Hedwig, die Riedhüterin
- thomasvonriedt
- 25. Nov.
- 5 Min. Lesezeit

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Nach der Nacht, in der Wieland und Walther zurückgekehrt waren, wurde im Haus der Familie Gero vieles anders.
Nicht laut und plötzlich, sondern leise – so wie der Nebel im Ried, der kommt, ohne dass man ihn heranfliegen sieht.
Die Zwillinge gingen wieder aufs Feld, halfen dem Vater, lachten und stritten wie früher.
Baby Uta wuchs, lernte krabbeln und bald schon laufen.
Grossvater Ulf sass oft vor dem Haus, schaute lange zum Fischbach hinüber und sagte manchmal nur:
„Wie still das Ried heute ist.“
Doch Hedwig war nicht mehr dieselbe.
Sie war die Älteste. Sie war die Schwester, die gerufen hatte, war die, die gesehen hatte, wie ihre Brüder im Wasser verschwanden.
Und auch wenn alles gut ausgegangen war, blieb in ihr ein kleines Zittern zurück – nicht vor Angst, sondern vor Verantwortung.
Am Morgen nach der Rettung ging Hedwig allein zum Bach.
Nicht bis zum Teich.
Nur bis zur Grenze, die die Eltern immer genannt hatten.
Dort setzte sie sich ins Gras.
Sie schaute auf die Stelle, wo aus den Schutzäpfeln die violetten Blumen gewachsen waren.
Das Knabenkraut stand da wie eine kleine Armee aus Licht.
Es duftete warm. Es wirkte stark.
„Ihr habt uns gerettet“, flüsterte Hedwig.
„Und ich werde euch schützen.“
Sie sagte das nicht zu jemandem, der sie hören sollte.
Sie sagte es, weil sie es meinte.
Von da an ging Hedwig oft ans Ried – immer mit Respekt, nie leichtsinnig.
Sie kannte jeden sicheren Pfad, jeden trockenen Hügel, jedes Schilfband.
Sie lernte, wie der Boden klingt, wenn er fest ist.
Und wie leise er schmatzt, wenn er gefährlich wird.
Grossmutter Gunda sah es und nickte eines Abends.
„Du hast das Ried im Herzen“, sagte sie.
„Das ist eine Gabe. Und eine Aufgabe.“
„Ich will nicht, dass jemand die Blumen zertritt“, antwortete Hedwig.
„Oder sie ausreisst. Oder dass Kinder wieder …“
Sie brach ab, denn der Satz tat noch weh.
Gunda legte einen Arm um sie.
„Dann werde ich dir zeigen, was ich weiss.“
So begann Hedwigs Ausbildung.
1. Ausbildung
Die ersten Regeln der Riedhüterin
Gunda zeigte Hedwig, wie man im Ried geht:
langsam, mit offenen Augen, ohne zu prahlen.
Sie zeigte ihr, welche Vögel im Schilf nisten,
wo die Frösche ihre Eier ablegen,
und wann die Libellen schlüpfen.
„Eine Riedhüterin schützt nicht nur die Blumen“, erklärte Gunda.
„Sie schützt alles, was hier lebt.“
Hedwig lernte, dass man das Knabenkraut nicht pflückt,
auch nicht für den schönsten Kranz der Welt.
Man freut sich daran, dort, wo es wächst.
Sie lernte auch, warum die Blume so selten war:
Weil sie nur blüht, wenn das Ried in Frieden bleibt.
Wenn niemand die Erde zertritt.
Wenn das Wasser nicht vergiftet wird.
Wenn man nicht nimmt, was man nicht braucht.
„Und wenn doch jemand kommt?“ fragte Hedwig.
Gunda grinste ein bisschen.
„Dann redest du zuerst. Freundlich.
Und wenn er nicht hört, dann weisst du, wo das Ried tief ist und wo nicht.“
Hedwig musste lachen.
Zum ersten Mal ohne Knoten im Bauch.
2. Hedwigs Versprechen
Ein Jahr verging.
Dann noch eins.
Immer im Frühling, wenn die Sonne wieder stärker wurde und das Ried nach neuem Leben roch, ging Hedwig zu den Blumen.
Sie zählte nicht Münzen wie der alte Burgherr von Riedt, sondern Blüten.
Nicht aus Gier.
Sondern aus Liebe.
„Eine, zwei, drei …“, flüsterte sie manchmal.
