Ein Drache, ein Bär, der Adler und Helvetia
- thomasvonriedt
- 24. Sept.
- 2 Min. Lesezeit

Am Rande der Alpen tobt ein eigentümlicher Streit.
Ein goldgrüner Drache speit Flammen und prahlt: «Ich verbrenne alles, was mir widerspricht!» Ein mächtigerer Bär donnert mit den Pranken: «Meine rohe Kraft beugt jeden Feind!» Am Himmel zieht ein Adler seine Kreise und ruft: «Ich beherrsche den Himmel, keiner entkommt meinem Blick!» Und so plustern sie sich auf, einer will grösser als der andere sein. Keiner will auch nur einen Zoll weichen.
Da tritt die zierliche Helvetia hervor. In der Hand trägt sie Schild und Speer, auf den Lippen aber keine Drohung, sondern nur schlichte, belehrende Worte:
«Neutralität, ich greife nicht ein, ich halte stand, das ist mein Weg», spricht sie artikuliert, deutlich und mit unverkennbarem Dialekt.
Die drei riesigen Bestien fühlen sich völlig irritiert. «Was will diese unscheinbare Figur aus den Bergen?» Sie entscheiden sich zum Angriff auf die vermeintlich schwache Frau. Der Drache stürzt sich vom Himmel, doch die engen Schluchten kratzen an seinen Flügeln, lenken ihn ab, die eisigen Gletscher löschen sein Feuer. Der Bär stampft wuchtig vorwärts, doch hohe Berge rauben ihm jede Kraft, er verliert an Marschgeschwindigkeit. Erfolglos sucht auch der Herr der Lüfte, der Adler. Er sucht vergebens nach einer Lücke, natürliche Grenzen, Nebel und Stürme stossen ihn zurück.
Und Helvetia bleibt stoisch ruhig, unbewegt, und weiss, dass sie, ohne einen Schlag zu führen, gewinnen wird.
Währenddessen, in Brüssel: vier alte Bekannte, Marianne, Michel, Britannia und der Kaiser Franz Josef, sitzen um einen schweren Eichentisch und verfolgen gespannt die Aktionen am Bildschirm des Kontrollraumes.
Sie geniessen den subventionierten griechischen Wein, füllen die Gläser nach, schlemmen sich durch die internationale Gourmetküche und beobachten das Schauspiel aus sicherer Distanz.
Marianne, wischt sich einen Tropfen Wein vom Mundwinkel und ruft: «Voilà!» «Helvetia bleibt frei, indem sie sich nicht in Streitereien hineinziehen lässt. Très courageuse». Britannia schüttelt das Glas, hebt spöttisch die Braue: «By Jove, sie trotzt selbst dem Drachen, während wir hier mit Regeln und Budgets ringen, als wir noch …» Michel zupft derweil verlegen an seiner Zipfelmütze und seufzt: «Ach, hätte ich doch auch so viel Selbstbewusstsein, statt immer die Rechnungen zu begleichen.» Der Kaiser richtet bedächtig den Maria-Theresia-Orden an seinem Rock, fischt sich dann eine kroatische Olive aus der Kristallschale und meint: «Ah geh, Sie versteht einfach die Kunst, mittendrin zu stehen und doch nicht vereinnahmt zu werden.» «Wir hatten schon 1291 Mühe mit ihr.»
Die vier nicken anerkennend, gleichzeitig etwas schadenfreudig und doch innerlich neidisch, trinken weiter und reden weiter endlos über Haushaltszahlen. In den Alpen sind Drache, Bär und Adler müde geworden und haben ihre Attacken aufgegeben. Es gibt noch andere Möglichkeiten, sich prominent zu profilieren, da sind sie sich einig.
Und Helvetia, die zwischenzeitlich auf ihren Platz auf dem Bundeshausdach zurückgekehrt ist, denkt: «Neutralität mag unscheinbar wirken – doch sie ist der stärkste Schild, den ich habe.»
Schweissgebadet erwacht in St. Gallen eine Oberschullehrerin, rückt ihren Scheitel zurecht und tippt in ihrer elektronischen To-do-Liste: «Jetzt muss ich aber etwas unternehmen, wenn alles so sein soll, wie wir das wollen.»









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