V mit zwei Strichen. Es ist seltsam, worauf man achtet, wenn man nicht weiss, was wichtig ist.
Kapitel 2 – Der Fluch des Varinus
Wir gingen vor der ersten Helle hinauf. Die Felsen waren glasig gefroren, der Atem ein weisser Vogel. Henricus trug nichts als den Mantel und ein in Leinen gewickeltes Rund – den Spiegel, den er vom Turm gelöst hatte. Ich trug die Fackel, die mir zu schwer schien für ein Stück Holz, und das Buch, in das ich meinen Mut schrieb.
Im Turm las Henricus mit ruhiger Stimme die Inschrift, die er am Vortag nur gespürt hatte. Die Buchstaben waren grob und rissig, aber gerade deshalb lebendig, als hätte der Stein das Messer nie vergessen:
LVCIVS VARINVS FECIT — SOL NON ME VIDEAT.
Lucius Varinus hat dies errichtet – möge die Sonne mich nicht sehen.
Ein Satz, so stolz, dass er in die Knie zwingt. Ein Mann, der das Licht selbst verflucht und in Stein bannt, traut weder dem Himmel noch seinem Herzen. Ich dachte an all die Male, da ich mich hinter Formeln versteckt hatte, statt zu sehen, was vor mir war.
Henricus legte die Hand auf die Kerbe des N, als sei dort eine Tür. «Wer sich dem Licht entzieht, setzt das Dunkel frei», sagte er. Dann begann er das Gebet. Seine Stimme war nicht laut, aber aufrecht. Ich fiel ein, schwächer, doch im Takt.
Beim Et lux perpetua zog ein Wind durch das Mauerwerk, der nicht von draussen kommen konnte. Die Fackel knickte, und das Dunkel sprang. Es war, als ob das Turmherz einmal hart schlug und wieder still wurde. In diesem Augenblick trat der Nebel nicht herein – er war schon da. Er stand auf, ohne sich zu bewegen, und aus seiner Mitte hob sich eine Gestalt mit Brustpanzer, auf dem Rost wie Flechten blühte. Wo ihr Gesicht hätte sein sollen, sah ich eine glatte Leere, eine Maske aus Licht und Loch.
«Wer ruft mich, wo selbst Gott mich vergass?», sprach die Luft. Ich habe nie wieder eine Stimme gehört, die so sehr aus der Ferne kam und gleichzeitig neben meinem Ohr stand.
Henricus hob den Spiegel, nicht als Waffe, eher als Antwort. «Einer, der weiss, dass Schuld ein Dach ist, unter dem alle frieren», sagte er.
Varinus lachte ohne Zähne. »Ich gab Zeichen, ich gab Ordnung. Sie nahmen mir Götter und gaben mir Wasser. Er richtete den leeren Blick auf mich, und ich erschrak vor der Erkenntnis, dass ich in mir noch immer lieber Recht als Frieden wollte.
«Sieh dich», sagte Henricus, und der Spiegel fing den blassen Morgen ein. Ein einziger Strahl riss durch das Rissfenster, fiel auf die Glasfläche, sprang, wie ein Fisch springt, wenn das Netz ihn streift – und lag plötzlich auf der leeren Maske. Was ich dann sah, trug ich jahrelang wie eine Hostie auf der Zunge: kein Krieger, kein Richter – ein junger Mann, der Feuer entfacht hatte und sich jetzt an seinem eigenen Rauch verschluckte. Tränen, die er sich nicht erlaubte.
«Das bin nicht ich», flüsterte die Luft.
«Das warst du, bevor du den Fluch wähltest», sagte Henricus. «Und das bist du, wenn der Fluch von dir fällt.»
Der Spiegel sprang – ein feiner Riss, genau in der Mitte, wie ein stilles Amen. Der Nebel wankte, und ich roch plötzlich nasses Eisen. Dann sank die Gestalt zusammen, nicht als Körper, eher als Geste. Auf dem Boden blieb ein Lorbeerblatt liegen, grün wie Juni. Ich steckte es in mein Buch. Ja, ich tat es. Nicht als Reliquie, sondern als Erinnerung daran, wie viel Trost in einem Blatt wohnen kann.
