Der Redlimaa - Das Grauen im Unterland
- thomasvonriedt
- 25. Nov.
- 13 Min. Lesezeit

Das Grauen im Zürcher Unterland im 21. Jahrhundert hat einen Namen: den Nebel. Doch der ist eigentlich nicht gemeint. Die Menschen haben längst vergessen, was sie einst peinigte – und was jederzeit wiederkehren könnte. Vielleicht ist es nie ganz verschwunden.
Manche spüren das Unheil im Voraus – Menschen mit feinen Antennen, die das Dunkle wittern, bevor es Gestalt annimmt. Doch sie tun es ab. Sie glauben nicht daran, suchen rationale Erklärungen. Und wer will schon als Spinner gelten?
Jedes Jahr, wenn der unselige Brauch des Halloween am 31. Oktober seinem kommerziellen Höhepunkt entgegensteuert, kämpft das wahre Grauen ums Überleben.
Trick ’r Treat wird mit Zuckerwerk erstickt, Skelette, Ghouls und Zombies buhlen um Aufmerksamkeit, während der echte Schrecken vergeblich am Kreuzweg auf seine Opfer wartet. Und wenn er doch einmal eine unschuldige Seele packt, berichten die Lokalzeitungen tags darauf von einem tragischen Unfall mit Fahrerflucht.
Ein solcher Ort liegt am alten Pilgerweg von Oberrhein nach Einsiedeln – dort, wo einst die Kapelle Unserer Guten Frau Maria vom Pflasterbach stand, nahe der Burgruine Sünikon. Beide Bauwerke sind längst verschwunden, zerfallen und vergessen. Einst aber boten sie Schutz – den Büssern, den Wanderern, den Verlorenen – vor Wind, Wetter und dem lauernden Bösen, das immer noch in den Nebeln des Unterlands haust.
Prolog – Der Heimkehrer
Das Zürcher Unterland lag unter einer Decke aus Nebel, die so schwer auf den Feldern ruhte, dass selbst die Krähen längst verstummt waren. Kein Laut, kein Licht, kein Stern. Nur das dumpfe Grollen der Ferne – vielleicht ein Zug, vielleicht der Wind, vielleicht etwas anderes.
Hansruedi Keller torkelte aus der Beiz beim Dorfplatz von Sünikon. Es war spät geworden, später als sonst. Der Wirt hatte schon dreimal „Höre jetzt, Hansruedi!“ gerufen, aber der Heimkehrer aus Regensberg hatte ein letztes Glas Most bestellt, „für d’Wärmi im Magen“. Nun wankte er hinaus, die Jacke halb offen, den Hut schief auf dem Kopf, selig in seinem Lied: „S’Liebi Gotterli, du bisch so guet …“
Seine Stimme verlor sich im Nebel, der über die Wehntalstrasse kroch wie kalter Atem. Er zog sich in jede Pore, klebte an Haut und Kleidung, machte die Luft schwer. Nach hundert Schritten war das Dorf verschwunden. Nur die nassen Strassensteine glänzten schwach im matten Mondlicht.
Dort, wo der Pflasterbach unter der Strasse hindurchführt, blieb Hansruedi stehen. Er hörte Wasser glucksen, tief unten, wie ein verschlucktes Kichern. Er lachte zurück, ein wenig verlegen.
„Ha! Wär da? He, mach kei Seich!“
Etwas antwortete – nicht mit Worten, sondern mit einem Laut. Ein metallisches Knirschen. Wie Eisen auf Stein. Wie ein Rad, das sich langsam dreht.
Hansruedi rieb sich die Augen. Der Nebel war dichter geworden, und in ihm schien sich etwas zu bewegen. Ein Schatten, schwer, unförmig, mit einem dumpfen, schleppenden Geräusch. Der Geruch von faulendem Laub und altem Blut lag in der Luft. Er wich zurück. „Wer… wer isch da?“ rief er, diesmal zittrig. Kein Echo antwortete, nur das leise, gequälte Ächzen von Holz, das seit Jahrhunderten unter Spannung steht.
Und dann – kam das Rad.
