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Otto, die Adventsspinne

  • thomasvonriedt
  • 26. Nov.
  • 7 Min. Lesezeit

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Am 1. Advent

 

Man sagt, dass während der Adventszeit vereinzelt unglaubliche Dinge geschehen.

 

Die Adventszeit war ursprünglich – vermutlich ab der Mitte des 4. Jahrhunderts – eine Fastenzeit, die von der Alten Kirche für die Tage zwischen dem Martinstag (11. November) und dem damals festgelegten Termin, an dem die Geburt Jesu gefeiert wurde, nämlich dem Fest der Erscheinung des Herrn am 6. Januar, eingeführt wurde. Anfangs wurde an drei Tagen pro Woche gefastet, später an allen Tagen außer Samstag und Sonntag. In den acht Wochen (56 Tagen) vom Martinsfest bis zum 6. Januar ergaben sich ohne die Wochenenden 40 Fasttage, entsprechend der 40-tägigen Fastenzeit vor Ostern. Die ersten Anzeichen einer solchen Vorbereitung auf das Geburtsfest Jesu finden sich in der Ostkirche, wo das Fest der Erscheinung des Herrn ein wichtiger Tauftermin war. Im Westen entwickelte sich die adventliche Fastenzeit zuerst in Spanien und Gallien, dem heutigen Frankreich.

 

Von alldem wusste Otto nichts, als ich ihm in der Garage begegnete. Otto? Nun ja, ich nenne das Tier so, das sich vor der Kälte in meine Garage geflüchtet hatte. Verschiedene andere Tiere suchten dort ebenfalls Schutz in der eigentlich kühlen, aber nicht kalten Garage. Hier spannten sie Netze, suchten nach Eiablagen von Mücken und Fliegen oder taten eben das, was Insekten so tun. Auch für sie war die Adventszeit anspruchsvoll – allerdings nicht in Form von bewusstem Fasten und schon gar nicht nur für 40 Tage.

 

Ich war gerade dabei, den Boden zu wischen, nachdem ich meinen Wagen fast klinisch sauber gesaugt hatte – in der falschen Hoffnung, dass er länger als drei Tage so bleiben würde. Plötzlich krabbelte ein ekliges Geschöpf, ohne sich nach links oder rechts umzusehen, über die Motorhaube des gerade erst gereinigten SUVs. „Geht’s noch?“, dachte ich und wollte schon mit dem Bodenlappen zuschlagen. Meine Tochter hätte Zeter und Mordio geschrien, bis meine Frau das Tier mit dem saugenden Schlund des Staubsaugers eingesogen hätte.

 

Ich erinnerte mich daran, dass ich gerade erst den Wagen poliert hatte, und als ich meine Wut endlich unter Kontrolle brachte, sah ich in die dunklen Knopfaugen einer Spinne. Eine Kellerspinne, lateinisch Amaurobius ferox, wie mir später Wikipedia erklärte.

 

Ob es meine Sorge um die Oberfläche der Motorhaube war oder ein Anflug von Mitgefühl, weiß ich nicht. Die Spinne beeilte sich jedenfalls, davonzukrabbeln, und ich rief ihr noch hinterher: „Und lass meinen Wagen in Ruhe, Otto, hörst du?“

 

„Mit wem sprichst du?“, hörte ich meine Frau rufen.

„Ach, nur mit dieser Spinne – Otto, den kennst du doch nicht!“

 

 

Am 2. Advent

 

Die ganze Woche über habe ich Otto nicht mehr gesehen. Ich ging ein und aus, wischte zwischendurch erneut den Garagenboden und arbeitete am Rasenmäher, um ihn für den nächsten Frühling vorzubereiten. Ich war recht fleißig – wenn auch gezwungenermaßen, denn das Wetter lud nicht wirklich zum Sport ein. Es war einfach zu feucht und garstig.

 

Meine Frau wies mich auf die vielen Spinnen und Spinnennetze hin und betonte die Gefahr, dass sie ins Haus krabbeln könnten. Tatsächlich hatte sich die Zahl der langbeinigen Spinnen, die sich in der Nähe der Kellerfenster niedergelassen hatten, deutlich vergrößert. Dort fanden sie offensichtlich ausreichend Mücken und Fliegen, und der Kellerschacht ließ auch etwas Licht herein.

 

Mir schien ihre Zahl recht groß, vor allem, weil sie ihre Exkremente und die Reste ihrer Mahlzeiten auf der Werkzeugkiste hinterließen. Zu viel des Guten war zu viel, und ich machte mich – ausnahmsweise ohne zu murren – daran, den Spinnen „den Garaus“ zu machen, mit Hilfe des ausgedienten Staubsaugers meiner Frau. Alles musste weg: nicht nur die Spinnen, sondern auch ihre Netze und alles, was meiner Vorstellung von Sauberkeit zuwiderlief.