Kapitel 3 – Das Siegel im Wasser
Am nächsten Tag schien der See satter, als habe jemand ihm Blut gegeben. Ich stand am Ufer, und meine Augen wollten glauben, dass alles gut sei. Aber die Finger wussten, was Augen gern vergessen: Im Holz des Pultes, an dem ich schrieb, vibrierte etwas, als lege der See einen Ton in die Dinge.
Henricus ging wieder zum Turm. Ich wollte mit, doch er bat mich zu warten, und ich gehorchte. Später erzählte er, er habe unter der ersten Inschrift eine zweite gefunden, fein, fast schamhaft in den Stein geritzt:
SIGILLVM AQUARVM — LVX IN TENEBRIS NON LVCET.
Das Siegel der Wasser – das Licht leuchtet nicht in der Finsternis.
Ein Tropfen, sagte er, sei aus der Mauer getreten. Schwarz. Das Wasser hatte sich an den Stein erinnert. Henricus kam ans Ufer und kniete, dort, wo die Kinder gewöhnlich Frösche fingen. Unter der Oberfläche, viel tiefer als jeder Mann stehen kann, glomm ein Ring. Kein Schmuckstück – ein metallener Schwur. Und Henricus begriff, dass Varinus nicht nur sich selbst gebunden hatte, sondern auch den See, damit dessen Oberfläche nie mehr etwas zurückwarf, was ihm Licht hätte sein können.
«Ein Mensch baut sich ein Gefängnis und hält die Welt darin fest», sagte Henricus später, als wir Brot teilten. «Wenn er stirbt, bleibt das Gefängnis.»
Am Morgen danach öffnete er das Gitter. Nicht mit einem Schlüssel, sondern mit dem, was er hatte: dem Spiegel, der nun einen Sprung trug wie eine Narbe. Er stellte sich so, dass der erste Strahl der Sonne, der zögernd über den Grat kroch, in die Glasfläche fiel. Ich stand weit hinten, doch ich sah, wie das Licht den See traf, als sei es nicht bloss Helligkeit, sondern Wille. Das Wasser zog sich zusammen, machte ein Geräusch, das wie eine Stimme war, die jahrelang nicht geredet hatte, und dann brach mitten im Becken ein kleiner Kreis auf – nicht gross, aber tief, ein Auge, das sich endlich öffnete.
Aus diesem Auge hob sich kein Geist, sondern ein Schatten – die Form einer Schuld, die niemand mehr bekennen kann, weil der Mund fehlt. Henricus hob nur die Hand, und die Geste sagte mehr als alle Gebete. Der Schatten fiel zurück, das Auge schloss sich. Als die davongelaufenen Ringe das Ufer küssten, roch die Luft nach Regen, der erst am Abend kommen sollte.
Ich weiss nicht, ob ich in diesem Augenblick an Gott glaubte. Aber ich glaubte an Aufrichtigkeit. Und das ist vielleicht dasselbe.
Kapitel 4 – Das Herz des Nebels
Drei Nächte lang war der See still, so still, dass die Hunde unruhig wurden. In der vierten Nacht weckte mich ein Geräusch, das ich nie gehört hatte: Lautlosigkeit, die eine Richtung hat. Ich nahm die Laterne, doch ihr Licht schien hier nicht zu gelten, als hätte der See sein eigenes Gesetz.
Henricus stand barfuss am Ufer. Seine Hände lagen offen, als warte er auf etwas, das man nicht tragen kann. Der Nebel kam, aber er war nicht mehr grau. Er war silbern, durchscheinend, eine Haut, die Licht trug, statt zu rauben. In seiner Mitte formte sich eine Gestalt, die keine war – eine Gegenwart, wie wenn man spürt, dass jemand den Raum betritt, den man liebt, und man hat noch gar nicht aufgesehen.
«Du hast das Siegel gebrochen», sagte die Gegenwart, und ich wusste, dass sie nicht zu mir sprach. «Das Licht weckt alles – auch das, was schlafen wollte.«
Henricus nickte. «Wenn ich dich weckte, will ich auch hören, was du zu sagen hast.«
«Dann tritt heran», sagte die Stimme, «und sieh, ob du tragen kannst, was du bist.»
