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Ein Platz am Tisch

  • thomasvonriedt
  • vor 6 Tagen
  • 11 Min. Lesezeit
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Ein warmherziges Adventsmärchen über Verlust und Heimkehr – und über ein Geschenk, das alles verwandelt.



 

1. Advent

 

Als ich an diesem ersten Advent durch die Strassen unserer Stadt ging, sah ich ihn sofort. Ein Mann, zusammengesunken auf einer Parkbank, umgeben von ein paar Papiersäcken und einem Einkaufswagen – einem mobilen Zuhause auf vier quietschenden Rädern. Er wirkte, wie man es leider zu oft sieht: mager, erschöpft, vom Wind gezeichnet, mit struppigem Haar, wildem Bart und einer Jacke, die schon viele Winter gesehen hatte.

 

Mein erster Gedanke war der übliche – und ich schämte mich fast im selben Moment dafür. Er wird das Geld ohnehin für Alkohol ausgeben. Ein Satz, den man schnell denkt, wenn man bequem lebt. Doch dann hob er den Kopf. Seine Augen hatten etwas, das mich festhielt: Wärme, Traurigkeit, aber vor allem Würde. Etwas sehr Menschliches.

 

Ich blieb stehen. Entgegen meiner Gewohnheit ging ich hinüber.

 

„Guten Tag“, sagte ich. „Kann ich Ihnen helfen? Ich … ich bin oft unsicher, ob eine Spende wirklich ankommt. Oder irre ich mich damit?“

 

Er winkte mich näher, als hätte er auf genau diesen Moment gewartet. „Setzen Sie sich doch“, sagte er ruhig. „Wenn Sie ein paar Minuten haben. Es ist erster Advent. Ein guter Tag, um sich daran zu erinnern, dass wir nicht allein auf der Welt sind.“

 

Ich setzte mich neben ihn. Er lächelte flüchtig.

 

„Sie sehen aus, als hätten Sie es geschafft im Leben“, fuhr er fort. „Vielleicht tut es auch Ihnen gut, einmal nicht nur an Zahlen zu denken. Ich kann Ihnen nichts geben – ausser einer Geschichte. Und manchmal ist eine Geschichte mehr wert als ein paar Münzen.“

 

Er atmete tief durch, als würde er einen schweren Koffer öffnen.

 

„Seit Jahren lebe ich auf der Strasse. Im Sommer geht es, aber wenn der Winter kommt, wird alles eng. Es gibt Notunterkünfte, ja. Aber dort gibt es Regeln. Man muss um zehn drin sein, um sechs raus, man teilt sich Räume mit Fremden, und manchmal fühlt man sich dort weniger als ein Mensch, wie eine Nummer. Also habe ich mich oft dagegen entschieden. Blöde Sturheit vielleicht. Oder der letzte Rest Selbstbestimmung.“

 

Er räusperte sich. „Ich heisse Reinhold. Reinhold M. aus B. Und glauben Sie mir: Ich war nicht immer hier.“

 

Er erzählte leise, ohne Pathos, aber mit einer Klarheit, die fast wehtat.

 

„Ich bin in den Vierzigerjahren in einer ganz normalen Mittelstandsfamilie gross geworden. Keine Glanzgeschichte, aber eine gute Kindheit. Schule, Berufslehre, ein solider Einstieg bei den Bahnbetrieben. Ein sicherer Job, geregelte Zeiten, eine Pensionskasse – alles, was man braucht, um ein Leben aufzubauen.

 

Und ich baute es auf. Ich heiratete eine Frau, die ich liebte. Wir bekamen drei Kinder, im Abstand von zwei Jahren. Ich war glücklich, so richtig. Beruflich ging es voran, wir lebten bescheiden, aber gut. Ich dachte: So sieht Zukunft aus.

 

Er lächelte kurz in die Erinnerung hinein.

 

„Dann kam dieses Angebot, ins Ausland zu gehen. Afrika. Ein Projekt, das eigentlich ein Jahr dauern sollte. Ein Abenteuer, ein Karriereschritt. Wir überlegten lange. Am Ende entschieden wir, dass die Kinder bleiben. Ich sollte allein gehen. Vernünftig dachten wir.

 

Der Abschied war schwer, aber voller Hoffnung. Wir schrieben uns, anfangs oft. Die Kinder legten ihre Zeichnungen in die Briefe. Ich trug sie wie kleine Schätze bei mir.“

 

Er senkte den Blick.

