Das Knabenkraut im Riet
- thomasvonriedt
- 25. Nov.
- 7 Min. Lesezeit

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1. Damals am Fischbach
Vor sehr langer Zeit, als es hier noch keine Strassen gab und die Menschen in kleinen Holzhäusern mit Strohdächern lebten, wohnten am Rand des Neeracher Rieds die Alemannen.
Sie waren fleissige Leute, aber das Leben war hart. Im Sommer arbeiteten sie auf den Feldern, im Winter hockten sie am Feuer. Und weil in der Natur so vieles unheimlich klang und geheimnisvoll aussah, glaubten sie an alte Geister – und auch schon an den neuen Gott der Mönche.
Am Fischbach, dort, wo der kleine Bach ins Ried floss, lebte die Familie von Gero.
Zu ihr gehörten:
· Gunda, die Grossmutter,
· Sigrun, Geros Frau,
· das Baby Uta,
· die Zwillinge Wieland und Walther,
· und die grosse Schwester Hedwig.
Ihr Haus war einfach, aber warm. Kühe muhten im Stall, Hühner scharrten im Hof, und der Fischbach plätscherte hinter dem Garten vorbei.
Der Bach war eine Grenze.
„Bis hierhin dürft ihr spielen“, sagte Gero oft.
„Und keinen Schritt weiter ins Ried.“
Denn das Ried war gefährlich. Es war nass, sumpfig und voller Nebel. Und es gab eine Geschichte, die alle Kinder kannten – vor allem wegen Grossmutter Gunda.
2. Grossmutters Geschichte vom Nöck
Abends, wenn das Feuer knisterte, setzte sich Gunda mit den Kindern auf die Bank. Dann sagte sie:
„Hört aufmerksam zu, ihr Lieben. Im Ried wohnt der Nöck.“
Die Kinder rückten näher.
„Er ist ein Wasserkönig. Alt wie das Ried selbst. Er sieht aus wie ein Mann aus Wasser und Schilf. Seine Haut ist grünlich, und seine Haare bewegen sich wie Wasserpflanzen. Wenn er auftaucht, werden die Teiche plötzlich still. Und wer ihm zu nahe kommt … den zieht er in sein Reich.“
„Zieht er auch Erwachsene?“, fragte Hedwig leise.
Gunda nickte traurig.
„Ja. Vor vielen Jahren hat er auch meinen Mann Ulf mitgenommen. Eines Tages ging er zum Teich, um die Fischreusen zu leeren – und kam nie zurück.“
Die Kinder schwiegen. Sogar die Zwillinge, die sonst immer flüsterten, waren still.
„Darum“, sagte Gunda eindringlich, „bleibt fern vom Fischbach und erst recht vom Mühlteich. Versprochen?“
„Versprochen“, murmelten alle.
Nur die Zwillinge sahen sich kurz an.
So ein Teich war an heissen Tagen eben sehr verlockend.
3. Der Mühlteich und der Müller
Nicht weit von der Familie stand eine Mühle. Das grosse Rad klapperte Tag und Nacht, und der Mühlteich daneben lag dunkel und tief zwischen Schilf und Weiden.
Der Müller wusste von der alten Gefahr. Sein Vater hatte es ihm erzählt, und dessen Vater hatte es auch schon gewusst. Früher gaben die Müller dem Nöck kleine Gaben – ein Stück Brot, einen Krug Milch –, damit er das Mühlrad in Ruhe liess.
Aber die Zeiten hatten sich geändert.
Viele Leute glaubten nicht mehr an Wassergeister.
Und auch der Nöck war seit Langem nicht mehr gesehen worden.
„Vielleicht gibt es ihn gar nicht“, sagten die Jungen im Dorf manchmal grossspurig.
„Wenn er kommt, jagen wir ihn mit Steinen fort!“
Doch wenn im Teich eine grosse Blase aufstieg und mit einem Plopp zerplatzte, rannten sie trotzdem kreischend davon.
Tief unten im dunklen Wasser hörte der Nöck alles.
Und er wurde ärgerlich.
„So, so“, murmelte er. „Mich gibt es also nicht? Dann werde ich ihnen zeigen, dass das Ried mein Reich ist.“
4. Am Teich
Eines Morgens war es warm wie im Hochsommer.
Hedwig wollte Blumen für einen Kranz pflücken.
Wieland und Walther wollten angeln.
„Wir passen auf“, riefen die Zwillinge ihrer Mutter zu.
„Ganz fest!“
Sigrun sah ihnen nach. Sie wollte etwas sagen … aber die Kinder waren schon unterwegs.
Am Mühlteich war viel los. Das Rad klapperte, der Müller arbeitete mit seinen Gesellen, Mehl staubte aus den Ritzen. Die Kinder setzten sich etwas abseits ins Gras.
Hedwig pflückte Blumen.
Die Zwillinge warfen ihre Angeln aus.