 

Im letzten Moment sah ich Otto, wie er sich in höchster Not gerade noch hinter der Werkbank retten konnte. Beinahe wäre er in den saugenden Schlund des Electrolux geraten. Stellen Sie sich vor, ein überdimensionales Rohr versucht, Sie einzusaugen, und Sie klammern sich mit aller Kraft und höchster Verzweiflung an einem Geländer fest. Dann lassen die Kräfte nach oder das Geländer bricht. Laut schreiend verschwinden Sie mit irrsinniger Geschwindigkeit im Hartplastikschlauch, schlagen sich alle Knochen wund, um schließlich im Staubsack zu landen. Dort liegen Sie dann, halb betäubt, umgeben von einem wuselnden und raschelnden Chaos aus Staub, Krümeln und anderen Unglücklichen, es stöhnt und jammert – und es riecht erbärmlich. Helden in Fliegerfilmen und Tom Cruise in Krieg der Welten haben Ähnliches erlebt – nur Tom hatte ein paar Handgranaten dabei, die Spinne jedoch nicht.

 

Allein die Vorstellung, im Staubsauger zu enden, löste bei mir ein Frösteln aus. „Es tut mir leid, Otto, ich wollte dich wirklich nicht so erschrecken“, flüsterte ich vor mich hin. Dann drehte ich den Schalter auf „Aus“, ließ alles liegen, löschte das Licht und ging in die Wohnung. Schließlich war es Sonntag, der 2. Advent, und an diesem Tag arbeitet man nicht in der Garage. Man sitzt mit Freunden und Familie am Tisch, spielt Karten oder sitzt vor dem Fernseher. Spinnenjagd am Sonntag ist verpönt.

 

Otto atmete tief durch, kroch in die hinterste Ecke unter der Werkbank, spann sich ein Netz und legte sich dann erschöpft hinein.


 

Am 3. Advent

 

Weihnachten rückte immer näher. Einige Geschenke lagen bereits in der Garage, außerdem standen dort Kartons mit Wein, eine Kiste Bier und verschiedene Süßgetränke für die jungen Familienmitglieder. Der große Tiefkühler war gut gefüllt: Der Rindsbraten, die handgemachten Knöpfli und das Maronipüree waren noch tiefgefroren und warteten auf ihren Einsatz. Überall lagen Kartons, Weihnachtspapier, Schleifen und Zweige einer Weißtanne herum.

 

Otto war die ganze Nacht unterwegs gewesen und hatte kaum Beute gemacht. Die Asseln hatten sich in die Ritzen verkrochen, es gab kaum Mücken und schon gar keine fetten Fliegen. So langsam machte sich auch bei ihm der Hunger bemerkbar. „Die Menschen haben es gut“, dachte er, „sie gehen einfach zum Kühlschrank, nehmen, was sie wollen, und genießen es in ihren warmen Räumen. Unsereins sitzt hier im Dunkeln, findet nichts zu essen und hat keinen Gefrierschrank voller Vorräte wie die Menschen.“

 

In den letzten Wochen hatte Otto sich gut an seine Umgebung angepasst. Er wusste genau, dass, wenn der Boden vibrierte, ich auf dem Weg zur Treppe in den Keller war. Nur wenige Sekunden später würde ich die Tür aufreißen, im Dunkeln den Abfall in die Tonne werfen und mir eine Flasche Schorle „Gut & Günstig“ von Edeka schnappen, um dann genauso schnell wieder zu verschwinden. Diesmal war es genauso. Otto flüchtete unter das Gestell und sah mich in den Raum treten. Er beobachtete, wie ich den Deckel der Tonne öffnete und etwas hineinwarf. Der Lichteinfall ließ ein paar kleine Spinnen aufschrecken, die kopflos in Richtung Werkbank rannten – und direkt in die gespannten Netze von Otto gerieten. Auf eine gewisse Weise könnte man das eine Art Zweckgemeinschaft nennen: nicht abgesprochen, aber äußerst effektiv.

 

Die Tage vergingen, und gelegentlich grüßte ich Otto. Meist saß er reglos auf der Werkbank, das Licht spiegelte sich in seinen dunklen Knopfaugen. Gelegentlich legte ich eine Fliege in sein Trichternetz. Warum sollte ich sie totschlagen, wenn andere sich darüber freuen? Außerdem war es spannend zu beobachten, wie Otto die Fliege in einen Kokon einwickelte und sie dann mit einem schnellen Biss lähmte. Das war doch fast wie die Zubereitung eines Filet Wellington, oder?


 

Heiligabend

 

In der Heiligen Nacht sollen Dinge geschehen, die unser Schulwissen nicht zu erklären vermag.