Zuerst sah er nur den Umriss: ein Rad aus Eisen und Knochen, das über den Asphalt rollte, ohne dass es etwas zog. Darauf, in gekrümmter Haltung, ein Körper – oder das, was von einem übrig geblieben war. Schädel und Schultern, verflochten in rostigen Speichen, Hände, die griffen, obwohl sie längst nicht mehr leben konnten. Die Augen – leer, und doch glühend vor Hass.
„De… de Radmann…?“ stammelte Hansruedi, und in diesem Moment wusste er, dass die Geschichten stimmten.
Seit jener Nacht, so erzählen es die Alten, steigt der Verfluchte jedes Jahr am 31. Oktober aus dem Bach. Einst wurde er von den Regensbergern für seine Schandtaten gefasst, aufs Rad geflochten, zum Tode verurteilt. Er schwor, nie zu ruhen, bis er jedes Jahr eine Seele für seine Qualen eintauschen könne.
Am nächsten Morgen fand man Hansruedis Mütze im Gras, feucht und dunkelrot. Daneben tiefe Rillen im Erdreich, kreisrund, als hätte ein schweres Rad den Weg hinaufgezogen.
Die Polizei schrieb: Tragischer Unfall mit Fahrerflucht. Doch im Dorf sagte man nur:
„Er het si wieder gholt.“ Und wenn die Nebel kommen, bleibt man in Sünikon besser drinnen.
Denn unten am Pflasterbach – da dreht sich immer noch etwas.
Kapitel 1 – Der Unfall von Sünikon
Es war der Morgen nach Halloween, und über dem Zürcher Unterland hing wieder dieser Nebel – dicht, grau, süsslich nach feuchtem Laub und Diesel. Auf der Wehntalstrasse blinkten Blaulichter. Zwei Patrouillenwagen der Kantonspolizei Zürich standen quer, die Spur Richtung Regensberg war gesperrt. Ein Wagen der Schutz und Rettung, Frontscheibe, am Boden eine Mütze, ein Schuh, und ein junger Polizist, der sich den Kragen hochzog, als könnte er so den Geruch fernhalten.
Lukas Rinderknecht, freier Journalist, hielt am Strassenrand. Er arbeitete für den Zürcher Unterländer, eine Zeitung, die längst mehr Online-Portal als Redaktion war. Eigentlich war er wegen eines anderen Termins unterwegs – ein Beitrag über Halloween-Events und ihre ökologischen Folgen. Doch das Flatterband, das Blaulicht und das Wort „Unfall“ weckten Instinkt und Neugier.
Er zeigte seine Pressekarte, wurde durchgewinkt, und die Szene sog ihn auf: ein aufgerissener Asphaltfleck, Spuren im Lehm am Bach, und eine Reihe von runden, gleichmässigen Einkerbungen im feuchten Boden. Als hätte jemand ein altes Wagenrad durchgezogen.
„Fahrerflucht“, murmelte der diensthabende Beamte, „wahrscheinlich war’s ein Lieferwagen. Opfer heisst Keller, Hansruedi. Hat sich gestern in der Beiz bis Mitternacht vollgetankt. Muss heimwärts gestolpert sein – und Pech gehabt haben.“
Lukas notierte, nickte, doch sein Blick blieb an den Rillen im Boden hängen.
„Hat jemand den Wagen gefunden?“
„Nein.“
„Zeugen?“
„Nur der Nebel.“
Der Polizist grinste, als wäre das ein Witz, aber Lukas spürte, dass etwas an dieser Szenerie nicht stimmte. Er kniete sich hin, zog die Handschuhe an und berührte den Boden.
Der Abdruck war alt – nicht frisch, verkrustet, und zu tief, als dass er von einem modernen Reifen stammen konnte.
Aus dem Rohr des Pflasterbachs gluckerte Wasser. Ein dumpfer, rhythmischer Laut.
Knirschen. Drehen. Knirschen. Lukas richtete sich auf, sah in den Nebel hinab – und schwor, eine Bewegung zu erkennen. Etwas Dunkles, Rundes, das kurz auftauchte und wieder verschwand.
Als er blinzelte, war nichts mehr da.
Er atmete durch, machte ein paar Fotos, schrieb seine Notizen. Aber der Geruch – eine Mischung aus Rost, Moder und kaltem Eisen – liess ihn den ganzen Tag nicht mehr los.
Und als er abends den Artikel schrieb, las er im Netz zufällig den Namen Pflasterbach.
Darunter: ein Forenbeitrag, zehn Jahre alt.