Henricus ging in das Wasser. Es war eine so einfache Bewegung, dass mir die Tränen kamen. Ich dachte an die vielen Male, in denen ich auf grosse Zeichen gewartet hatte und die kleinen nicht erkannte.
Das Wasser nahm ihn an wie einen, der schon immer dort gewesen war. Er stand bis zur Brust in der Fläche, und um ihn her bewegte sich nichts – keine Welle, kein Luftzug, nur ein leiser Schimmer, der ihn von innen ausleuchtete. Ich konnte sein Gesicht erkennen. Es war ruhig, fast mild. Er sah in die Tiefe, und ich verstand, dass er nicht den See ansah, sondern sich selbst, und zwar jene Teile, die man gewöhnlich nicht anschaut, wenn man leben will. Ich sah in seinen Zügen die Spur einer jungen Frau – Isalda, so hatte er mir einmal leise anvertraut. Ich sah das Brandmal eines Banners, das er niedergelegt hatte, und die weisse Stelle eines Rings, den er nie getragen hatte. Ich sah die Sehnsucht, die nicht gelindert werden konnte, weil sie keinen Ort hatte.
Henricus senkte die Hand, als wolle er die Oberfläche berühren, und in dem Moment verstand ich, warum der Spiegel gesprungen war: Er teilt das Licht, damit es nicht an einem Ort bleibt. Dann neigte Henricus den Kopf, nicht unter Last, sondern aus Zustimmung, und ging tiefer. Ich schrie nicht. Es war kein Sterben. Es war eine Verabredung, die endlich eingehalten wurde.
Am Morgen fand man seinen Mantel am Schilf. In der Mitte des Sees glomm ein pulsierender Kreis, klein, aber beständig. Die Alten sagten: ein See, der sein Auge öffnet. Ich schrieb: ein Herz, das beschlossen hat zu schlagen, wenn wir schlafen.
Kapitel 5 – Der Wächter des Lichts
Im Sommer jenes Jahres wurde das Korn früh reif, und die Frauen sangen wieder auf den Feldern. Aber sie sangen leiser, als wollten sie den Takt eines anderen Liedes nicht stören, das von unten kam. In den Nächten sah man manchmal eine helle Spur über dem Wasser, als ginge jemand leichten Fusses dort, wo keiner gehen kann. Die Kinder warfen kleine Spiegel ins Ufergras und flüsterten, sie hätten gesehen, wie einer sie aufhob und ihnen das Gesicht zurückgab, sauber gewaschen.
Ich schrieb meine Predigten knapper. Es schien mir überflüssig, viel zu sagen, wenn doch ein See vor der Tür lag, der jedem, der hinsah, genau das zeigte, worum es ging: Wo du Angst hast, hältst du fest. Wo du festhältst, wird es dunkel. Wo du loslässt, ist Platz für Licht. Das ist Theologie genug.
Ein Pilger kam aus Konstanz, gelehrt, neugierig. Er brachte ein Gerät mit Spiegeln und Linsen mit, das er über die Mitte des Sees hielt, um die Stärke des Lichtes zu messen. Als er zurückkam, war sein Gesicht so bleich wie die Seiten seiner Bücher. Er setzte sich in die Sakristei, trank in zwei Zügen den Wein, den ich für die Messe aufgehoben hatte, und sagte: «Euer See hat ein Gewissen.« Ich antwortete: «Ja.» Wir schwiegen lange, und es war ein gutes Schweigen.
Manchmal, wenn Nebel aufkam, hörte ich eine Stimme, flach über der Fläche, wie wenn man die Hand reckt, um jemanden zu grüssen, der einem nicht nahekommen soll. «Fürchte dich nicht vor dem Nebel», sagte sie, «fürchte, dass dein Herz nicht hell werden will.» An solchen Tagen schrieb ich langsamer und liess manche Sätze offen. Nicht alles braucht einen Punkt.
Kapitel 6 – Die Rückkehr des Nebels
Es vergingen Jahre. Wir wurden älter, und das Dorf legte sich um den See wie ein Band, das je nach Jahreszeit die Farbe wechselt. Da kam ein Mönch aus dem Norden: Pater Severin. Ein Mann von schmalem Gesicht und Augen, die an der Welt vorbeisahen, als wäre da etwas im Jenseits, das ihn stärker zog als alles, was atmet.