 

„Doch nach dem ersten Jahr wurden die Briefe seltener. Kürzer. Irgendwann kam der Brief, der mir den Boden wegzog: Meine Frau hielt die Fern-Ehe nicht mehr aus. Sie hatte die Scheidung eingereicht. Und sie würde zu Heinrich Z. ziehen.“

 

Er schüttelte den Kopf. „Es tat weh. Nicht nur ihretwegen. Sondern weil ich spürte, dass auch die Kinder weitergezogen waren – ohne mich. Ich war weit weg, und ich war nicht der, der um sie kämpfen konnte, aus der Ferne, über Kontinente hinweg. Ich unterschrieb.“

 

Reinhold schwieg eine Weile, als müsste er die Szene noch einmal durchstehen.

 

„Ich blieb noch in Afrika. Arbeit war das Einzige, das mich aufrecht hielt. Als ich nach zwei weiteren Jahren zurückkam, war ich innerlich leer. Ich fand eine kleine Unterkunft, einen neuen Job, aber ich hatte meinen Tritt verloren. Ich war nicht mehr im alten Rhythmus, nicht mehr in der alten Ordnung. Ich machte Fehler, wirkte verwahrlost, war schnell gereizt. Die Kollegen hielten Abstand. Ich hielt auch Abstand. Und irgendwann stand ich im Büro des Personalchefs. Man verlängerte mir ‚grosszügig‘ die Kündigungsfrist. Drei Monate. Dann sollte ich gehen.“

 

Er lachte kurz, bitter. „Auf dem Papier war es fair. Im Herzen war es ein Fall nach unten.“

 

Er erzählte von der Nacht, in der er trank, von der Auseinandersetzung mit Heinrich, von der Polizeiwache. Nicht entschuldigend, nicht beschönigend.

 

„Und dann ging es los, dieses Rutschen. Erst der Alkohol. Dann immer neue Jobs – immer kürzer. Immer weniger Halt. Irgendwann war ich nur noch irgendeine Hand für irgendein Lager. Dann kam auch das nicht mehr. Als die Unterstützung auslief, war die Wohnung weg. Und irgendwann war ich hier.“

 

Er strich über seine Jacke, als wäre sie ein alter Mantel der Erinnerung.

 

„Man wird still, wenn man lange so lebt. Man wird unsichtbar. Gelegentlich sah ich meine Kinder. Sie erkannten mich nicht. Meine Frau ging an mir vorbei, als wäre ich Luft. Und wissen Sie … ich habe es ihr nicht einmal mehr übel genommen. Wer schaut schon hin, wenn er nicht hinschauen muss?“

 

Er hob wieder den Kopf. Seine Augen waren feucht, aber klar.

 

„Aber ich habe auch gelernt: Hoffnung kann dünn sein wie Papier – und trotzdem trägt sie. Ich bin alt. Ich habe Fehler gemacht. Aber ich glaube, es ist noch nicht zu spät, wieder Mensch unter Menschen zu werden. Wenn nicht für alles, dann wenigstens für den Rest.“

 

Er schwieg. Ich sagte nichts. Die Kälte sass auf der Bank zwischen uns, und doch hatte ich das Gefühl, als wäre ein warmer Luftzug gekommen, irgendwo aus einer Tür, die sich gerade öffnete.

 

Ich zog meine Brieftasche hervor, nahm einen Fünfzig-Franken-Schein, legte ihn ihm in die Hand und drückte seine Finger kurz.

 

„Danke, dass Sie mir Ihre Geschichte anvertraut, haben“, sagte ich.

 

Er nickte nur. „Danke, dass Sie zugehört haben.“

 

 

2. Advent

 

Die ganze Woche dachte ich an Reinhold. An seine Stimme, seine Augen. Und an meinen ersten Gedanken, den ich so selbstverständlich gehabt hatte. Ein Teil von mir – der bequeme, zynische – flüsterte: Er hat das Geld längst versoffen. Ein anderer Teil antwortete leiser: Vielleicht war es eine warme Nacht. Vielleicht ein Essen. Vielleicht ein Anfang.

 

Der zweite Advent kam. Es war nass, grau, die Strassen glänzten wie frisch lackiert. Die Stadt war voller Menschen, voller Lichter, voller Eile. Über den Gassen hing die Weihnachtsbeleuchtung, und selbst der Himmel schien heller, als hätte er eine Ahnung davon, was bald gefeiert wird.