„Nicht zu nah ans Wasser!“, mahnte Hedwig.
„Ihr wisst warum.“
„Ja, ja“, brummte Walther.
„Wir sind doch keine Babys.“
Der Teich lag ruhig da. Sehr ruhig.
Fast zu ruhig.
Unter Wasser aber wurde es lebendig.
Ein grosser Katzenwels glitt vorbei, erschrocken über die Haken.
Ein Hecht, der gerne tratschte, schwamm tiefer – direkt zu seinem Herrn.
„Nöck“, flüsterte er, „da oben sind Menschenkinder. Zwei Jungen. Sie angeln in deinem Teich.“
Die roten Augen des Nöck leuchteten.
„Menschenkinder?“
Er streckte sich, als wäre er gerade aus dem Schlaf gerissen worden.
„Dann ist heute ein guter Tag.“
Und lautlos schwamm er zum Ufer.
5. Fischers Glück … und Gefahr
Plötzlich zuckte Walthers Schwimmer.
„Ein Biss!“ rief er.
Wielands Schnur spannte sich auch.
„Ich habe auch einen!“
Sie zogen – und zogen – und tatsächlich: Zwei grosse Karpfen platschten ans Ufer.
Die Jungen jubelten.
„Hedwig! Schau, was für Prachtexemplare!“
„Noch zwei, dann gibt’s ein Festmahl!“
Hedwig aber wurde bleich.
„Brüder, bitte. Das reicht. Denkt an den Nöck.“
„Ach was“, lachte Walther. „Wir fangen nur noch schnell zwei.“
Die Angeln flogen wieder ins Wasser.
Diesmal stiegen viele Blasen auf.
Sehr viele.
„Siehst du das?“, rief Wieland begeistert. „Das sind Riesenfische!“
Hedwig spürte ein Ziehen im Bauch.
Ein schlechtes Gefühl.
Genau in diesem Moment packte der Nöck die Leinen.
Er zog einmal kräftig.
Die Jungen rutschten aus.
„Hedwig!“, schrien sie.
Doch es war zu spät.
Mit einem lauten Platsch stürzten Wieland und Walther ins Wasser.
Grüne Hände umfassten sie – nicht hart, aber unerbittlich – und zogen sie nach unten.
Hedwig schrie um Hilfe.
Doch der Teich war wieder glatt – als wäre nichts geschehen.
Nur wenige Blasen stiegen noch auf.
Dann war es still.
6. Im Unterwasserpalast
Wieland und Walther hatten fürchterliche Angst.
Aber sie merkten bald: Unter Wasser konnten sie atmen.
Als wären sie plötzlich Wasserkinder geworden.
Tief unten glimmte ein grünliches Licht.
Dort stand ein Palast aus Stein und Muscheln.
Der Nöck liess die Jungen am Eingang los und knurrte:
„Ab heute arbeitet ihr im Palast. Keine Fluchtversuche!“
Dann schwamm er davon.
Die Zwillinge zitterten.
Sie fanden eine Küche, die glitschig und dunkel war. Dort stand ein alter Wasserschrat mit einem Gesicht wie ein Karpfen. Er schälte Garnelen.
Wieland sagte mutig:
„Hallo. Ich heisse Wieland. Das ist Walther. Wir wollen nach Hause.“
Der Wasserschrat sah sie lange an.
Dann murmelte er langsam:
„Wieland … Walther …“
Walther pfiff aus Nervosität eine kleine Melodie.
Nur so, leise vor sich hin.
Ein Lied, das er von zu Hause kannte.
Da zuckte der Wasserschrat zusammen.
„Dieses Lied …“, flüsterte er. „Das kenne ich.“
Er legte das Messer weg, starrte sie an – und plötzlich glänzten seine Augen feucht.
„Kinder … ich … ich bin Ulf. Euer Grossvater.“
Die Zwillinge trauten ihren Ohren kaum.
„Grossvater?“ hauchte Wieland.
„Der Nöck hat mich vor vielen Jahren geholt.“
Ulfs Stimme klang fremd, aber warm.
„Ich habe fast vergessen, wer ich war. Doch euer Lied hat mich geweckt.“
Die Jungen rückten näher.
„Kannst du uns helfen?“, flüsterte Walther.
Ulf nickte.
„Ja. Es gibt einen Weg hinaus. Aber wir müssen leise sein.“
7. Die zwei Schutzäpfel
In der Nacht, als der Nöck und seine Wasserknechte schliefen, schlich Ulf mit den Jungen in den Unterwassergarten. Dort wuchsen seltsame Pflanzen, die im Dunkeln schimmerten.
Ulf zeigte auf einen Baum mit braunen Früchten.
„Das sind Schutzäpfel. Zwei Stück müsst ihr holen. Wenn ihr oben an Land seid, steckt sie in frische Erde. Dann wächst daraus eine Pflanze, die der Nöck nicht übertreten kann.“
„Und du?“, fragte Wieland.
