Hansli, warum rännsch eso?
- thomasvonriedt
- 25. Jan.
- 3 Min. Lesezeit

Eigentlich war alles wie immer. Die Mutter kam in fröhlichster Stimmung ins Zimmer der Buben, riss zur Bestürzung des älteren Bruders die Fenster und Fensterläden auf. „Luft und Sonne sollen rein!“ Doch draußen war es kalt, neblig und feucht, was kaum zum schnellen Aufstehen animierte. So folgte lediglich eine Katzenwäsche im engen Badezimmer, anschließend das Frühstück am Küchentisch mit Porridge, Zucker und Zimt.
Es galt, den langen Schulvormittag durchzuhalten – von 8:00 bis 12:00 Uhr, mit einer großen Pause um 10:00 Uhr. Im Vorraum zur Turnhalle wurde in jenen Jahren Schulmilch ausgeschenkt, kostenlos. Wer etwas dabei hatte, aß dazu den von zu Hause mitgebrachten Znüni. Ein paar privilegierte Kinder kauten genüsslich an einem Pausenbrötli, einer Art Semmel aus sehr grobem, gesundem Mehl – dunkel und mit Weinbeeren darin.
Das Wetter war unfreundlich, es nieselte aus den Nebelwolken, und die Mutter bestand darauf, dass Hansli die Pelerine anzog – ein kurzer Schulterumhang, der über der Kleidung getragen wurde und meist aus einem abscheulichen, plastifizierten Leinenstoff bestand. Die Muster waren so scheußlich wie die Tischtücher auf dem Küchentisch. „Hansli, es ist kalt draußen! Du ziehst die Mütze an, damit du nicht auch noch eine Ohrenentzündung bekommst.“
Gehorsam zog er sich die blau-gelbe Mütze über den Kopf. Das gestrickte Halstuch in denselben Farben blieb ihm erspart. Dann folgte die verhasste Regenhaut, und schließlich wurde der Schulranzen auf den Rücken geschnallt. Sein Bruder hatte die Wohnung längst verlassen. Er fuhr mit dem Fahrrad zu einem etwas weiter entfernten Schulhaus, in dem auch die Mutter einst Schülerin gewesen war. Es war nun Zeit für den Aufbruch, und Hansli stürmte los.
Seltsam, wie ruhig es im Treppenhaus war. War die Freundin aus dem unteren Stock schon unterwegs? Der Bub bummelte die Straße hinauf, dann den steilen Fußweg hinunter zur Unterführung. Unter den Kindern hatte die Unterführung etwas Gespenstisches: Am anderen Ende gab es eine Metalltür, hinter der man – so behauptete man – den Teufel werkeln hören konnte, wenn man das Ohr daranlegte. Hansli nahm die Treppe im Galopp – man wusste ja nie, ob der Leibhaftige nicht hinterherkam.
Hansli marschierte die Winterthurer Straße entlang bis zum Lebernweg, bog dann hinunter in die Binzwiesenstraße und ging geradeaus bis zur Markuswiese. Am Brunnen löschte er noch seinen quälenden Durst und spritzte ein wenig Wasser in die Umgebung.
Es war eigenartig: Üblicherweise traf man hier immer die Kinder aus dem unteren Teil des Quartiers. Doch keine Menschenseele war zu sehen, und schon gar keine anderen Schüler. Langsam wurde ihm mulmig. „Bin ich vielleicht zu spät unterwegs?“, fragte er sich. Bis zum Schulhaus war es nicht mehr weit. Zuerst musste die Regensbergstraße überquert werden, dann ging es am Kindergarten Apfelbaum vorbei, wo die Kindergärtnerin den Unterricht vorbereitete. An der gefährlichen Schwamendingen Straße galt vor allem: „Luege, lose, laufe – länger läbe!“ Diese fünf „L“ hatte Schulpolizist Meier den Kindern schon im Kindergarten beigebracht, und alle hielten sich daran.
Nun noch die Magdalenen Straße überqueren, und schon war das Schulhaus Apfelbaum in Sicht. Das „Öpfi“, wie es allgemein genannt wurde, war ein Neubau aus den 1950er-Jahren mit zwei Eingängen. Jeder Eingang führte zu je zwei Schulräumen auf drei Stockwerken – alles hell und freundlich.
Als Hansli das Schulgelände betrat, hörte er die Glocke schrillen. Es war fünf vor zwölf, und er rannte los. Wer nach dem Läuten ins Klassenzimmer kam, musste mit einem Verweis oder gar einer Strafe rechnen. So sprintete er über den Pausenplatz, sah dabei eine Lehrerin mit jemandem sprechen und zog sich in der Hoffnung, unerkannt zu bleiben, die Mütze tief ins Gesicht. Aufgelöst und völlig durchgeschwitzt erreichte er das Klassenzimmer von Fräulein Scheu – und was dann geschah, wusste nur er selbst.
Warum die Geschichte bekannt wurde?
Irgendwann erfuhren die Eltern davon, weil sie Bekannte im Lehrberuf hatten, die über die Taten der Kinder plauderten, noch bevor diese die Chance hatten, selbst davon zu erzählen.









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