Titel: „Der Radmann kommt, wenn der Nebel ruft.“
Kapitel 2 – Die Polizistin aus Dielsdorf
Am nächsten Morgen lag der Nebel noch immer über dem Land – zäher, dichter, als wolle er etwas verbergen.
Im Kommandoraum der Kantonspolizei Dielsdorf summten die Neonröhren, der Duft von kaltem Kaffee hing in der Luft. Oberwachtmeisterin Sandra Baumgartner beugte sich über die Einsatzmappe. Fallnummer 25/1031/SÜN. Unfall mit Todesfolge. Fahrerflucht. Opfer: Hansruedi Keller.
Sie seufzte.
„Schon wieder so ein Allerheiligen-Fall“, murmelte sie.
Ihr Kollege sah auf. „Wie meinst du?“
„Seit Jahren passiert immer um diese Zeit irgendwas dort unten. Zwischen Sünikon und Regensberg. Mal ein toter Fuchs, mal ein verunglückter Bauer, jetzt der Keller Hansruedi. Immer am oder um den 31. Oktober. Komisch, oder?“
Der Kollege grinste. „Vielleicht spukt da einer herum.“
„Vielleicht.“
Aber Sandra spürte, dass es mehr war als Spinnerei. Sie war in Sünikon aufgewachsen, kannte jeden Stein, jeden Hof, jedes Gesicht. Als Kind hatte man ihr verboten, nachts zum Pflasterbach zu gehen. Die Alten erzählten, dort wohne der „Radmann“.
Sie hatte darüber gelacht – damals. Heute nicht mehr.
Gegen Mittag fuhr sie selbst zur Unfallstelle.
Der Nebel lag noch immer wie ein Leichentuch über der Strasse. Das Absperrband war entfernt, doch man sah noch die Rillen im Boden – gleichmässig, kreisrund, zu tief für einen Autoreifen.
Sie kniete sich hin, tastete über das feuchte Erdreich. Etwas Kaltes, Metallisches blitzte zwischen den Grashalmen: ein rostiges Stück Eisen, halbmondförmig, wie der Rest einer alten Speiche.
Ein Windstoss kam auf, trieb Nebelfetzen über die Strasse, und für einen Moment glaubte sie, ein dumpfes Knirschen zu hören – rhythmisch, mahlend, wie ein Rad, das sich dreht.
Sie fuhr herum. Nichts.
Als sie aufblickte, stand ein Mann da – der Journalist vom Zürcher Unterländer, Lukas Rinderknecht.
Er grinste unsicher. „Ich dachte, ich sei der Einzige, den’s hierher zurückzieht.“
„Polizei zieht immer dahin, wo’s stinkt“, erwiderte sie, fast trocken.
Er lachte leise. „Haben Sie auch das Gefühl, dass hier was nicht stimmt?“
Sie musterte ihn kurz. „Was meinen Sie?“
„Diese Spuren – ich habe recherchiert. Es gibt sie schon länger. Immer am gleichen Ort.
Und wissen Sie, was die Alten erzählen?“
„Ich weiss es. Ich bin von hier.“
Ein Schweigen. Der Nebel um sie herum bewegte sich, als würde er ihnen zuhören.
Dann sagte sie leise: „Man nannte ihn den Radmann. Und man sagt, er holt sich jedes Jahr am 31. Oktober eine Seele.“
Lukas wollte etwas entgegnen, doch sein Handy vibrierte: eine neue E-Mail. Absender: anonym@darktrail.net.
Betreff: „Der erste war nicht der letzte.“
Anhang: ein altes Pergamentfoto, auf dem man einen gefesselten Mann sah, ein Rad, und darunter in verblasster Tinte:
„Anno Domini MCCXCVIII – Kuoni von Schöfflisdorf, Räuber und Frevler, gerichtet zu Regensberg.“
Lukas hob den Blick, und im Nebel glaubte er kurz, aus dem Tal ein fernes Wimmern zu hören.
Kapitel 3 – Der Fluch des Kuoni von Schöfflisdorf
Anno Domini 1298, als der Herbst kalt und nass auf das Zürcher Unterland fiel, regierte Lütold, der Fünfte, Burgherr von Regensberg, mit strenger Hand über Land und Leute.