 

Vor einer Bankfiliale auf dem Boden sah ich Reinhold sitzen. Vor ihm eine Schachtel mit wenigen Münzen, daneben ein Karton: „Danke für Ihre milde Gabe.“

 

Ich blieb stehen. Diesmal ohne inneren Widerstand.

 

„Hallo, Reinhold.“

 

Er schaute auf – und ich stockte. Er war verändert. Die Kleidung war sauber, der Bart kürzer, das Haar ordentlich. Er wirkte … wacher.

 

„Sie wieder“, sagte er und lächelte.

 

„Hast du Zeit für etwas Warmes?“, fragte ich. „Wie wäre es mit einem Fondue?“

 

Sein Lächeln wurde breiter. „Fondue? Ich weiss nicht mehr, wann ich das letzte Mal Fondue gegessen habe. Ja. Das wäre schön.“

 

Wir gingen in eine der Fonduehütten am Weihnachtsmarkt. Drinnen war es dicht und warm, ein Gemisch aus Käse, Holzrauch und Winterparfüm. Die Leute am Eingang musterten Reinhold kurz – dann mich – und machten uns doch Platz. Ich spürte die Blicke, das Tuscheln. Es irritierte mich weniger, als ich erwartet hatte. Vielleicht, weil Reinhold so selbstverständlich war. Er setzte sich, als hätte er jedes Recht auf diesen Stuhl, und genau so war es.

 

Das Fondue kam, wir tauchten Brot in den Käse, und nach den ersten Minuten war alles normal. Das ist das Wunder am gemeinsamen Essen: Es nimmt einem den Rang ab und gibt einem das Menschsein zurück.

 

Reinhold erzählte, was er mit dem Geld gemacht hatte. Keine grosse Rede, kein Rechtfertigen.

 

„Ein Bett. Eine Dusche. Und neue Unterwäsche“, sagte er. „Klingt banal, aber … das hat mich an früher erinnert. An mich.“

 

Er sah mich an. „Und ich trinke weniger. Nicht weil ich plötzlich besser bin. Sondern weil ich wieder ein Ziel habe.“

 

Ich nickte.

 

Irgendwann begann ich selbst zu reden, ohne es zu merken. Von meiner Kindheit, vom frühen Tod meines Vaters, vom Stiefvater, der „in Ordnung“ war, aber nie wirklich nah. Von der Arbeit, die gut lief, und von einem Leben, das sich äusserlich richtig anfühlte – und innerlich manchmal leer.

 

„Ich weiss bis jetzt nicht, wie ich Weihnachten verbringen soll“, gab ich zu. „Ich habe Geschwister. Zwei jüngere. Wir sehen uns selten. Vielleicht sollte ich sie einfach einladen.“

 

Reinhold hörte zu, ohne zu unterbrechen. Und ich spürte, wie leicht es war, wenn man sich nicht rechtfertigen muss.

 

Kurz vor Mitternacht standen wir draussen. Die Luft war kalt, aber ich fror nicht. Die Lichter über uns funkelten, und über dem Marktplatz hing ein Zug von Musik und Lachen.

 

„Danke, Reinhold“, sagte ich.

 

Er nickte nur. „Manchmal reicht ein Platz am Tisch.“

 

Ich ging heim – und hatte das Gefühl, dass mir jemand ein unsichtbares Licht ins Herz gestellt hatte.

 

 

3. Advent

 

Am Montag schwang noch ein Rest Fendant in meinem Kopf, aber es war ein guter Kopfschmerz. Einer, der eher an ein Lachen erinnerte als an Reue. Die Woche im Büro verging schnell. Die Zahlen stimmten, die Stimmung auch. Ich merkte, dass ich freundlicher war – nicht aufgesetzt, eher wie jemand, der sich erst jetzt erlaubt, zu merken, dass Menschen keine Posten sind.

 

Sofia brachte mir Kaffee, und ich bedankte mich ehrlich. Cindy und Elisabeth wechselten verwunderte Blicke, als ich morgens grüsste und fragte, wie ihr Wochenende gewesen sei. Ich hätte nie gedacht, dass so wenig so viel verändern kann.

 

Am Sonntag musste ich noch einmal ins Büro, ein paar Unterlagen holen. Ich liess den Wagen stehen und fuhr mit Tram und Bus. Warum? Vielleicht tat mir die Stadt so gut, wenn sie langsamer vorbeizog.

 

Am Wettinger Platz stieg ich aus und ging zur Stehbar für einen Espresso. Und da stand er.

 

Reinhold.

 

„Reinhold!“ Ich war wirklich überrascht. Er sah jünger aus – nicht nur im Gesicht, sondern in der Art, wie er stand.

