Benka mit dem goldenen Schlüssel
- thomasvonriedt
- vor 2 Tagen
- 6 Min. Lesezeit

Der Wichtel, ein echter aus dem Schwarzwald, sass gemütlich unter dem festlich geschmückten Weihnachtsbaum und betrachtete die funkelnden Lichter und glänzenden Geschenke. Plötzlich hörte er leise Schritte, und das sanfte Klingen von Glöckchen ertönte. Das Christkind trat mit einem strahlenden Lächeln unter den Baum. Es trug ein glänzendes Gewand aus goldenem Sternenstaub und hatte leichte Engelsflügel, die im sanften Licht schimmerten. Der Wichtel blickte ehrfürchtig auf und konnte sein Glück kaum fassen, das Christkind persönlich treffen zu dürfen.
«Hallo, kleiner Wichtel», sprach das Christkind mit einer sanften, beruhigenden Stimme. «Wie geht es dir an diesem festlichen Abend?»
Der Wichtel, von der Anwesenheit des Christkinds überwältigt, stotterte ein wenig, bevor er antwortete: «Oh, äh, hallo, Christkind! Ich bin nur hier, um die letzten Vorbereitungen für die Bescherung zu treffen. Wie kann ich dir helfen?»
Das Christkind lächelte liebevoll und setzte sich neben den Wichtel. «Du machst das grossartig, kleiner Freund. Weihnachten ist eine Zeit der Freude und des Miteinanders. Ich bin gekommen, um dir zu danken und dir ein besonderes Geschenk zu überreichen.»
Mit diesen Worten reichte das Christkind dem Wichtel ein funkelndes Päckchen. Der Wichtel öffnete es aufgeregt und fand darin ein winziges goldenes Schlüsselchen. «Dies ist der Schlüssel zu den Herzen der Menschen», erklärte das Christkind. «Du bringst so viel Freude und Zauber in ihr Leben. Nutze diesen Schlüssel, um ihre Herzen weiter zu öffnen.»
Der Wichtel – er hiess Benka – bedankte sich demütig und versprach, sein Bestes zu tun, um die Weihnachtsfreude zu verbreiten, und machte sich ans Werk.
Benka war müde.
Nicht müde vom Geschenkeverpacken, nicht vom Schleifenbinden und schon gar nicht vom Plätzchenduft, der ihn seit Tagen begleitete. Nein – es war eine andere Müdigkeit. Eine, die tief in seinem kleinen Wichtelherz zerrte.
Er hatte Paläste besucht und Regierungsgebäude, Konferenzsäle und geheime Bunker. Er war, unsichtbar dank des Christkinds, an den Schreibtischen jener gewesen, deren Entscheidungen ganze Länder in Angst versetzten. Doch so oft er den goldenen Schlüssel an ihre Herzen hielt, hörte er dasselbe dumpfe Geräusch: Es tat sich nichts.
Die Herzen waren fest verschlossen. Manche hatten noch nicht einmal ein Schlüsselloch.
In einer kalten, klaren Winternacht kehrte der Wichtel schliesslich zurück in den Schwarzwald. Unter einer alten Tanne, deren Äste schwer von Schnee waren, liess er sich auf einem bemoosten Stein nieder. Über ihm funkelten die Sterne, als wollten sie ihm Mut machen. Aber in seinem Innern war es still.
«Christkind …», murmelte er leise. «Vielleicht bin ich doch nicht der Richtige für diese Aufgabe.»
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, wurde es um ihn herum heller. Kein grelles Licht, eher ein warmes, weiches Leuchten, wie man es kennt, wenn man als Kind mit geschlossenen Augen vor einem Kamin sitzt.
Das Christkind stand plötzlich neben der Tanne. Sein Gewand aus Sternenstaub flüsterte leise, und die kleinen Flügel schimmerten im Mondlicht.
«Du siehst traurig aus, kleiner Wichtel», sagte es und setzte sich neben ihn. «Erzähl mir.»
Der Wichtel seufzte so tief, dass ein paar Schneeflocken von der Tanne fielen.