Die Pilgerwege nach Einsiedeln waren beschwerlich, doch sicher – bis jenes Jahr, da Blut in Sünikon floss.
Drei Pilger, Männer aus dem Schwabenland, wurden dort überfallen, gemeuchelt und ausgeraubt, ihre Leiber in den Pflasterbach geworfen. Die Kunde davon verbreitete sich schnell, und bald stand der Name des Täters fest: Kuoni von Schöfflisdorf, ein Wegelagerer, ehemals Knecht auf einem Hof, in Trunkenheit und Zorn verfallen. Man ergriff ihn in einer Scheune nahe Otelfingen, mit einem silbernen Rosenkranz und einem blutverschmierten Mantel. Er wurde nach Regensberg gebracht, in Ketten, und in das unterste Verlies geworfen – ein Loch in der Erde, feucht, eng, ohne Licht. Dort wartete er auf das Urteil.
Am dritten Tage trat Lütold selbst in das Verlies. Er trug Kettenhandschuhe und das Wappen der Regensberger auf der Brust.
„Gesteh, Kuoni“,“ sprach er, „dass du die Pilger erschlagen hast. Der Herr sei dir gnädig, wenn du reuig bist.“
Kuoni lachte. „Euer Herr kennt keine Gnade für arme Knechte. Ich tat, was Hunger mir befahl.“
Darauf gab Lütold ein Zeichen. Zwei Schergen traten hervor – grobe Männer, einer mit einer glühenden Zange, der andere mit einem Eisenrad, mannshoch und rostig. Sie banden Kuoni an einen Pfahl, rissen ihm das Hemd vom Leib. Als die erste Zange in sein Fleisch fuhr, füllte sich das Verlies mit einem Laut, der nicht Mensch und nicht Tier war.
„Gesteh!“
„Nie!“
Die Zange biss tiefer, der Rauch von verbranntem Fleisch stieg auf.
Kuoni schrie, bis seine Stimme brach. Blut tropfte auf den Steinboden, mischte sich mit dem Wasser, das aus den Mauern sickerte. Lütold trat näher, kalt wie ein Richter aus Stein.
„Für jeden Tropfen Blut, den du vergossen hast, wird dir einer entzogen.“
Da lachte Kuoni, trotz Qual, trotz Wahnsinn, und sein Lachen hallte durch das Gemäuer.
„Hört mich, ihr Regensberger Hunde! Ich schwöre’s bei Hölle und Pest: Solange Nebel über eure Felder zieht, will ich zurückkehren! Jedes Jahr am letzten Oktoberabend hol’ ich mir eine Seele von eurem Land – so wahr mir der Teufel beistehe!“
Dann fiel das Urteil.
Am nächsten Morgen, bei grauem Himmel, wurde Kuoni auf den Richtplatz geführt. Man fesselte ihn ans Rad, Glied um Glied, bis die Knochen krachten. Seine Schreie sollen bis nach Dielsdorf hinunter gehört worden sein. Als das Rad sich drehte, sank Nebel vom Berg herab – dicht, weiss, schweigend – und hüllte alles ein.
Als der Nebel wich, war Kuonis Leichnam fort.
Nur das Rad blieb zurück, schwach glühend vom Blut, das in seine Speichen gesickert war.
Seitdem meidet man den Weg beim Pflasterbach. Und wenn die Nächte um Allerheiligen besonders feucht sind, hört man tief unten aus dem Tal ein Rad knirschen – als würde einer noch immer fahren, der nie ankommen darf.
Kapitel 4 – Die Erben des Fluchs
Der Nebel war geblieben. Drei Tage nun hatte er das Zürcher Unterland umschlungen, als wolle er die Welt unter sich begraben.
Sandra Baumgartner sass in ihrem kleinen Büro in Dielsdorf. Vor ihr lag ein vergilbter Ausdruck – die E-Mail, die Lukas ihr weitergeleitet hatte. Das Foto zeigte das Pergament mit der Hinrichtung des Kuoni von Schöfflisdorf. Darunter, kaum lesbar, eine lateinische Randnotiz in brauner, verlaufener Tinte.
Lukas hatte den Text über Nacht übersetzen lassen – von einem Historiker der Uni Zürich, der sich auf mittelalterliche Gerichtsakten spezialisiert hatte.
