Öscar
- thomasvonriedt
- 26. Nov.
- 13 Min. Lesezeit

Öscar
Ich, Öscar, das rosarote Flusspferd aus der Gattung Hippopotamus amphibius, frage mich manchmal, warum ausgerechnet ich mit rosa Haut auf die Welt gekommen bin. Es muss wohl eine Laune der Natur sein. Ich erinnere mich gut daran, dass auch meine füllige Mutter Leonore schöne rosa Flecken auf ihrem Bauch trug, die sofort die Aufmerksamkeit meines Vaters Victor auf sich zogen. Die Farbe Rosa ist also etwas Besonderes.
Ich erblickte im trüben Wasser des Nils das Licht der Welt – als Einzelkind. Das Erste, was mir auffiel, waren die Augen und das Lachen meiner Verwandten. Sie lachten über das rosarote Nilpferd, das ich war, und kugelten sich vor Vergnügen. Mein Vater schaute dagegen eher besorgt drein und meinte, ein rosa Baby sei wohl ein willkommenes Fressen für die gefräßigen Krokodile. So ein Kind könne sich kaum vor ihnen verstecken.
Meine Mutter nahm mich jedoch zärtlich in die Arme und flüsterte mir zu, dass ich das schönste Kind weit und breit sei. Niemals würde ein Krokodil die Chance bekommen, mir etwas anzutun. Mit ihrer stattlichen Figur und ihren wehrhaften Hauern würde sie schon dafür sorgen.
So wuchs ich wohlbehütet auf, bis meine Eltern mir eines Tages mitteilten, dass die Zeit gekommen sei, erwachsen und selbstständig zu werden. Sie hatten recht – schließlich stand ich meinem Vater in nichts mehr nach. Ein großer, wuchtiger Kopf mit kräftigen Eckzähnen und mein tonnenförmiger Körper auf kurzen, stämmigen Beinen machten mich zu einem imposanten jungen Bullen: fast drei Meter lang und schon über zweieinhalb Tonnen schwer. Beim Schwimmen zwinkere ich den jungen Nilpferd-Damen mit meinen fröhlichen Augen zu. Wenn ich aus dem Fluss steige, sorgt das oft für Aufsehen. Flussauf und flussab kennt man mich: Öscar, das einzige rosarote Flusspferd am Nil. Ich glaube, ich bin so etwas wie ein Star.
Mein Tag besteht hauptsächlich darin, herumzuschwimmen und nach würzigen Gräsern zu suchen. Ich lebe ausgesprochen gesund und kann mich mit gutem Gewissen als Vegetarier bezeichnen. Meistens bin ich allein unterwegs, gelegentlich schließe ich mich anderen Junggesellen an. Die alten Bullen lassen uns ohnehin nicht an die Herden heran, aber ich weiß, dass meine Zeit noch kommen wird. Ich habe vor nichts und niemandem Angst – das griesgrämige Krokodil kennt meine Stärke und wagt keine Experimente. Die kleinen braunen Männer in ihren Holzbooten bleiben ebenfalls auf Distanz, da sie hauptsächlich auf Fischfang gehen. Wenn es mir offen gestanden Spaß macht, ihre Boote zu rammen, schreien sie laut auf, springen voller Panik ins Wasser und suchen am Ufer Zuflucht. Von meinen Brüdern und mir geht keine unmittelbare Gefahr aus. Schon beim ersten Schrei der Menschen kann man beobachten, wie die Krokodile lautlos ins Wasser gleiten.
Gefangennahme
Die Jahre vergingen. Die kleinen Menschen mit krausem Haar hatten sich größere Schiffe mit Motoren zugelegt, mit denen sie sich oft rüpelhaft auf dem Wasser bewegten. Wer nicht aufpasste, lernte die Motorschraube schmerzhaft kennen.
Von älteren Bullen erfuhr ich, dass es sogar riesige Schiffe geben solle. Weiße Männer, die Kopfbedeckungen tragen und Stöcke besitzen, die knallen. Die mir vertrauten braunen Männer schienen für diese Weißen zu arbeiten. Sie verwendeten neuerdings große Netze beim Fischen, mit denen sie wesentlich mehr Fische fangen konnten. Die Schiffe hätten am Bug Vorrichtungen, mit denen die Weißen die Netze gezielt aufs Wasser schießen konnten. Jedes Tier müsse sich fortan sehr vorsehen, nicht in den Maschen dieser großen Netze zu landen. Schon manches mächtige Krokodil sei so aus dem Fluss verschwunden. Auch wenn niemand ihnen nachtrauerte, machte man sich Gedanken darüber.
