Das Geheimnis des Ven House von Milborne Port
- thomasvonriedt
- 26. Nov.
- 31 Min. Lesezeit

oder das Glück des Schweizers Kurt Wagner
Die Protagonisten
Kurt Wagner, Deutschlehrer aus der Schweiz
Kim Ashley, Bibliothekar
Joanna Hutchinson, Landlady
Tyron Marmaduke Grimsworth, Versicherungsdetektiv
Margaret Boland, Medium
Simon Flowerdew Eliot, Rektor
Miss Barnsby, Sekretärin
Sir William und Lady Elizabeth of Carent
Die Region des Geschehens
Milborne Port, östlich von Sherborne, Somerset, UK
Reise nach Sherborne, Dorset
Wer in Richtung Sherborne fährt, wird von der A30 durch das reizvolle Gebiet des Blackmore Vale geführt. Mitunter befindet man sich im Norden von Dorset, dann wieder im Süden von Somerset. Die Grenze verläuft nicht gerade, und die A30, die in London noch eine Autobahn ist, wird hier zu einer zweispurigen Landstraße. Überall säumen Hecken den Weg; vereinzelt grasen Herden schwarz-weisser Kühe, und unzählige Schafe bevölkern die Weiden. Die Häuser scheinen seit Urzeiten zu stehen, wahrscheinlich auf den Fundamenten römischer Villen erbaut. Hier herrscht Frieden zwischen Menschen und Tieren, und Natur wie Wetter schaffen einzigartige Stimmungen.
Ich war unterwegs nach Sherborne, einer Kleinstadt in der Grafschaft Dorset im Südwesten Englands, am Fluss Yeo, etwa sechs Kilometer von Yeovil entfernt. Mit weniger als 10 000 Einwohnern zeichnet sich Sherborne, das im Distrikt West Dorset liegt, durch seine ereignisreiche Geschichte, zahlreiche historische Gebäude und sein reichhaltiges Angebot an erstklassigen Schulen aus. Die bekannteste ist die Sherborne School. Der Name der Stadt leitet sich von „scir burne“ ab, was „klarer Quellfluss“ bedeutet. Ihre Ursprünge reichen bis ins 7. Jahrhundert zurück. Einst war sie eine bedeutende Stadt und das religiöse Zentrum von Wessex, einem der sieben Königreiche im alten Britannien. König Alfreds ältere Brüder Æthelbald und Æthelberht sind in der Abtei begraben. 1075 wurden die Kirchengebäude in eine Benediktinerabtei umgewandelt. Während zahlreicher lokaler Konflikte wurde die Stadt mehrfach teilweise zerstört und immer wieder aufgebaut. Im 12. Jahrhundert ließ Roger von Caen, Kanzler von England und Bischof von Salisbury, einen befestigten Palast errichten, der 1645 zerstört wurde. 1594 baute Sir Walter Raleigh in der Nähe ein Herrenhaus, das heute als Sherborne Castle bekannt ist. Obwohl er ein Held des Landes war, wurde er 1618 hingerichtet. Bereits zu König Alfreds Zeiten gab es eine Schule, an der er selbst ausgebildet wurde; 1550 wurde die heutige Sherborne School in den Gebäuden der Abtei wiedergegründet.
Ich war auf dem Weg nach Sherborne, um dort meine Stelle als Deutschlehrer anzutreten. Von Henstridge bis Sherborne sind es nur wenige Kilometer; auf dem Weg passiert man den kleinen Ort Milborne Port. Zu Zeiten der Sachsen als Münzprägestätte bekannt, führt er seither ein eher unbeachtetes Dasein als kleiner Marktort mit etwa 2000–3000 Einwohnern. Drei Pubs laden zum Biertrinken ein: The Kings Arms, The Chetnole Inn und – unübersehbar an der Hauptstraße – The Tippling Philosopher (ursprünglich „The Tippler“). Ein „Tippler“ ist im Deutschen ein Brauer. Als Germanist und Bierfreund konnte ich mir einen Besuch dort nicht entgehen lassen.
