Der Kaiser von Abessinien
- thomasvonriedt
- vor 6 Tagen
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Nun ja – eher nicht. Auch wenn die farbenfrohen Kaubonbons einen hübschen Kontrast zur Erscheinung des letzten abessinischen Kaisers abgegeben hätten. Vielleicht hätte er sie sogar gemocht und seinen Kindern mitgebracht.
Haile Selassie starb 1975 – bis heute ist nicht abschliessend geklärt, ob eines natürlichen Todes oder ob er, wie manche vermuten, mit einem Kissen erstickt wurde. Wer sich vertiefen will, findet beim Spiegel einen gut verständlichen Überblick über seinen Tod und die spätere Exhumierung.
Während seiner Regierungszeit besuchte er 1954 die Schweiz und wurde in Bern triumphal empfangen: Rund 100 000 Menschen säumten die Strassen. Auch Zürich stand auf seinem Programm. Dort soll er mit seinem Bekannten, dem Industriellen und Waffenlieferanten Dieter Bührle, bei einer Tasse Kaffee über Geschäfte gesprochen haben.
Selassie war eine umstrittene, zugleich faszinierende Persönlichkeit. In den farbarmen 1950er-Jahren wirkte er in der Schweiz exotisch, fast entrückt. Nach seinem legendären Besuch auf Jamaika wurde er von den Rastafaris gar als gottähnliche Gestalt verehrt. Wer mag, höre auf YouTube Selassie Is the Chapel: ein naiv-religiöses, leicht kitschiges Stück – so gar nicht Bob Marley-like.
Haile Selassie in Zürich – und ich mittendrin
1954 also: Der Kaiser besucht die Schweiz und fährt, aus unbekannten Gründen, auch durch die Frohburgstrasse in Zürich. Dass er mir, einem kleinen Knirps im sportlichen Kinderwagen, zuwinkte – aber leider keine Sugus warf –, wusste ich damals natürlich nicht. Ich informierte mich mit zweieinhalb Jahren noch nicht in sozialen Medien.
Ich wuchs in einer gutbürgerlichen Familie auf. Mein Vater gehörte zu den ersten Grafikern Zürichs, meine Mutter modelte gelegentlich und widmete sich – ganz im Geist der Fünfziger – der Rolle als Ehefrau und Mutter. Wir lebten in einem neuen Quartier zwischen Winterthurerstrasse und Frohburgstrasse, direkt am Rand des Zürichbergwaldes. Moderne Bodenheizungen, astronomische Mieten und ein durchwegs schweizerisches Publikum prägten diesen Mikrokosmos des gehobenen Mittelstands. Heute – nach gut 70 Jahren – sollen die Häuser abgerissen und durch fünfstöckige Neubauten ersetzt werden. Wer dort aufwachsen durfte, schuldet seinen Eltern Dankbarkeit.
Ein Kaiser in Zürich – das war ein Ereignis. Die öffentlichen Verkehrsmittel waren spärlich; wer in die Stadt wollte, musste zur Tram-Endstation Irchel der Linie 9 oder zum Bernina-Platz zur 14. Deshalb war die Aufregung im Quartier umso grösser, als sich von Tür zu Tür das Gerücht verbreitete: „Der Kaiser fährt bei uns durch!“
Der Moment, als der Kaiser winkte
„Er kommt!“, werden die Frauen gerufen haben. Autos waren in unserem Quartier selten – ein Rolls-Royce erst recht. Und dann erschien er: der „Löwe von Abessinien“, lächelnd, winkend – und schon war er an uns vorbei.
Meine Mutter muss vor Ehrfurcht erstarrt sein. Später erzählte sie, der Wagen habe kurz gebremst, fast gehalten, und der Kaiser habe mir lachend zugewinkt. Ob ihn mein krauses, braunes Haar an eines seiner Kinder erinnerte? Wohl kaum. Wahrscheinlicher ist, dass ihm die elegante Silhouette meiner damals sehr attraktiven, dreissigjährigen Mutter auffiel. Noch mit fast neunzig Jahren war sie überzeugt: „Er hätte deinetwegen fast angehalten.“
Was hätte ich schon vom Negus gehabt? Sugus jedenfalls hätte ich garantiert nicht vergessen.
Heute – fast sieben Jahrzehnte später – lese ich ein Buch über die mögliche Verbindung der Königin von Saba und König Salomo. Nach äthiopischem Glauben war Haile Selassie der 225. Nachfahre dieser legendären Paarung.
Der 227., Zera Yacob Amha Selassie, wird noch heute offiziell als Oberhaupt der kaiserlichen Familie anerkannt.










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