Es war ein wunderbarer Morgen. Ich lag im lauwarmen Nilwasser, ließ die Wellen über mich gleiten und genoss die warmen Sonnenstrahlen. Ich kam von meinem ausgiebigen Frühstück – der Fluss lieferte eine ungemein reiche Auswahl an schmackhaften, bekömmlichen und nahrhaften Gräsern. Mit vollem Magen lässt es sich so richtig im Schlamm suhlen und träumen. Also lag ich wohlig am Uferrand, als ich das Stampfen eines nahenden Schiffes hörte. Es pustete riesige Wolken aus seinem Kamin. Das war eines jener Schiffe, von denen ich gehört hatte, und ich sah die schwarzen Menschen an Bord aufgeregt gestikulieren.
„Massa, Massa, schauen Sie, da am Ufer liegt das rosarote Flusspferd!“
Neugierig beobachtete ich, wie das Schiff seine Fahrt verlangsamte und fast ohne Wellen zu werfen – wie ein Krokodil – auf mich zuglitt. Einer der Weißen hantierte an der Einrichtung am Bug des Schiffes. Ich sah ihn durch einen Ring äugen, und plötzlich hörte ich einen unglaublichen Knall. Ein riesiges Knäuel flog in meine Richtung und entfaltete sich langsam zu einem Fangnetz. An seinen Enden waren anthrazitfarbene Kugeln befestigt, die sicherstellen sollten, dass das Netz immer schön ausgebreitet blieb und sich über das anvisierte Ziel senkte.
Mir war nicht klar, dass ich dieses Ziel war, und ehe ich mich versah, senkte sich das Netz über mir. Die Gewichte zogen es nach unten – über meinen breiten Rücken, meine Ohren, meinen Kopf. Ich versuchte, abzutauchen und das Netz abzustreifen. Je mehr ich mich zu befreien suchte, desto stärker verhedderte ich mich in den Maschen. Dann spürte ich, wie ich langsam an die Oberfläche gezogen wurde. Der weiße Mann und einer seiner schwarzen Gehilfen drehten an einem riesigen Rad. Eine Rolle wickelte unbarmherzig das Seil auf und zog mich langsam, aber stetig zum Schiff hin.
Der Schwarze schwenkte nun einen Auslegerarm aus, das Seil lief über eine Rolle, die Männer drehten weiter an dem großen Rad, und so hing ich bald bewegungsunfähig im Netz über dem Wasser.
Ich war gefangen – und wusste nicht, warum.
Auf dem Schiff
„Ich muss wirklich etwas Besonderes sein“, dachte ich, als ich aus dem Netz in einen Holzverschlag abgeladen wurde. Die schwarzen Männer tanzten um meinen Käfig herum und sangen einen monotonen Kanon. Was die Weißen sprachen, verstand ich nicht, die Schwarzen hingegen schon – und wie immer sangen sie ein Lied, während sie arbeiteten:
Am Nil, am Nil gibt’s Krokodil
und die großen Flusspferde.
Vorbei ist unsere große Not,
wir fingen heute das Rosarot.
Du wirst uns fehlen auf der Erde,
schönstes aller Flusspferde.
Wir grüßen dich, Öscar,
du kommst in einen Zoo der Welt –
so verdienen wir unser Geld.
Woher wussten sie bloß meinen Namen? Und wohin sollte ich gehen – in einen „Zoo der Welt“? Was war denn bitte ein Zoo?
Das Schiff fuhr gemächlich den Fluss hinunter. Einige Flusspferde wünschten mir laut prustend alles Gute. Andere konnten sich spöttische Bemerkungen nicht verkneifen und riefen, dass ich nun mit meiner rosa Haut klarkommen müsse. Regelmäßig übergossen mich die schwarzen Männer mit Wasser, schaufelten schwitzend frisches Gras in den Käfig und behandelten mich eigentlich hervorragend. Durch die starken Eisenstäbe sah ich immer mehr Schiffe auf dem Fluss; die Ufer waren dicht besiedelt, nur die Krokodile schienen sich hier so richtig wohlzufühlen. Am Ufer sah ich mir unbekannte Tiere mit langen Hörnern Wasser saufen, um dann wieder zurück auf die Felder zu ziehen und dort den Pflug zu ziehen.