Er hörte vom Licht und nannte es «Irreführung und Blasphemie». Ich verstand seinen Eifer. Eifer ist oft nichts als Angst, die Worte gefunden hat. Er predigte scharf: «Kein anderes Licht als das des Herrn!» Ich widersprach nicht öffentlich. Aber ich bat ihn, mit ans Ufer zu gehen, wenn der Abend kommt. Er willigte ein, denn Eifer ist auch stolz.
Der Nebel kam, schwer, nicht wie unser silberner, sondern wie Rauch, der zu lange im Kamin stand. Pater Severin hob das Kreuz, das er trug, als könne man damit jeden Riegel sprengen, und rief Dinge in die Dunkelheit, die ich seit Jahren nicht mehr laut gesagt hatte. Der See antwortete anders, als ich hoffte: Er zeigte ihm den Rest, den wir alle in uns tragen und den wir so gern anderen anheften, weil wir ihn nicht mehr in unserem Spiegel sehen möchten. Es stieg etwas auf aus der Tiefe – nicht der Zenturio, nicht der Mensch, sondern der Abdruck einer Wut, die jedem gehört, der das Licht benutzt, um zu richten.
Henricus erschien, wie Wasser erscheint, wenn es beschliesst eine Form zu haben. Er ging nicht auf den Mönch zu, sondern hielt an, in sicherer Entfernung, als kenne er den Wert eines Abstands. «Warum störst du, Mönchlein», fragte er, «was nicht mehr gegen dich ist?»
Severin sah nur sein eigenes fürchterliches Bild und nannte es Teufel. Ich sah seinen Mund und verstand, dass er seit Jahren nicht gegessen hatte, ohne sich zu fragen, ob er damit jemandem sündhaft recht gäbe. Hunger macht streng.
Henricus hob den gesprungenen Spiegel. Kein Strahl kam von der Sonne – es war Nacht. Und doch glomm auf der Glasfläche eine Helligkeit, die nicht von aussen war. Vielleicht war es das, was man Gnade nennt. Das Licht berührte den Schatten, und in diesem Augenblick roch die Luft nach warmem Brot.
Der Mönch sank kraftlos am Ufer nieder. Als wir zu ihm traten, sahen wir, dass seine Augen milchig waren. Blind. Aber sein Mund lächelte, zum ersten Mal, seit er bei uns war. «Ich habe Licht gesehen», sagte er, «und es war nicht gegen mich.» Wir trugen ihn in die Kirche. Er blieb bei uns, spann Wolle, schrieb leise Sätze, stellte Fragen, die keine Antworten brauchten. Sein Kreuz hängte er an den Nagel neben der Tür. Manchmal berührte er es, wie man die Schulter eines Freundes berührt, der zu viel geredet hat.
In jener Nacht erlosch das Leuchten in der Seemitte. Es kehrte nie mehr in derselben Weise zurück. Ich weiss nicht, ob ich darüber trauere. Es ist mit Zeichen wie mit Kindern: Sie müssen gehen dürfen, sonst sind sie keine Zeichen, sondern Fesseln.
Kapitel 7 – Der letzte Spiegel
Ich schreibe dies im Winter des Jahres 1332. Es ist der Winter, in dem ich sterben werde. Die Welt ist gefroren, selbst die schlauen Raben finden nichts mehr zu fressen. Ich spüre es in den Knochen, die knacken wie Zweige, und im Blick, der öfter rückwärts findet als vorwärts. Ich bin nicht traurig darüber. Es ist ein ordentlicher Schmerz, wenn man merkt, dass die Dinge ohne einen weitergehen, und ein stiller Trost, dass sie es können.
Gestern ging ich zum See. Der Schnee lag weich, der Himmel trug das helle Gewicht einer späten Sonne. Ich nahm einen kleinen, in Zinn gefassten Spiegel mit – ein Geschenk einer Frau, die ihren Mann begrub, und sagte: »Nehmen Sie, Vater, er hat sich darin immer die Haare geordnet, ehe er zu mir kam. Vielleicht braucht er ihn jetzt nicht mehr.» Ich bewahrte ihn auf, ohne zu wissen, wozu.