«Ich habe es versucht», begann er. «Ich bin zu den Diktatoren und Aggressoren gegangen, zu den Politikern und den ganz Grossen. Ich habe den Schlüssel an ihre Herzen gehalten, so fest ich konnte. Aber sie bleiben zu. Und jeden Tag zeigen die Menschen in ihren Medien, wie wenig sich ändert. Vielleicht ist der Schlüssel gar nicht so mächtig, wie ich dachte.»
Das Christkind schwieg einen Moment, sah in den Wald und zu den Sternen hinauf. Dann lächelte es sanft.
«Der Schlüssel ist mächtig», sagte es ruhig. «Aber er ist kein Brecheisen.»
Der Wichtel blinzelte. «Was soll das heissen?»
«Ein Herz», erklärte das Christkind, «kann nur geöffnet werden, wenn es noch irgendwo einen Spalt gibt. Einen Riss, eine kleine Sehnsucht nach Liebe, nach Frieden, nach Wahrheit. Dort kann dein Schlüssel wirken. Aber wo ein Herz sich selbst eingemauert hat, dick umschlossen von Angst, Gier und Stolz, da kannst du nicht einfach hineinbrechen. Das wäre Gewalt – und Gewalt ist nie Teil meiner Aufgabe.»
Der Wichtel liess die Schultern hängen. «Also ist alles umsonst?»
«Nein», antwortete das Christkind und legte ihm eine Hand auf die Mütze. «Du schaust zu sehr auf die, die am lautesten sind. Auf die, die die Nachrichten beherrschen. Aber die Welt besteht nicht nur aus ihnen.»
Es nickte hinunter ins Tal, wo die Lichter der kleinen Dörfer glitzerten.
«Siehst du all die Fenster dort? Hinter jedem brennt ein Leben. Eine Familie, ein einsamer Mensch, ein Kind mit einer Frage, eine alte Frau mit einer Erinnerung. Ihre Herzen sind nicht verschlossen wie Betonbunker. Viele sind nur müde oder verletzt, manche voller Zweifel. Dein Schlüssel ist für sie.»
Der Wichtel folgte dem Blick. Aus dieser Entfernung sah alles friedlich aus. Aber er wusste: In manchen Häusern wurde gestritten, in anderen geschwiegen, weil niemand mehr wusste, wie man miteinander redet.
«Also soll ich die Grossen einfach aufgeben?», fragte er vorsichtig.
«Du gibst niemanden auf», sagte das Christkind. «Aber du verschwendest dich nicht mehr nur an die, die bis jetzt nicht bereit sind. Kümmere dich um jene, die sich nach einem offenen Herzen sehnen, auch wenn sie es nicht zugeben. Die Welt verändert sich nicht nur in den Palästen – sie verändert sich am Küchentisch, im Schulhof, im Pflegeheim, im Bus und im Büro.»
Es machte eine kleine Handbewegung, und der goldene Schlüssel in der Hand des Wichtels begann stärker zu leuchten. Das Licht verpuffte nicht, sondern teilte sich – in winzige Funken, die wie Glühwürmchen um sie herum schwebten.
«Was passiert mit meinem Schlüssel?», rief der Wichtel erschrocken.
«Benka, habe keine Angst», beruhigte ihn das Christkind. «Jedes Mal, wenn du mit diesem Schlüssel ein Herz ein Stück weit öffnest, entsteht ein neuer, unsichtbarer Schlüssel in diesem Menschen. Ein innerer. Dann kann dieser Mensch wiederum andere Herzen berühren – mit einem freundlichen Wort, einer Entschuldigung, einem mutigen Nein oder einem unerwarteten Ja.»
Ein Funke schwebte hinab ins Tal, durch das Dach eines Hauses, direkt in das Zimmer eines Kindes. Dort sass ein Mädchen am Fenster und drückte einen Brief ans Christkind fest an sich.
«Sie heisst Lina», flüsterte das Christkind. «Sie hat dir geschrieben, ohne zu wissen, dass es dich wirklich gibt. Sie versteht nicht, warum sich ihre Eltern so oft streiten und warum alle immer so gestresst sind, wenn es doch Weihnachten ist.»