Es mussten wohl zwei bis drei Tage vergangen sein, als ich durch einen markerschütternden Ton einer Schiffssirene aus meinem Tagtraum gerissen wurde. Das Schiff ankerte neben einem riesigen Frachter aus Stahl. Von weit oben sah ich einen Haken am Drahtseil zu mir hinunterkommen. Einer der Schwarzen befestigte vier Tragseile am Haken, und schon schwebte ich in die Höhe – über die Reling und dann durch die Ladeluke in den Frachtraum.
Dunkelheit umfing mich.
Es war eine trübselige Reise, und ich hatte das Gefühl, es werde von Tag zu Tag kühler. Kaum Licht und schon gar keine Sonne drangen in den Laderaum. Nichts erinnerte an meine Heimat. Weiße Männer schütteten alle paar Tage abgestanden schmeckendes Gras in meinen Käfig. Weißt du, wie sich das anfühlt, immer denselben Dreck zu sehen und darin zu liegen? Es verlangte schon einiges von mir, mich an diese Umgebung auch nur ein wenig zu gewöhnen.
Ich war nicht der einzige traurige Passagier. Eingesperrt wie ich in einem Einzelkäfig, trauerte Leo mit der buschigen Mähne der Wüste im Sudan nach. Karl, der Elefant, vermisste seine Herde und die Weite der Savanne. Ali, der Esel, jammerte meist kläglich vor sich hin. Nur Helene, die Giraffe, schien etwas glücklicher zu sein – kein Wunder: Mit ihrem langen Hals konnte sie fast aus der Ladeluke schauen und genoss bisweilen frische Luft.
Im Zoo
Die Reise zog sich noch tagelang hin. Schließlich wurden wir entladen, getrennt und auf verschiedene Fahrzeuge verladen. Ich wurde in meinem Käfig auf einen großen Lastwagen gehievt und über Straßen transportiert. Glaube mir: In so einer Situation wird man trübsinnig und schaut nur noch nach innen. So bemerkte ich kaum, wie mein Käfig abgeladen wurde und ein gutmütig aussehender Nordafrikaner mich zu meinem neuen Zuhause führte.
Keine Gitter, beheizt, viel Platz. Durch eine Scheibe konnte ich in weitere Räume schauen. Es gab einen Pool mit Wasser wie zu Hause, ein großes Freigelände und sogar einen Felsen, an dem ich meine Haut scheuern konnte. Meine Reise hatte ein Ende gefunden – ich war angekommen. Im Zoo.
Ich muss zugeben: Es ging mir ziemlich gut, es fehlte mir an fast nichts. Mahmud, der Afrikaner, pflegte mich mit großer Hingabe. Er kannte Flusspferde und stammte aus derselben Gegend wie ich. Mit ihm verstand ich mich prächtig und ließ mich gern von ihm verwöhnen. Stets war er guter Laune, sang Lieder aus der Heimat, während er mich mit dem Schlauch abspritzte. Unter seiner Pflege wurde ich zum echten Star. Meine Haut war makellos rein, leuchtete in warmem Rosarot, was besonders gut zur Geltung kam, wenn ich im grauen Becken schwamm.
Waren es zuerst nur wenige Menschen, die mich besuchten, so wuchs die Zahl der Gäste in den folgenden Wochen rasant. Es kamen sogar Leute mit Lichtern in der Hand und Apparaten, die sie auf mich richteten, während einer in eine Art Stab sprach. Dabei lief er geschäftig auf und ab und gestikulierte wild mit den Armen. Ich glaubte sporadisch meinen Namen zu hören – „Öscar, das Flusspferd!“ – und lächelte dann besonders freundlich in die Kamera.
Wirklich, man gewöhnt sich rasant an das bequeme Leben – und auch an den Ruhm. Doch eines Tages schleicht sich die Langeweile ein, und man wünscht sich nichts sehnlicher, als aus dem Trott auszubrechen. Ich war gefangen im goldenen Käfig, ohne Aussicht auf Veränderung, ohne Zukunft. Eine Depression begann sich über mich zu legen, und ich versuchte, der Realität zu entfliehen. So begann ich zu träumen – zuerst nachts, dann immer öfter auch tagsüber.
