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David und Goliath in Bern

  • thomasvonriedt
  • 25. Nov.
  • 5 Min. Lesezeit
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oder wie man sich Ansehen verschafft.



Prolog – Der Mut der Kleinen


Seit Jahrtausenden erzählt man die Geschichte von David und Goliath: Ein Hirtenjunge, kaum mehr als ein Knabe, tritt einem Krieger entgegen, der an Grösse, Stärke und Erfahrung jeden anderen überragt. Ohne Rüstung, ohne Schwert – nur mit einer Schleuder, einem Stein und seinem Glauben an Jehova. Und dennoch siegt er.

 

Für viele ist es eine Geschichte über Mut.

Für andere eine übergöttliche Führung.

Manche jedoch – wie den Jungen in dieser Erzählung – ist es vor allem ein Abenteuer, das den Funken im Herzen entzündet.

 

Denn irgendwo, in einer Stadt unserer Zeit, lebte ein anderer David.

Und auch er sollte seinem ganz eigenen Goliath begegnen.


 

Kapitel 1 – Ferien, Fantasien und ein VW Käfer


David war zwölf und besass eine eindrucksvolle Begabung: Er konnte sich in Sekundenschnelle in eine andere Welt träumen. In seinen Gedanken stürmte er über Schlachtfelder, schwang Schwerter, warf Lanzen und besiegte Giganten. Mal war er der biblische David, mal Ivanhoe, mal Wilhelm Tell. Und immer kämpfte er siegreich.

 

„David, bist du noch bei uns?“

Die Stimme seiner Mutter zerschnitt seine Gedanken.

 

Es war der erste Ferientag, und sie würden abgeholt werden – von Davids Vater, im schwarzen VW Käfer, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Das markante geteilte Rückfenster und die orangefarbenen Blinker mochten Charme besitzen, doch für David bedeutete der enge Raum hinter den Rücksitzen vor allem eines: Übelkeit. Besonders, wenn alle rauchten.

 

Damals besass nicht jede Familie ein Auto. Bus und Strassenbahn waren alltäglich. Zu Fuss gehen galt als Tugend – mit Himbeersirup als Belohnung. Und wenn der Vater Durst hatte, musste auch der Käfer plötzlich Benzin, Wasser oder Öl brauchen.

 

Die Fahrt führte über Landstrassen, vorbei am berüchtigten Frauengefängnis und an Denkmälern aus vergangenen Schlachten. Wenn am Horizont das Münster auftauchte, wusste David: bald Kuchen, bald Sirup, bald Ferien.

 

Doch mit jedem Jahr wurde er grösser. Und der Käfer blieb klein.


 

Kapitel 2 – Die Verwandtschaft und das Haus der Geschichten


Die Grossmutter wirkte auf David wie jemand aus einer längst vergangenen Epoche:

weisses Haar im Chignon, weite Röcke, ein Zimmer voller Bücher, Bilder und Geheimnisse. Manchmal sprach sie mit jemandem, den niemand sonst sehen konnte. Der Cousin behauptete, es sei ein Schutzgeist. David glaubte lieber an Spuk.

 

Die Parterrewohnung roch nach Politur, Papier und vergangener Zeit.

Eine Etage höher lebten Tante und Onkel – modern, ordentlich, mit Fernseher und Ölheizung.

 

Ganz oben: der Cousin, stolz auf sein grosses Zimmer und seine Modelleisenbahn, die durch mehrere Räume fuhr. Im Winter allerdings herrschte dort arktische Kälte, und das WC im Dachgeschoss war ein verbotener Ort.

 

Über allem lag der Estrich, mit Blick über die Stadt bis zum Bundeshaus. Ein Reich der Geheimnisse – streng verboten.


 

Kapitel 3 – Die Grossmutter und das Land der Sagen


Abends sassen David und der Cousin bei der Grossmutter. Während im Stockwerk darunter der Fernseher lief, entführte sie die Jungen in Welten voller Helden und Götter. Ihre Sagenbücher, reich illustriert im Jugendstil, waren Fenster zu alten Zeiten.

 

An diesem Abend las sie aus dem Alten Testament:

König Saul, der Tyrann.

David, der ihn zweimal verschonte.

Und der Kampf gegen Goliath, der die Jungen in Atem hielt.

 

Als die Grossmutter geendet hatte, waren die beiden entschlossen:

Sie würden eine Schleuder bauen.

Und Steine finden.

Und vielleicht – ein Abenteuer erleben.