Der Wichtel lauschte. Er hörte gedämpfte Stimmen aus dem unteren Stockwerk, scharf und müde. Das Mädchen wischte sich eine Träne von der Wange.
«Geh zu ihr», sagte das Christkind leise. «Zeig ihr, dass ihr Herz wichtig ist. Und dann sieh, was passiert.»
In einem Augenblick stand der Wichtel in Linas Zimmer, so klein, dass er bequem zwischen ihren Kuscheltieren Platz fand. Lina spürte nur ein warmes Kitzeln im Herzen und blickte irritiert auf.
Der Wichtel hob den goldenen Schlüssel. Nur Lina konnte das Leuchten ahnen, wie ein Gefühl von Hoffnung, das man nicht benennen kann.
«Lina», flüsterte er, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht wirklich hören würde. «Du bist nicht machtlos.»
Er hielt den Schlüssel an ihr Herz. Kein grosses Spektakel, kein Donner, nur ein leises, wohliges Klopfen.
Lina stand plötzlich auf, legte den Brief zur Seite und ging vorsichtig die Treppe hinunter. Unten im Wohnzimmer standen ihre Eltern, beide mit verschränkten Armen, zwischen ihnen ein Berg unerledigter Dinge. Die Luft war voll unausgesprochener Vorwürfe.
«Mama? Papa?», sagte Lina schüchtern.
Beide drehten sich um.
«Können wir heute Abend …», sie zögerte, «… einfach zusammen Tee trinken und Plätzchen essen, ohne Streit? Es ist doch Weihnachten. Ich habe euch beide lieb.»
Es war kein Wundermoment im Märchenbuch, kein sofortiges Happy End. Aber in den Gesichtern ihrer Eltern flackerte etwas auf – Irritation, dann Rührung, dann eine leise Scham.
Die Mutter atmete tief durch. «Ja», sagte sie schliesslich. «Das … können wir versuchen.»
Der Vater räusperte sich verlegen, ging in die Küche und brachte drei Tassen. Der Streit war nicht für immer verschwunden, aber für diesen Abend trat er zur Seite. Stattdessen war da ein kleines, warmes Miteinander.
Der Wichtel lächelte. Ganz zart, fast unmerklich, bildete sich in den Herzen der Eltern ebenfalls ein winziger, unsichtbarer Schlüssel.
«Siehst du?», flüsterte das Christkind, das plötzlich wieder neben ihm stand. «So beginnt es. Aus einem geöffneten Herzen werden drei, aus dreien neun, und so weiter. Irgendwann sitzen vielleicht auch Menschen in grossen Ämtern am Tisch, deren Herz einmal von einem solchen Schlüssel berührt wurde – als Kind, als Freund, als Elternteil. Und dann hören sie anders hin.»
Der Wichtel nickte langsam. Er verstand.
Seit dieser Nacht war er noch immer mit dem goldenen Schlüssel unterwegs – aber seine Wege hatten sich verändert. Er sass in überfüllten Bahnen neben Menschen, die sich einsam fühlten. Benka begleitete Pflegekräfte, die müde, aber liebevoll die Hand alter Menschen hielten. Er war dabei, wenn jemand den Mut fand, «Es tut mir leid» zu sagen, oder «Ich helfe dir», oder «Ich stehe auf gegen das Unrecht».
Die grossen Nachrichten der Welt erzählten weiterhin von Kriegen, Skandalen und Egoismus. Doch zwischen den Zeilen, in den kleinen, unscheinbaren Geschichten, glomm etwas Neues.
Und manchmal, in einer besonders stillen Nacht, wenn du glaubst, ganz allein vor deinem Weihnachtsbaum zu sitzen, könnte es sein, dass ein winziges Wesen aus dem Schwarzwald neben dir auftaucht. Du spürst vielleicht nur ein warmes Ziehen in der Brust, ein leises Drängen, jemanden anzurufen, zu verzeihen, zu helfen oder einfach ganz bewusst zuzuhören.
Dann weisst du:
Der Wichtel hat seinen Schlüssel an dein Herz gehalten.
Den Rest musst du selbst tun.










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