Ich träume
Ich träumte immer häufiger von der Heimat: von Leonore, meiner fülligen Mutter, und Victor, meinem kräftigen Vater. Ich sah meine Verwandten mit ihrer gewöhnlichen grau-braunen Haut leckere Wildgräser genießen und sich im Schlamm wälzen. Selbst die hässlichen Krokodile erschienen mir nach einiger Zeit als nette Freunde. Am meisten fehlten mir die Sonne Ägyptens und das schlammige Wasser des Nils. Nichts, aber auch gar nichts, kann diese natürliche Pflege von Seele und Körper ersetzen.
Gewiss wurde ich im Zoo vorbildlich versorgt, und ich setzte ordentlich Fett an – mehr, als gut für mich war. Aus den Träumen wurde schmerzhaftes Heimweh. Ich begann, immer weniger zu fressen, meine Haut verlor ihren Glanz, bekam Falten, und ich fühlte mich lustlos und leer.
Mahmud schien mich zu verstehen. Er bemühte sich sehr, mich aufzumuntern. Insgeheim litt auch er unter nagendem Heimweh, wollte es aber nicht zugeben und wusste nicht, was er dagegen tun könnte. Während er meinen Käfig wischte und frisches Futter streute, erzählte er von den alten Sitten und Gebräuchen seiner Heimat. Es gebe daneben Allah, dem Allmächtigen, noch eine Göttin, eine Schutzgöttin, die den Kopf eines Flusspferdes trage und den Menschen in der Not helfe. In seinem Dorf hätten vor allem die Frauen diese Göttin um Beistand angefleht.
Es gäbe doch keinen Grund, warum die Göttin nicht auch einem rosaroten Nilpferd helfen könnte, meinte er und zog an seiner Zigarette. Man müsse sie sicher nur intensiv genug anrufen. Einem rosaroten Nilpferd zu helfen, sei doch eine besondere Aufgabe – selbst für eine Göttin, insbesondere dann, wenn sie selbst den Kopf eines Flusspferdes habe.
Noch lange dachte ich über Mahmuds Worte nach, dann schlief ich allmählich ein.
„Öscar, Öscar, du hast gerufen“, hörte ich plötzlich jemanden sprechen. Wer sollte mit mir reden, mitten in der Nacht? Zu dieser Zeit gab es keine Besucher im Zoo. Mahmud war wahrscheinlich bei seinen Freunden, höchstens der Direktor zählte die Einnahmen in seinem Büro.
„Öscar, du hörst nicht zu“, vernahm ich nun deutlich eine weibliche Stimme, schon fast vorwurfsvoll – und sie klang ganz nah. Ich lag im warmen Wasser und drehte meinen Kopf in Richtung Tür. Wenn schon jemand kommt, dann würde er wohl dort hereinkommen. Aber da war niemand.
In meiner Schlafecke lag frisches Stroh, das Mahmud vor dem Nachhausegehen eingestreut hatte, und genau dort, auf meinem Bett, saß sie: die Schutzgöttin der Flusspferde. Na, das war aber eine Überraschung.
„Hier bin ich“, gab ich schüchtern zur Antwort.
Eine bläulich schimmernde Aura umhüllte ihren schlanken Körper. Eine solche Erscheinung – unerwartet und dann noch im eigenen Heim – macht sogar ein Flusspferd unsicher. Zwei verschmitzte Augen lugten unter langen Wimpern hervor und begegneten meinem Blick. Ich spürte, dass diese Gestalt es gut mit mir meinte, fasste Vertrauen und begann, auf ihre stille Aufforderung hin, meine Lebensgeschichte zu erzählen.
„Tja, das sind schon sehr besondere Umstände“, meinte sie, als ich zum Schluss gekommen war. „Erst wirst du mit dieser auffälligen, rosaroten Haut geboren, dann von geldgierigen Jägern gefangen und an einen Zoo verschachert. Dort entwickelst du dich zum Star und verhilfst dem Direktor, seinen Umsatz massiv zu steigern. Du bist unglücklich und möchtest zurück an deinen geliebten Nil.
Zurück nach Ägypten zaubern könnte ich dich wohl. Aber dort würdest du wieder gejagt und erneut eingefangen. Ich habe gesehen, dass die Menschen dich mögen, obwohl wir Flusspferde nicht gerade die elegantesten Geschöpfe auf dieser Erde sind. Die Kinder lieben dich, und alle würden gern ein rosa Hippo knuddeln.