Er trat nun ein, noch den Mantel an, der nach feuchtem Nebel roch.
„Du wirst es nicht glauben“, sagte er, und seine Stimme war ernster als sonst.
„Ich habe die Herkunft des Pergaments überprüft. Es stammt tatsächlich aus dem Stadtarchiv Regensberg – Bestand 13, Verhöre 1298. Und hör dir das an, was dort am Rand steht.“
Er legte einen Ausdruck auf den Tisch.
‘In nocte sancti Samhain, dum nebula descendit, malum potest pacari per orationem innocentis sanguinis. In loco sceleris, ubi rota quievit, si genu flectitur et miserere dicitur, solvetur vinculum et anima liberabitur.’
Sandra sah ihn an. „Und das heisst?“
„Auf Deutsch: In der Nacht des heiligen Samhain, wenn der Nebel herabsteigt, kann das Böse besänftigt werden durch das Gebet eines unschuldigen Blutes. An dem Ort des Verbrechens, wo das Rad zur Ruhe kam, wenn man dort kniet und das Miserere spricht, wird das Band gelöst und die Seele erlöst.“
Ein Schweigen legte sich über den Raum. Draußen klopfte der Regen gegen die Scheibe, dumpf, wie Herzschläge.
„Unschuldiges Blut“, murmelte Sandra. Und was hat das mit mir zu tun?“
Lukas zögerte, dann zog er ein weiteres Blatt hervor. Ein genealogischer Auszug, den er in den Kirchenregistern von Schöfflisdorf gefunden hatte. Er schob es ihr hin.
„Deine Urgrossmutter väterlicherseits hiess Baumgartner-Kuoniger. Ursprünglich hiess die Familie Kuoni. Später wurde der Name geändert, wahrscheinlich, um die Verbindung zu verbergen. Du… „Du bist eine Nachfahrin.“
Sandra starrte auf das Papier. Einen Moment, als würde die Luft im Raum dünn.
„Unsinn“, sagte sie leise, fast trotzig. „So etwas gibt es nicht mehr. Flüche, Geister, alte Sagen—“
„Sag das dem Keller“,“ fiel Lukas ein, „der tot auf der Strasse lag. Oder den Rillen im Boden. Oder dem Wind, der gestern Nacht deinen Namen gerufen hat.“
Sie hob den Kopf.
„Wie meinst du das?“
„Ich war unten am Pflasterbach. Ich wollte Fotos machen. Da war…“
Er brach ab, rang nach Worten. „Etwas. Es drehte sich. Ich schwöre es dir, ich habe ein Rad gehört, ganz deutlich. Und… „Es blieb stehen, als ich deinen Namen flüsterte.“
Ein dumpfer Schlag liess sie beide auffahren – draussen, irgendwo im Hof. Eine Mülltonne? Ein Stein? Der Wind? Sandra griff nach ihrer Dienstwaffe. „Komm“, sagte sie, „wir fahren hin. Wenn da was dran ist, dann beenden wir das – heute Nacht.“
Lukas nickte.
„Heute ist der 31. Oktober.“
Kapitel 5 – Der Nebel und das Licht
Die Nacht des 31. Oktober war finster wie selten. Der Wind heulte über die Hügel, rüttelte an den Fenstern der alten Häuser. Regen peitschte gegen die Dächer von Sünikon, und in den Senken stand das Wasser. Der Pflasterbach schwoll an, ein dunkles, wütendes Tier, das sich durch den Schlamm wälzte.
Sandra Baumgartner lenkte den Streifenwagen langsam die Wehntalstrasse hinab. Neben ihr sass Lukas, bleich, aber entschlossen. Auf der Rückbank der alte Pfarrer Hugentobler aus Dielsdorf, den Sandra in letzter Minute überzeugt hatte, mitzukommen. Er trug eine Laterne und ein altes Messbuch, das er fest an sich drückte.
„Das ist Wahnsinn“, murmelte Lukas, als sie die Stelle erreichten, wo der Bach unter der Strasse hindurchführte. „Hier hat es angefangen.“ Sandra nickte. „Und hier wird es enden.“
Sie stiegen aus. Der Wind riss ihr fast die Tür aus der Hand. Der Regen kam waagrecht, und der Nebel – ja, der Nebel war da, dichter als je zuvor, pulsierend, lebendig.