Als ich die letzte Kurve nach Milborne Port nahm, fiel mir sofort das riesige Herrenhaus auf der linken Straßenseite auf: mächtig, mehrstöckig und aus dunklem Ziegelstein im Stil von William und Mary (spätes 17. Jahrhundert). Meine Neugier war zu groß, um einfach vorbeizufahren. Mit einem kleinen Abstecher nach links stand mein Mietwagen bald vor dem großen schmiedeeisernen Tor. Dieses hätte wohl für die Einfahrten mehrerer typischer Einfamilienhäuser gereicht – tatsächlich führte es jedoch zur Auffahrt eines Herrenhauses einer wohlhabenden Familie. Natürlich war es verschlossen und deutlich mit „Betreten verboten“ beschildert. Als wohlerzogener Schweizer hielt ich mich an die Vorschriften und zückte nur mein Handy für ein Erinnerungsfoto. Seltsam: Während ich fokussierte, verspürte ich ein Kribbeln und Gänsehaut. Untrügliche Zeichen dafür, dass hier etwas nicht der Norm entsprach. Doch was? Das Haus wirkte unbewohnt; auf dem Dach wehte keine Flagge. Rundum zeugten die Spuren fleißiger Gärtnerhände von Pflege.
Es war bereits 18 Uhr und begann zu dämmern. Ich musste mich beeilen, wenn ich rechtzeitig im Eastbury Inn in Sherborne einchecken wollte. Der nächste Tag würde anstrengend werden: Treffen mit dem Schulleiter, Führung durch die Schule und Übernahme der Verantwortung für den Deutschunterricht. Außerdem musste ich noch eine Unterkunft finden. Mein Geldbeutel würde einen längeren Aufenthalt im komfortablen Eastbury kaum erlauben.
So fuhr ich weiter. Im Rückspiegel sah ich noch einmal die Silhouette des Herrenhauses – und es fühlte sich an, als würde ich beobachtet.
Zimmersuche
Das Abendessen war köstlich, und besonders genoss ich das Dorset Knob, ein herrliches Amber Ale, leicht malzig mit fruchtigem Hopfenabgang, das wunderbar zum Steak & Kidney Pie passte. Erschöpft von einem langen Tag sank ich ins Bett. Das Letzte, was ich sah, war der Mond, der durch das Fenster blickte – als wünschte er mir gute Nacht.
Rektor Simon Flowerdew Eliot empfing mich gegen 9:15 Uhr. Seine Vorzimmerdame ließ mich zunächst warten und auf dem Trockenen sitzen. Ihre steife Begrüßung – „Was will denn der Fremde hier?“ – überging sie elegant, besonders als sie auf Wunsch des Rektors Tee und Kekse servieren musste. Ich merkte mir, dass ich meine Charmeoffensive beim nächsten Mal mit einer Tafel Schweizer Schokolade unterstützen sollte. Simon Flowerdew Eliot sprach über die Geschichte der Schule, gegründet von St. Aldhelm (639–709), einem Mitglied der Wessex-Königsfamilie wie Alfred, der hier ausgebildet wurde.
Tradition wird hier hochgehalten, heute gibt es sogar Filialen in Katar. Sherborne ist ein typisches „Boys-only“-Internat mit acht Häusern zu je etwa 70 Jungen unterschiedlichen Alters. Die Häuser erkennt man am Farbcode der Uniform; Grün und Schwarz stehen etwa für das Digby Manor. Typisch für eine englische Eliteschule sind Sportarten wie Cricket und Rugby; die musischen Fächer werden ebenfalls besonders gefördert. Insgesamt zählt die Sherborne School zu den führenden Internaten Großbritanniens. „Wir wollen, dass unsere Jungen zu Männern heranwachsen, mit ausgeprägter Identität, die selbstständig denken und lernen; Männer von Integrität, engagiert für Führung und Service“, erklärte mir Mr. Eliot überzeugend.
Ich nickte zustimmend – was hätte ich, aus der Zürcher Volksschule, später dem Gymnasium und schließlich einem erfolgreich abgeschlossenen Germanistikstudium an der Universität Zürich, dazu sagen sollen? In Zürich gab es weniger Tradition, dafür waren wir politisch fortschrittlich und hielten Schülerschaft und Stadtpolizei auf Trab.