 

„Ich grüsse dich“, sagte er. „Und diesmal wirklich aus einem besseren Morgen heraus.“

 

Wir setzten uns mit Kaffee an einen Tisch.

 

„Ich habe eine Unterkunft gefunden“, erzählte er. „Eine Einrichtung, die Menschen wie mir hilft, wieder auf die Beine zu kommen. Kein Zwang, kein Druck – aber Struktur. Ein kleines Zimmer, zwanzig Leute, ein gemeinsamer Alltag. Die Betreuer haben mir geholfen, einen Antrag auf Rente und Ergänzungsleistungen zu stellen. Und ja … ich halte mich an ein paar Regeln: pünktlich sein, Verantwortung übernehmen, weniger trinken.“

 

Seine Stimme vibrierte vor etwas, das ich lange nicht bei ihm gehört hatte: Stolz.

 

„Mein Körper ist mitgenommen“, gab er zu. „Aber die Ärzte sagen, es ist nicht zu spät, wenn ich es ernst meine. Und das tue ich.“

 

Wir redeten lange. Ich erzählte ihm mehr von mir, von meinen Geschwistern, meiner Mutter, der Distanz, die sich eingeschlichen hatte. Er hörte wie immer zu, ruhig, aufmerksam, als hätte er Zeit in der tiefsten Bedeutung des Wortes.

 

Als ich auf die Uhr sah, war es spät. Der Kiosk war schon geschlossen, die Pappbecher leer.

 

Ich gab ihm meine Visitenkarte. „Melde dich nächsten Samstag. Ich würde dich gern vor Weihnachten noch einmal sehen.“

 

Er steckte sie ein und zwinkerte. „Ich melde mich.“

 

Ich fuhr heim, und die dunklen Scheiben der Tram spiegelten ein Gesicht, das mir selbst vertrauter vorkam als noch vor drei Wochen.

 

 

4. Advent

 

Die letzte Arbeitswoche vor Weihnachten war sonst immer eine Pflichtübung gewesen: Abschlüsse, Botschaften der Konzernleitung, ein formeller Toast, dann Stille.

 

Dieses Jahr war anders. Ich spürte es schon am Montag. Und ich wollte, dass es auch für die anderen anders wird.

 

Am Freitag liess ich früher Feierabend machen. Sofia besorgte Pizza und Prosecco, Elisabeth und Cindy schmückten den Besprechungsraum ein wenig – nicht kitschig, einfach warm.

 

Als alle versammelt waren, sagte ich: „Ich möchte Ihnen danken. Nicht nur für Zahlen und Resultate. Sondern für Einsatz, Zuverlässigkeit, und dafür, dass wir hier jeden Tag zusammen etwas schaffen. Dieses Jahr war aussergewöhnlich – wegen Ihnen. Die Gratifikationen sind entsprechend. Aber heute will ich vor allem, dass wir miteinander anstossen. Ohne Programm. Einfach als Menschen.“

 

Ich hob das Glas. „Frohe Feiertage.“

 

Ich sah Tränen, Lachen, rote Wangen. Und ich verstand zum ersten Mal, dass Führung nichts mit Kälte zu tun haben muss.

 

Am Samstag um neun klingelte mein Telefon.

 

„Ciao, hier ist Reinhold“, sagte eine Stimme, die ich inzwischen sofort erkannte.

 

Ich setzte mich auf. „Reinhold! Ich habe auf deinen Anruf gehofft.“

 

„Du wolltest, dass ich mich melde.“

 

„Ja. Und… ich möchte dich einladen. Am Weihnachtstag. Zu mir nach Hause. Ich feiere nicht gern allein. Und du – du hast mir in diesen Wochen mehr gegeben, als du ahnst.“

 

Er schwieg kurz. Dann sagte er leise: „Danke. Ich komme.“

 

 

Weihnachten

 

Als der Weihnachtstag kam, war ich nervös wie ein Junge vor der Bescherung. Meine Geschwister waren schon da, lebhaft, neugierig, ein wenig ratlos, wem ich wohl noch eingeladen hatte. Sie tippten auf Kolleginnen, Freunde, vielleicht eine neue Bekanntschaft.

 

Das Catering stand bereit, die Wohnung roch nach Tannennadeln und gutem Essen. Im Wohnzimmer stand eine schlichte Rotfichte, so wie früher: rote und weisse Kerzen, ein paar Äpfel, gläserne Kugeln. Unter dem Baum lagen Geschenke auf einer weissen Decke. Im Hintergrund lief leise Musik.

