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Das Wildmandli

  • thomasvonriedt
  • 25. Nov.
  • 3 Min. Lesezeit
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In einem abgelegenen Bergdorf in den Walliser Alpen lebte eine Mutter mit ihren fünf Söhnen. Ihr Mann war vor Jahren bei einer Rettungsaktion ums Leben gekommen – er war in eine Felsspalte gestürzt, als er versucht hatte, die einzige Ziege der Familie zu retten. Seit jenem Tag lebten sie in bitterer Armut.

 

Im Sommer ging es gerade noch so: Die Buben halfen, Beeren zu sammeln, Pilze zu suchen und Heilkräuter zu pflücken, die ihre Mutter auf dem Markt im Tal verkaufte – sie verstand viel von den Gaben der Natur. Doch wenn der Winter kam, lang und hart wie ein grauer Wolf, wurde die Not zur ständigen Begleiterin. Oft musste sie ihre Kinder mit leerem Magen schlafen schicken, und jedes Mal zerriss es ihr das Herz.

 

Eines Abends, als sie in der kleinen Stube sass und leise weinte, flackerte das Licht der Öllampe – und in der Ecke erschien ein seltsames Wesen. Klein war es, zottelig, mit struppigem Bart und funkelnden Augen. Es sah aus, als stamme es aus einer anderen Zeit – ein Wildmandli, wie man es aus den alten Sagen kannte.

 

„Warum vergiesst du so viele Tränen?“, krächzte es.

 

Die Mutter erzählte ihm von ihrer Not. Da sprach das Wesen mit rauer Stimme:

„Ich kann dafür sorgen, dass ihr immer genug zu essen habt – Brot, Milch, alles, was ihr braucht. Doch deine Söhne müssen mir dafür je ein Jahr lang dienen. Sie sollen tun, was ich befehle. Versagt einer von ihnen, gehört deine Seele mir.“

 

Verzweifelt und müde vom Kampf gegen die Kälte stimmte die Mutter zu.

 

Der Älteste musste in den Ferien für das Wesen in gefährliche Höhen steigen, um seltene Kräuter zu pflücken – solche, die nur noch in uralten Kräuterbüchern beschrieben sind. Die Mutter bangte um ihn, mahnte ihn aber jeden Tag, dankbar zu bleiben – und nie Brot oder Milch zu nehmen, ohne vorher zu danken.

 

Als das Jahr vorüber war, folgte der zweite Sohn. Er musste tief in die Gletscherspalten hinabsteigen, um dort glitzernde Steine zu bergen. Das Wesen behauptete, daraus könne man Gold gewinnen. Und so erging es auch dem dritten und vierten Sohn – jeder von ihnen hatte ein Jahr voller Mühsal und Gefahr zu bestehen.

 

Die Mutter, obwohl ihr Tisch nun nie leer blieb, wurde immer schwächer – vor Sorge, dass sie am Ende keinen ihrer Buben mehr zurückbekäme.

 

Der jüngste, Seppli, war ein schmächtiger Junge mit klarem Verstand und grossem Herzen. Als seine Zeit kam, grinste das Wildmandli hämisch. Es war sich sicher, dass dieser Kleine scheitern würde.

„Bring mir vor Sonnenuntergang die Betzeitglocke aus dem Dorf – aber nicht irgendeine! Ich will die grosse, die zum Gebet ruft.“

 

Die Glocke, ein moderner Bronzeguss, hing in der kleinen Kapelle – das letzte Stück vergangener Zeiten, bewahrt trotz aller Neuerungen.

 

Seppli stieg hinab ins Dorf, trat in die Kapelle und kniete nieder. „Bitte“, flüsterte er, „ich brauche deine Hilfe. Sonst ist alles verloren.“

 

Da begann die Glocke leise zu beben. Sie hatte in den Jahrhunderten viele Gebete gehört, und eine warme Stimme antwortete: "Ich sehe dein Herz, Seppli. Es ist rein, ich möchte dir helfen.»

 

Der Junge machte sich auf den Rückweg, während die Dämmerung sich über den Berg legte. Als er beim Höhleneingang des Wildmandlis ankam, stand das Wesen schon da – überzeugt, dass Seppli mit leeren Händen kam.

 

Doch da erzitterte die Erde. Ein dumpfer Klang wuchs an, kam näher und näher – und plötzlich rollte die grosse Betglocke, scheppernd und klingelnd, den Hang hinauf, als trüge sie eine unsichtbare Macht. Sie donnerte direkt auf das Wildmandli zu und begrub es unter sich, ehe es noch schreien konnte.

 

Seppli rief seine Brüder. Als sie eintrafen, war die Glocke verschwunden. Doch an der Stelle, wo das Wesen gestanden hatte, klaffte ein Spalt im Boden. Neugierig blickten sie hinab – und fanden eine alte, verrostete Metallkiste.

 

Darin lagen Goldstücke, Kristalle und glänzende Mineralien – ein Schatz aus vergessener Zeit.

 

Sie trugen die Kiste heim zur Mutter. Als sie ihr die Neuigkeit erzählten, lachte und weinte sie gleich zeitig – und mit einem Mal kehrte ihre Kraft zurück.

 

Von da an lebten sie ohne Not. Und als sie an diesem Abend gemeinsam beteten, hörten sie – aus weiter Ferne – das Läuten der Betzeitglocke. Ganz so, als würde sie ihren Segen über sie schicken.

 

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