Ich setzte mich an jene Stelle, an der des Müllers Kind damals lag. In der Ferne rief ein Vogel, der zu früh zurückgekehrt war. Ich hielt den Spiegel flach, sodass er den Himmel trug. Nichts geschah, und doch war alles da: der Atem des Wassers, der Schritt eines Mannes, der seit Jahren keine Schuhe trägt, das Gewicht meines Alters, das sich plötzlich leicht anfühlte, als hielte es sich selbst.
»Henricus«, sagte ich, du hast das Licht nicht im Wasser gehalten. «Du hast es in uns eingesetzt.» Ich wartete, nicht auf eine Antwort, sondern auf jene besondere Ruhe, die Worte bekommen, wenn man sie nicht forciert.
Dann sah ich etwas, das ich kaum beschreiben mag: keine Gestalt, kein Gesicht – eine Bewegung, so fein wie das Zucken eines Lidrandes, wenn ein Kind schläft. Es war, als lege sich eine Hand aus Licht über das Wasser. Nicht, um es zu glätten, sondern um ihm zu sagen: Ich bin da, auch wenn du mich nicht siehst. Im Spiegel lag für einen Augenblick ein Kreis, der keiner war – eher eine Zustimmung. Ich senkte das Glas und blieb lange sitzen, bis die Kälte den Rücken fand, der sich zusammenzog.
Heute Morgen habe ich den Spiegel auf die Vierung meines Tisches gelegt. Ich werde darum bitten, man möge ihn mir auf die Brust legen, wenn ich einst im Sarg liege. Nicht weil ich Beweise sammeln will, sondern damit die, die mich ansehen, sich selbst kurz sehen – und nicht erschrecken.
Epilog – Randnotiz im Messbuch
An Palmsonntag, im Frühling nach Anselms Tod, sassen die Kinder wieder am Ufer. Die Sonne wärmte das Land und verhalf ihr zur Frühlingsblüte. Sie warfen kleine Spiegel aus Scherben ins Gras und lachten darüber, wie die Sonne darin zu tanzen schien. Ein Mädchen – die Enkelin des Müllers – fragte ihre Mutter, ob der Mann im See noch wache. Die Mutter antwortete: «Wenn du ihn brauchst, ist er da.»
Die Fischer erzählen, dass der See an manchen Abenden ein helles Auge trägt, aber keiner glaubt dem anderen, und es tut auch nicht Not. Der Mönch Severin blieb im Dorf, er spann die feinste Wolle. Er lacht, wenn die Tiere niesen, und weint, wenn die Glocke zu schnell schlägt. Er berührt sein Kreuz nicht mehr, er legt es auf den Tisch, wenn er isst. Ich glaube, er hat Hunger gelernt.
Ich – der Schreiber dieser Zeilen – bin dann schon fort. (Ein fremder, jüngerer Priester hat diese Notiz eingefügt: »Unser Pfarrer Anselm verschied sanft, den Zinnspiegel auf der Brust. Die Sonne stand durch das Westfenster und traf das Glas, ehe wir das Tuch darüberlegten.»
Im Turm über dem See steht noch das Relief. Einmal im Jahr wische ich, der Nachfolger, den Stein mit Wasser aus dem See. Nicht aus Aberglauben, sondern um die Inschrift lesen zu können, damit ich nie vergesse, was sie bedeutet: dass ein Mensch das Licht verfluchen kann. Und dass ein anderer es ihm zurückgibt, nicht mit einem Schwert, sondern mit einem Spiegel.
Und wenn der Nebel kommt – denn er kommt in jedem Leben –, halte ich kurz inne, ehe ich rede. Ich frage mich: Will ich recht haben, oder will ich heilen? Dann erst nehme ich die Stimme Gottes in den Mund, achtsamer als früher, und spreche Worte, die Henricus mich gelehrt hat, ohne sie je auszusprechen:
Fürchte dich nicht vor dem Nebel.
Fürchte, dass dein Herz nicht hell werden will.










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