 

Punkt sechs klingelte es.

 

„Ein Herr Reinhold ist da“, sagte die Caterin.

 

Ich ging an die Tür – und da stand er.

 

Frisch rasiert, gepflegt, in einem schlichten Anzug, Hemd und Krawatte. Er hielt ein Paket in der Hand.

 

„Für den Baum“, sagte er und reichte es mir.

 

Meine Geschwister standen hinter mir und musterten ihn neugierig. Ich sagte nur: „Das ist Reinhold. Ein Freund. Wir haben uns in der Stadt kennengelernt.“

 

Wir setzten uns ins Wohnzimmer. Reinhold schaute sich um, nicht gierig, nicht scheu – eher so, als würde er etwas wiedererkennen.

 

Sein Blick blieb an den Fotos auf dem Kaminsims hängen.

 

„Das ist deine Mutter“, sagte er langsam. „Und … das ist dein Vater?“

 

„Unser Stiefvater“, antwortete ich. „Unser leiblicher Vater ist früh gestorben.“

 

Reinhold sah das Bild ein zweites Mal an. In seinen Augen flackerte etwas auf, das ich nicht deuten konnte.

 

Ich zündete die Kerzen an. Das elektrische Licht blieb aus, und für einen Moment sassen wir still im warmen Schein. Draussen knirschte irgendwo Schnee auf dem Asphalt. Drinnen war es, als hätte das Haus einen Atemzug lang aufgehört zu atmen.

 

Reinhold nahm sein Glas in die Hand. „Heute darf ich mir eins gönnen“, sagte er, fast verschmitzt. Dann sah er mich an – direkt, freundlich. „Hast du ihnen erzählt, wer ich war?“

 

Ich schüttelte den Kopf. Meine Geschwister schauten irritiert.

 

Reinhold legte den Kopf leicht schräg. „Dann sage ich es selbst. Ich war obdachlos. Ich war alkoholkrank. Ich war am Rand. Und ich bin hier, weil euer Bruder mich gesehen hat.“

 

Stille. Eine kurze, wache Stille.

 

Ich sagte ruhig: „Ja. Und ich bin froh, dass er da ist. Wir feiern heute nicht, weil alles perfekt war. Sondern weil es möglich ist, wieder zueinanderzufinden.“

 

Reinhold nickte. „Genau darum geht es.“

 

Dann schob er mir ein Geschenk hin. „Das ist für dich. Pack es zuerst aus.“

 

Ich spürte ein seltsames Ziehen im Bauch, als hätte jemand eine lange vergessene Saite berührt. Das Papier war schlicht, sorgfältig gefaltet, mit Wollfaden umwickelt. Ich öffnete es langsam.

 

Ein Bilderrahmen.

 

Ich drehte ihn um.

 

Das Foto war alt, abgegriffen, ein wenig speckig vom Lange-Getragen-Werden. Es zeigte uns: meine Geschwister als kleine Kinder, mich als älteren Jungen, meine Mutter – und einen Mann neben ihr.

 

Einen jüngeren Reinhold.

 

Die Luft blieb mir weg. Meine Hände zitterten.

 

Reinhold stand auf. Seine Stimme war brüchig, aber klar.

 

„Du bist mein Sohn.“

 

Ein Satz, der keinen Raum liess für Zweifel.

 

„Ich wusste es, als ich dich auf der Bank sah. Erst deine Stimme, dann dein Gesicht. Ich habe lange gesucht, ob es noch einen Weg gibt – nicht in die Vergangenheit, aber zu euch. Und ich wollte diesen Moment nicht auf der Strasse, nicht zwischen Hast und Lärm. Sondern hier. Unter einem Weihnachtsbaum.“

 

Meine Geschwister starrten auf das Foto. Dann auf Reinhold. Dann auf mich.

Und dann weinte jemand. Erst er. Dann wir.

 

Es war kein dramatisches Schluchzen, eher ein stilles Überlaufen. Als hätten all die verlorenen Jahre endlich einen Platz gefunden.

 

Draussen war es bitterkalt. Der Himmel klar, die Sterne fern und ruhig. Menschen gingen mit hochgezogenen Schultern nach Hause, an den leuchtenden Fenstern vorbei.

 

Drinnen aber sassen wir zusammen.

 

Nicht weil alles gut gewesen war.

Sondern weil diesmal niemand mehr allein sein musste.

 

Frohe Weihnachten.

 

 

 

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