 

Otto spürte schon die ganze Woche über, dass etwas Besonderes im Gange war. Ich war beschäftigt, meine Frau fuhr rein und raus und wieder rein in die Garage. Otto musste äußerst vorsichtig sein, um nicht unter die Wagenräder oder unsere Schneestiefel zu geraten. Das Eis an den Kotflügeln des Wagens taute in der Garage auf, tropfte auf den Boden und floss von dort in den Abfluss. Dieser Teil der Garage war für ihn nicht mehr zugänglich. Es wurde auch draußen spürbar kälter, und durch die Ritzen des Garagentors sah er das Aufblitzen von Lichtern. Nicht, dass er Hunger leiden musste, aber er fühlte sich schon etwas einsam in seiner Garagenwelt.

 

Meine Kinder waren schon ganz aufgeregt – Weihnachten stand bevor. In der Garage bereitete ich den Weihnachtsbaum vor und erzählte ihnen dabei, dass in dieser Nacht vor langer Zeit der Heiland geboren wurde. Ich erklärte ihnen, dass er alle von ihren Sünden erlöse und sich um alle Armen kümmere, die allein sind, sowohl Menschen als auch Tiere. Niemand und nichts würde zurückgewiesen. Darauf könne man vertrauen und bauen.

 

Otto hörte die Worte und sah uns zu, fühlte jedoch wieder eine Leere in sich aufsteigen, als wir den Raum verließen, die Tür sich schloss und er allein im Dunkeln zurückblieb.

 

„Das sind ja großartige Aussichten“, dachte Otto. „Ob dieser Jesus auch Spinnen mag? Die Menschen schreien immer vor Panik, und dann … nun ja, man muss nicht immer an das Schlimmste denken.“

 

In den vergangenen Wochen hatte Otto einen wunderbaren Platz ganz oben auf dem Gefrierschrank entdeckt. Von dort aus konnte er den gesamten Raum überblicken. Im hinteren Bereich sorgte die Kühlanlage für angenehme Wärme, und vorne konnte er mich begrüßen, wann immer ich die Tür des Gefrierschranks öffnete.

 

Otto wusste, dass von mir keine Gefahr drohte. Im Gegenteil: Ich beobachtete ihn mit großem Interesse, stellte fest, dass er größer geworden war, und sprach manchmal mit ihm. Das Öffnen der Schranktür erschreckte ihn nicht mehr, und es schien beinahe, als würden wir immer aufeinander warten.

 

Vermutlich hat mich dieses Geschöpf schon immer gut verstanden. Die Tatsache, dass Spinnen oft mit dem Bösen in Verbindung gebracht werden, ist nicht fair. Immerhin jagen sie Mücken und andere Insekten und tragen dazu bei, Krankheiten zu verhindern. „Otto, wenn ich etwas Gutes für dich tun könnte, glaube mir, ich würde es tun. Vielleicht tut es auch jemand anderes. Manchmal geschehen Zeichen und Wunder, besonders zur Weihnachtszeit.“

 

„Bringst du mir noch die Butter hoch?“, unterbrach mich die Stimme aus der Küche, „und vergiss nicht, das Licht auszumachen.“

Ich schloss die Schranktür, schaltete das Licht aus und verließ die Garage.

 

„Ich habe es doch gar nicht so schlecht. Wie schön wäre es, wenn ich immer hierbleiben könnte“, sinnierte Otto und träumte von fetten Fliegen und Raupen. „Vielleicht hat Jesus auch für mich ein Geschenk, nur ein kleines.“ Langsam fielen Ottos Augen zu.


 

Weihnachten

 

„Was ist das Eklige auf dem Gefrierschrank?“, hörte ich meine Tochter am Weihnachtsmorgen aus der Garage schreien. Sofort eilte ich die Stufen hinunter, um sie aus ihrer Schockstarre zu befreien und sie sicher aus der Garage zu bringen.

 

Auf dem Gefrierschrank lächelte mich Otto an, seine acht Beine breit gespreizt und seinen Oberkörper aufgerichtet. Seine schwarzen Augen überblickten prüfend, was in seinem Reich vor sich ging. Otto wirkte sehr zufrieden. Eines war sicher: Er würde nie wieder Hunger leiden müssen; sein Zuhause war ewig sicher. Otto wurde zur neuen Attraktion meiner Garage, und alle kleinen Kellerspinnen und anderen Kellerbewohner würden ihm Respekt zollen und künftigen Generationen von ihm erzählen.

 

Dann kehrte ich in unsere Stube zurück und zündete die Kerzen am Weihnachtsbaum an. Meine Tochter vergaß ihren Schreck, meine Frau bereitete das Essen vor, und mein Sohn konnte es kaum erwarten, die Geschenke unter dem Baum zu öffnen. Ich war glücklich, und es erwärmte mein Herz. Es war wahr: In der Weihnachtszeit geschehen die unglaublichsten Dinge.

 

Vielleicht wusste jemand, was in unserem Haus vor sich ging, oder?

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