 

Mit diesem Gedanken schlief David ein.


 

Kapitel 4 – Der Weg zur Schleuder


Am nächsten Morgen durchstöberten sie Keller, Werkstatt und jeden Winkel des Hauses. Leder fehlte. Also machten sie sich auf den Weg zum Sattler Hungerbühler.

Der Mann schnitt ihnen freundliche Lederreste zurecht, lächelte in seinen Bart und nahm nur fünfzig Rappen.

 

„Eine Schleuder, hm?“, fragte er wissend.

„Für den Religionsunterricht“, sagte David stolz.

Und das war nicht einmal gelogen.

Am Fluss fanden sie perfekte Kieselsteine – glatt, rund, schwer genug für ernsthafte Würfe. Die Hosentaschen füllten sich rasch.

 

Mit frisch gebastelter Schleuder und voller Heldenmut zogen sie hinauf in die Stadt. Der Cousin dozierte über die Grösse und Wichtigkeit seiner Stadt, über Denkmäler, Bundeshaus und Ritter Adrian. David hielt dagegen: Zürich, Nationalbank, Rangordnung der Wappen.

 

Zum ersten Mal im Leben gewann er eine politische Diskussion.


 

Kapitel 5 – Goliath vor dem Warenhaus


Der Bahnhofplatz lebte. Frauen strömten ins Warenhaus Boel, Busse fuhren an, die Sonne glitzerte auf der Barockkirche. In Davids Augen aber verschwammen die Menschen, änderten Form … wurden zu Kriegern.

 

„Stell dir vor, dort drüben stünde Goliath“, sagte David.

 

Der Cousin schluckte.

„Hätte ich Angst?“, fragte David laut. „Niemals!“

 

Die Hitze flirrte. Die Säule vor dem Warenhaus wuchs, wurde zu einem Helden der Philister.

Davids Herz pochte. Endlich ein echter Kampf.

 

Er legte einen Stein in die Schleuder. Der Cousin flehte ihn an, es zu lassen.

Zu spät.

 

„Goliath! Ich bin David aus Zürich!“

 

Ein Windstoss. Scharfes Pfeifen und ein Stein, der wie eine kleine Kanonenkugel durch die Luft schoss.

 

Dann ein Knall. Ein Splittern.

 

Und plötzlich war die Welt wieder normal.

 

Die Säule stand da. Goliath war weg.

 

Doch das Schaufenster dahinter lag in tausend Stücken.

Passanten schimpften, riefen nach Ordnung, nach Erziehung.

Der Cousin war längst geflohen.

 

David blieb stehen.


 

Kapitel 6 – Mut nach dem Knall


Mit klopfendem Herzen, aber geradem Rücken, betrat David das Warenhaus. Er stellte sich dem Direktor, der mit strengem Kneifer und schwarzem Telefonhörer wirkte wie eine Figur aus einer anderen Zeit.

 

Er notierte die Ferienadresse und sprach ein paar leise Worte in den Hörer.

 

Dann entliess er David.

 

Die Tante tobte.

Die Grossmutter schwieg vielsagend.

Der Onkel grinste glücklich hinter der Zeitung.

Die Jungen mussten ohne Abendessen ins Bett.

Die Schleuder verschwand – wie von Zauberhand.

 

Und niemand sprach je wieder darüber.


 

Kapitel 7 – Abgang und Nachhall


Die Versicherung bezahlte das zerbrochene Schaufenster, kündigte aber sofort die Police.

Die Erwachsenen waren empört.

Aber die Kinder im Quartier waren begeistert.

 

Denn noch nie hatte einer von ihnen ein so grosses Fenster zerschmettert.

Und schon gar nicht im Zweikampf „wie David gegen Goliath“.

 

Als die Ferien endeten, nahm David die Erinnerung mit.

Nicht an die Standpauke, nicht an die Rechnung, nicht an den Ärger.

 

Sondern an den Moment, in dem er – wenn auch nur in seiner Fantasie – ein Riese gewesen war, der den Mut besass, sich seinem Goliath zu stellen.


 

Epilog – Wer kämpft heute noch gegen Riesen?


Heute braucht es keinen Goliath mehr.

 

Ein TikTok-Video reicht oft, um Eindruck zu machen.

Und kein Fenster muss dabei zerbrechen.

 

Doch vielleicht, ganz vielleicht, steckt in jedem Kind, das sich traut, über sich hinauszuwachsen, ein Funke jenes uralten David-Muts. Ein Steinwurf in die richtige Richtung genügt.

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