Ich denke, ich werde dir Unsterblichkeit verleihen. Du sollst deine außergewöhnliche Hautfarbe behalten. Nie mehr wirst du Hunger haben, nie mehr wird dich jemand einsperren. Deine Erscheinung wird Menschen jeden Alters erfreuen. Bist du bereit dafür?“
„Wann bekommt man schon so ein Angebot?“, grunzte ich. „Ja, natürlich – das würde mir sehr gefallen.“
Dann schnippte sie mit den Fingern. Ich murmelte noch ein „Ja, ja …“ und war mir im nächsten Moment nicht mehr sicher, ob ich das alles geträumt hatte oder nicht.
Neues Heim
„Vielen Dank für Ihren Besuch. Haben Sie alles zu Ihrer Zufriedenheit gefunden? Wir hoffen, dass Sie uns bald wieder besuchen“, trällerte die stets gut gelaunte Empfangsdame Natalie. Man muss diese fröhliche Empfangsangestellte des Sporthotels Ö einfach lieben. „Darf ich Ihnen eine Quietschente als Erinnerung mitgeben?“ Sie zog dabei die Schublade am Empfangstresen auf und entnahm ihr eine große, offene Schachtel.
Ich wurde schlagartig wach. Das grelle Neonlicht blendete mich. Wo war ich denn? Wo war mein Pool geblieben? Mahmud, wo bist du?
Da erinnerte ich mich an die Nilpferd-Göttin und ihr Versprechen einer sorgenfreien Zukunft. Hatte ich das geträumt oder nicht? Ich war immer noch etwas verwirrt. Ich lag in einer Schachtel, umgeben von unzähligen quietschenden Enten, die nichts Besseres zu tun wussten, als laut zu schnattern. Eine trug Golfschläger bei sich, eine andere sah aus, als würde sie sich auf ein wichtiges Geschäftstreffen vorbereiten. Zwei weitere schienen erst vor ein paar Wochen geheiratet zu haben, und wieder eine wollte offenbar als Pirat auf den Maskenball. Was für eine eingebildete Gesellschaft – da sind mir die Nilkrokodile fast lieber.
„Darf ich Ihnen eine Quietschente als Erinnerung anbieten?“, hörte ich also Natalies Stimme. „Bin ich denn eine Ente?“, dachte ich empört und strampelte heftig, um mich besser zu positionieren.
„Nein, wie süß, ein rosarotes Flusspferd, entzückend!“, rief eine weibliche Stimme.
„Ja, ganz cool“, antwortete eine tiefere Stimme. „Das Hippo sieht wirklich süß aus, es sticht so richtig zwischen all den gelben Enten hervor. Wie ist es bloß zu seiner Hautfarbe gekommen? Nimm doch das Flusspferd – das bringt ganz bestimmt Glück.“
Mit einem leicht überheblichen Lächeln verließ ich die Schachtel. So ein rosarotes Flusspferd ist eben etwas Besonderes, oder?
Ein denkwürdiger Tag: aus der Schachtel direkt in das moderne Badezimmer meiner neuen Freunde. Hier bin ich eine Zier in stilvollem Ambiente. Glas, weißer Marmor und pechschwarzer Schiefer setzen meine pinkfarbene Haut perfekt in Szene. Warmes Deckenlicht verstärkt den Rosa-Ton noch weiter.
Nun habe ich eine wichtige Aufgabe: Ich bin der Hüter der verschiedenen Duschmittel. Beim Duschen beobachte ich meine neuen Freunde und erfreue sie mit meinem fröhlichen Gesicht. Wenn sie abwesend sind, schaue ich durch das Fenster in die grüne Welt draußen. Mir wird nie langweilig.
Mahmud, du warst ein weiser Freund.
Advent
Irgendetwas liegt in der Luft. Meine neuen Freunde verhalten sich geschäftiger als sonst. Draußen leuchten seit einigen Tagen die Lichter des Sternbandes rund um das Haus. Auch das Wetter hat sich merklich verändert – es muss draußen langsam kalt geworden sein. Ich konnte weiße Flocken beim Tanzen beobachten.
Zum ersten Mal wird mir so richtig bewusst, wie sehr ich mich verändert habe. Ich hungere nicht, ich friere nicht, ich werde regelmäßig sauber abgewaschen und vorsichtig wieder an meinen Platz gestellt. Man spricht mit mir wie mit einem Familienmitglied. Die drei Quietschenten, die auf derselben Ablage wie ich stehen, halten respektvoll Abstand – schließlich sind sie ja keine Nilpferde.