Ulf lächelte traurig.
„Ich komme nach. Aber ihr müsst zuerst fliehen.“
Die Jungen umarmten ihn fest.
Dann kletterten sie über eine Algenmauer, pflückten je einen Schutzapfel und rannten zur Wurzel einer rot-weissen Riedrose.
Dort ging es nach oben.
Sie kletterten, Trieb um Trieb, höher und höher.
Endlich blitzte Licht.
Mit einem Schluck!Tauchten sie auf – mitten im Ried, auf einem grossen Blatt wie auf einer kleinen Insel.
„Wir schaffen das!“, keuchte Walther.
Von Blatt zu Blatt sprangen sie Richtung Ufer.
Doch dann … bimmelte etwas.
Eine kleine blaue Schelle.
Der Nöck hatte sie überall aufgehängt.
8. Der Nöck kommt!
Unten im Palast riss der Nöck die Augen auf.
„Flucht!“, zischte er.
Wie ein dunkler Schatten schoss er nach oben.
Seine roten Augen suchten die Oberfläche ab.
Da sah er die Jungen.
Er brüllte, dass der Teich bebte.
Am Ufer hörten es die Leute.
Der Müller liess alles stehen.
Bauern rannten herbei. Auch Gero und Sigrun kamen, bleich vor Angst.
Die Zwillinge erstarrten.
Das Ungeheuer kam näher und näher.
„Los!“, rief Wieland. „Zum Ufer!“
Sie sprangen ins flache Wasser, wateten, stolperten, rutschten – aber sie erreichten das Land.
Keuchend knieten sie im Gras und drückten die beiden braunen Äpfel in die Erde.
9. Das Knabenkraut wächst
aum steckten die Früchte im Boden, passierte etwas Wunderbares.
Die Erde vibrierte ein wenig, als hätte sie Herzklopfen.
Dann sprangen grüne Stängel hervor.
Blätter entfalteten sich.
Und innerhalb weniger Augenblicke blühten violettfarbene Blumen auf – hoch, stark und wunderschön.
Der Nöck wollte hinterher.
Er rannte ans Ufer – und prallte gegen eine unsichtbare Wand.
„Neeeein!“, heulte er wütend.
Er fauchte, spritzte Wasser, schlug Wellen – doch die Wand hielt.
Die violettfarbigen Blüten dufteten warm und kräftig.
Sie schützten alles Gute.
Der Nöck merkte: Heute hatte er verloren.
Schäumend drehte er um und verschwand in der Tiefe.
Und tief unten, im Palast, stellte sich Grossvater Ulf dem Nöck entgegen – nicht mit Kampf, sondern mit Mut.
Mit einem gesegneten Kreuz in der Hand zwang er ihn, zurück in sein Reich zu schwimmen und die Jungen in Frieden zu lassen.
Danach sank Ulf erschöpft auf einen Stein.
Doch er lächelte.
„Jetzt“, flüsterte er, „habt ihr eine Chance auf Freiheit.“
Wie er es geschafft hat, wieder an Land zu kommen, erzählten später viele unterschiedlich.
Manche sagen, die Riedrose habe ihn getragen.
Andere sagen, ein Schwarm Fische habe ihn bis zum Bach geführt.
Sicher ist nur:
Ein paar Tage später fand man ihn am Fischbach, müde, aber lebendig.
Gunda weinte vor Freude.
10. Heimkehr
Die Dörfler brachten die Zwillinge nach Hause.
Gero drückte sie an sich, als wollte er sie nie mehr loslassen.
Sigrun schluchzte nur: „Meine Kinder … meine Kinder …“
Hedwig stand neben ihnen, zitternd vor Erleichterung.
Und Grossmutter Gunda hielt Ulfs Hand und sagte leise:
„Endlich bist du wieder da.“
In dieser Nacht brannte bei der Familie ein grosses Feuer.
Sie dankten Gott – und auch dem Ried, das seine Kinder zurückgegeben hatte.
11. Warum das Knabenkraut blüht
Seit jenem Tag wächst jedes Jahr im Neeracher Ried eine besondere Blume:
das Purpurknabenkraut.
Es blüht von Mai bis Ende Juni.
Und jede kleine Blüte erinnert daran, dass Mut stärker sein kann als Angst.
Und dass man die Natur achten soll – denn sie ist schön, aber manchmal auch gefährlich.
Die genauen Plätze, an denen das Knabenkraut wächst, kennen nur wenige.
Man muss leise gehen, gut schauen – und die Blumen in Ruhe lassen.
Denn sie stehen im Ried wie kleine violettfarbige Lichter.
Als Zeichen dafür, dass das Leben siegt.
Und dass man manchmal nur zusammen nach Hause findet.
Wie die grosse Schwester Hedwig zur Riedhüterin wurde, erfährst du im nächsten Buch.










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