Und jede Blüte war für sie wie ein kleines „Danke“.
Eines Abends, kurz bevor Hedwig selbst erwachsen wurde, stand sie am Rand des Rieds, dort, wo der Fischbach die Grenze macht.
Die Zwillinge waren jetzt fast so gross wie ihr Vater.
Uta tanzte mit einem Hölzchen im Sand.
Hedwig spürte, dass ihre Kindheit vorbei war.
Und trotzdem wusste sie: Etwas bleibt.
Sie kniete im Gras, legte die Hand auf die Erde und sagte leise:
„Ried, ich passe auf dich auf.
Und wenn ich einmal nicht mehr da bin, wird eine nach mir kommen.“
Der Wind fuhr leicht durchs Schilf, als hätte das Ried geantwortet.
3. Die Riedhüterinnen
Als Hedwig später selbst Töchter bekam, nahm sie die älteste zum ersten Mal mit an den Bach.
Genauso, wie Gunda es getan hatte.
„Siehst du die violettfarbigen Blumen dort?“, fragte sie.
Die Kleine nickte mit grossen Augen.
„Das ist Knabenkraut. Es ist selten. Es ist kostbar.
Und es gehört zum Ried. Nicht zu uns.“
„Warum ist es so wichtig?“, fragte das Mädchen.
Hedwig setzte sich ins Gras, ganz nah bei ihr.
Und erzählte – nicht von Schrecken, sondern von Mut.
Von zwei Brüdern, die gelernt hatten, aufeinander zu achten.
Von einem Grossvater, der nicht vergessen wollte, wer er war.
Und von einer Blume, die schützt, wenn man sie schützt.
„Und wer passt jetzt darauf auf?“, fragte ihre Tochter.
Hedwig lächelte.
„Wir beide.
Und eines Tages du.
Und eines Tages deine Tochter.“
So wurde aus Hedwig die erste Riedhüterin.
Und es blieb nicht nur bei ihr.
Jede Generation gab das Wissen weiter –
von Mutter zu Tochter,
von grosser Schwester zu kleiner Schwester,
von Tante zu Nichte.
Sie lernten:
wo man sicher gehen kann und wo nicht,
wie man mit Gästen freundlich spricht,
wie man Kindern das Ried erklärt, ohne ihnen Angst zu machen,
und wie man Blumen schützt, indem man sie lässt, wo sie sind.
Mit den Jahrhunderten änderte sich die Welt.
Die Häuser wurden aus Stein.
Der Müller bekam bessere Räder.
Später kamen Wege, Brücken, schliesslich sogar die Betonstrasse mit der S-Kurve.
Aber im Ried blieb etwas gleich:
Die Hüterinnen gingen weiter.
Mal trugen sie Wollkleider.
Mal Schürzen.
Heute tragen sie Gummistiefel, Rucksäcke und manchmal ein Fernglas um den Hals.
Aber ihr Herz ist dasselbe.
4. Bis heute
Auch in unseren Tagen gibt es eine Riedhüterin.
Vielleicht ist sie eine Biologin.
Vielleicht Lehrerin, Mutter.
Oder ein Mädchen, das du kennst.
Sie geht im Frühling durchs Neeracher Ried, sieht nach dem Wasserstand, beobachtet die Vögel – und freut sich, wenn sie die ersten violettfarbigen Knospen entdeckt.
Und wenn jemand die Blumen pflücken will, sagt sie freundlich:
„Schau sie dir an.
Riech an ihnen.
Mach ein Foto, wenn du magst.
Aber lass sie stehen.
Sie sind ein Geschenk für alle.“
Wenn Kinder zu nahe ans Sumpfloch kommen, ruft sie:
„Stopp, da vorn ist es weich!
Kommt lieber hier entlang.“
Und manchmal erzählt sie eine Geschichte.
Von Hedwig.
Von den Zwillingen.
Vom Knabenkraut.
Vielleicht sitzt du irgendwann im Gras, hörst ihr zu und schaust auf die violettfarbigen Blüten.
Dann weisst du:
Diese Blumen blühen nicht nur, weil der Frühling kommt.
Sie blühen auch, weil Menschen auf sie aufpassen.
Seit sehr langer Zeit.
Und bis heute.
Und wer weiss –
vielleicht bist du einmal der Mensch, der einer Blume zulächelt, sie stehen lässt
und damit selbst ein kleines bisschen Riedhüterin oder Riedhüter wird.










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