Mein neuer Besitzer achtet beim Duschen sehr darauf, dass ich nicht vom heißen Wasser verbrüht werde. Vorsichtig stellt er mich immer in die linke Ecke der Ablage, von wo aus ich ihm bei seiner morgendlichen Dusche zusehen darf. Er liebt es, wenn das Wasser über sein Gesicht prasselt und den Rücken hinunterrinnt. Sein Shampoo verbreitet einen herrlichen Duft.
Bruno – so nenne ich ihn – mag mich aufrichtig. Er spricht mit mir und nennt mich bei meinem Namen: Öscar! Woher weiß er das nur?
„Also, Öscar“, sagte er eines Morgens, „ich glaube, du bist ein echter Star. Ich sollte dich fotografieren. Ich sollte dich zur Hauptperson meiner neuen Weihnachtsgeschichte machen. Was meinst du dazu?“
Bruno kaufte sich vor wenigen Wochen einen modernen Fotoapparat. Er war schon länger unzufrieden mit der Bildqualität seines alten Smartphones. Welch ein Spaß! Ich kann dir sagen, es war zum Schreien, wie er sich auf dem Badezimmerboden wälzte und mich aus allen nur denkbaren Winkeln ablichtete. Irgendwann zeigte er sich zufrieden, und ich sah ihn erst am Abend wieder.
Den ganzen Tag über hörte ich das rhythmische Klappern einer PC-Tastatur. Die Lautstärke des Radios drehte er etwas zurück und ließ nur noch melodische Lieder im Hintergrund laufen. Das macht er immer so, wenn er schreibt. Ich kenne ihn aber auch ganz anders: Weißt du, wie es im Badezimmer dröhnt, wenn sein iPad über Spotify George Thorogoods „Bad to the Bone“ abspielt? Da ist mir Scott Walker mit „No Regrets“ schon wesentlich sympathischer, oder?
Weihnachten
Die Tage vergingen, und die Nervosität im Haus nahm zu. Ich begriff, dass bald ein großes Fest anstand. Ich bekam jedoch nur Gesprächsfetzen mit und konnte mir kaum einen Reim darauf machen. Früh wurde es draußen dunkel, tagsüber war es oft grau und neblig, und die Spaziergänger marschierten dick eingepackt am Haus vorbei. Ich erfreute mich an den Vögeln, die kurz auf dem Zaun rasteten, bevor sie auf den nahen Feldern nach Nahrung suchten.
Die Menschen nennen diese Zeit Advent, eigentlich adventus Domini – sie erwarten die Ankunft von jemandem.
In der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember erhielt ich überraschend Besuch von einem, der vor über zweitausend Jahren in Bethlehem geboren wurde. Er veränderte die Welt, schickte die meisten alten Götter in den Ruhestand und übernahm ihre Aufgaben. Die Nacht seiner Geburt ist eine besondere: Nicht nur, dass ein hell leuchtender Stern den Weg für ferne Könige wies – diese Nacht gilt als heilig.
Städtische Menschen sollten wissen, dass Tiere in der Heiligen Nacht vom 24. auf den 25. Dezember sprechen können! Im Kanton Zürich sollen alle Tiere im Stall reden, im Kanton Zug offenbar nur sehr eingeschränkt – aus welchem Grund auch immer.
Genau dieser Mann, in schlichtem Gewand und mit einem großen Herzen, besuchte mich, das rosarote Badezimmer-Flusspferd, und sprach in ruhiger Stimme zu mir.
Auch Flusspferde, die einst frei im Nil schwammen, könnten sprechen, versicherte mir der Mann aus Nazareth. „Ich bin gekommen, weil ich sehen wollte, wie es dir nach deinen vielen Abenteuern geht. Was ich sehe, gefällt mir, und ich glaube, ich muss mir keine Sorgen mehr um dich machen. Es gibt noch viele Menschen und Tiere, um die ich mich in diesen Tagen besonders kümmern muss“, sagte er – und verließ mich so leise und überraschend, wie er gekommen war.
Ich saß völlig perplex auf meiner Ablage und schaute der verblassenden Gestalt nach. Draußen am Himmel blinkte nun ein strahlend heller Stern, und mir wurde ganz warm um mein gummiartiges Herz.
Jetzt hoffe ich, dass Bruno erst nach Mitternacht zu Bett geht. Ich kann es kaum erwarten, in sein ungläubiges Gesicht zu blicken. Seine Zahnbürste wird ihm sicher aus der Hand fallen, wenn ich ihm „Frohe Weihnachten“ wünsche.
Ich wünsche fröhliche Weihnachten allerseits.
Euer Öscar




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