Er schien sie zu umkreisen, zu atmen. Aus der Tiefe drang ein Klirren, dann ein dumpfes Rollen, erst fern, dann näher.
Pfarrer Hugentobler hob das Kreuz, seine Stimme zitterte: „Dominus illuminatio mea… Der Herr ist mein Licht…“
Ein gellender Laut durchschnitt die Nacht. Aus dem Nebel trat das Rad. Langsam, mahlend, als käme es aus der Erde selbst. Eisen auf Stein, Speichen, die Funken schlugen. Darauf – oder darin – die verzerrte Gestalt eines Mannes: Kuoni von Schöfflisdorf, der Radmann. Fleischlos, doch nicht leer. In seinen Augen loderte ein uraltes Feuer aus Hass und Schmerz.
„Wer wagt es, mich zu rufen?“, donnerte eine Stimme, die nicht aus seinem Mund kam, sondern aus dem Nebel ringsum. Sandra trat vor. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht, der Wind riss an ihrem Mantel.
„Ich bin Sandra Baumgartner, Tochter der Linie Kuoni! Ich komme, um zu bitten – nicht zu kämpfen!“
Ein schneidendes Kreischen, als das Rad sich drehte. „Blut ruft nach Blut! Kein Gebet löscht, was geschah!« Pfarrer Hugentobler trat neben sie, die Laterne flackerte im Sturm.
„Doch, mein Sohn“,“ rief er gegen den Lärm an, „Barmherzigkeit löscht mehr als Blut!“
Er begann zu beten, laut, klar, die alte Formel: „Miserere mei, Deus, secundum magnam misericordiam tuam…“
Sandra kniete nieder, mitten im Schlamm, hob die Hände zum Himmel, wiederholte die Worte, erst stockend, dann fester, entschlossener.
„Erbarme dich seiner, Herr, erbarme dich unser…“
Da erhob sich ein Schrei – kein menschlicher, kein tierischer Laut, sondern das Aufbäumen eines jahrhundertealten Zorns, der zerrissen wird. Das Rad stürzte nach vorn, traf auf den Boden, zersprang in glühende Splitter. Ein Lichtstrahl – grell, rein, unerwartet – brach durch den schwarzen Himmel, schnitt durch Regen und Nebel, traf die Gestalt des Radmanns. Er bäumte sich auf, die Hände zum Himmel gereckt, ein Laut zwischen Schmerz und Erlösung entwich ihm. Dann – Stille. Das Licht erlosch.
Nur der Regen fiel weiter, friedlich, als hätte er alles fortgespült.
Pfarrer Hugentobler bekreuzigte sich. „Es ist vollbracht“,“ flüsterte er. „Die ruhelose Seele ist frei.“
Sandra stand langsam auf. Der Nebel zog sich zurück, wie ein Tier, das den Kampf verloren hat. Lukas trat zu ihr, legte eine Hand auf ihre Schulter.
„Du hast es geschafft.“
„Nicht ich“,“ sagte sie leise, „er. Er wollte endlich Ruhe.“
In der Ferne begann der Himmel aufzuhellen – das erste fahle Grau des Morgens.
Epilog
Eine Woche später erschien im Zürcher Unterländer Lukas Rinderknechts Artikel:
„Der Radmann von Sünikon – Eine Legende stirbt im Nebel“.
Er ging viral. Niemand sprach mehr von einem Unfall – sondern von einem Wunder.
Sandra Baumgartner fuhr eines Abends hinauf nach Regensberg, stand am alten Platz unterhalb der Ruine, wo einst das Rad gebrochen war. Sie legte eine kleine Rose ins Gras und dachte an Kuoni – den Verfluchten, den Erlösten, den Ahnen. Dann blickte sie zum Himmel, wo das Licht der Dämmerung die Wolken rötlich färbte.
„Endlich Ruhe“,“ flüsterte sie.
Als sie sich umdrehte, stand Lukas da, mit seinem verschmitzten Lächeln.
„Ich habe gedacht, ich finde dich hier.“
„Ich gehöre hierher“, sagte sie.
„Dann bleibe ich wohl auch.“
Sie lächelte, und im Tal darunter löste sich der letzte Nebelschleier.
Zum ersten Mal seit Jahrhunderten blieb der Pflasterbach still.










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