Während des Rundgangs durch die ehrwürdigen Gebäude grüßten mich zahlreiche Schüler, alle ordentlich in Uniform – vermutlich, weil der Rektor dabei war. Dann zeigte mir Mr. Eliot meinen zukünftigen Arbeitsplatz. Das Klassenzimmer war schlicht; Holzpaneele zeugten von Alter, an der Wand eine unvermeidliche Schiefertafel – aber auch modernste Kommunikations- und Präsentationsmittel. Ich würde hier stationär arbeiten, die Schüler rotierten. Zehn Jahrgänge aus acht Häusern sollte ich betreuen: von den Jüngsten (Klasse 1, etwa sieben Jahre alt) bis zu den 18- bis 20-Jährigen, kurz vor dem Abschluss. Anschließend besuchten wir Mensa, Sportplätze und Musikräume. Als Anlaufstelle empfahl mir Simon Flowerdew Eliot seine Assistentin, die zurückhaltende Miss Barnsby. Damit war ich für den ersten Tag entlassen; offizieller Schulbeginn: der kommende Montag. Zeit genug, eine Bleibe zu finden und das Klassenzimmer nach meinen Vorstellungen einzurichten.
Harling & Taylor, eine Wohnungsvermittlung im Stadtzentrum, empfahl mir einige Mietobjekte; ich machte mich auf den Weg. Als verwöhnter Schweizer hatte ich Ansprüche, die oft nicht mit den Standards englischer Wohnungen übereinstimmten – insbesondere in Bezug auf Sanitär oder Heizung. Fast hätte ich aufgegeben. Eine der letzten Adressen war eine entzückende 2-Zimmer-Wohnung im Haus von Mrs. Joanna Hutchinson in der London Road: freundlich, sonnig, mit Garten für erholsame Stunden nach der Arbeit; Mrs. Hutchinson wirkte gebildet. Ihr Mann war Lehrer an der örtlichen Mädchenschule gewesen und viel zu früh verstorben. Wir wurden uns schnell einig: £ 385 pro Monat – äußerst günstig. Den Weg zur Schule konnte ich sogar zu Fuß bewältigen. „Nennen Sie mich Joanna“, sagte sie. „Gerne – ich bin Kurt“, erwiderte ich. „Sie können schon morgen einziehen, wenn Sie möchten.“ Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, verabschiedete mich höflich und kehrte ins Eastbury Inn zurück.
Tyron M. Grimsworth (T.M.G.)
Der nächste Morgen brachte typisches Dorset-Wetter: Aus heiterem Himmel Regen, zehn Minuten später wieder Sonne. Die ständige Brise von der Küste sorgt für schnelle Wetterwechsel. Die Engländer sind daran gewöhnt: entweder mit Regenschirm oder regenfester Jacke – die Hartgesottenen ertragen den Regen stoisch. Der kluge Ausländer lernt schnell – und beginnt beim English Breakfast: Baked Beans, Schinken, Speck, Eier und mehr. Ein kräftiges Frühstück macht kälte- und wetterfest und erspart nebenbei einen teuren Mittagssnack.
Ich saß im Speisesaal und trank gewöhnungsbedürftigen englischen Kaffee – Tee wäre wohl besser gewesen – dazu Frühstückswürstchen. Währenddessen las ich E-Mails auf dem Handy. Mein Freund Roger aus Kloten schickte mir die neuesten Ergebnisse der Schweizer Fußball- und Eishockey-Meisterschaften; auf WhatsApp meldete sich eine alte Freundin mit Urlaubsbildern von Kollegen auf Ibiza. Ich überlegte, meiner Familie einige Bilder zu schicken und suchte nach geeigneten Motiven. Beim Scrollen fand ich das Foto vom Herrenhaus in Milborne Port, dass ich tags zuvor aufgenommen hatte. Seltsamerweise überkam mich erneut Kribbeln und Gänsehaut, als laufe mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ich betrachtete das Bild genauer und meinte, einen Lichtschein in einem der Zimmer zu erkennen. Unmöglich – am Tor hatte ich definitiv kein Licht gesehen. Wahrscheinlich eine Spiegelung. Ich schüttelte den Kopf.
Da bemerkte ich, schräg gegenüber, einen anderen Gast: vielleicht ein Geschäftsreisender, konservativ gekleidet, gut in Harris Tweed, Anfang fünfzig. Ich stellte mir vor, er führe einen grünen Land Rover und verkaufe landwirtschaftliche Maschinen an Bauern.
„Looks like bad news, Sir“, sprach er mich an. „For a moment, your face turned rather pale.“
„Tatsächlich habe ich einen Moment gefroren“, antwortete ich.
Und Sie sind neu in der Gegend, richtig?“
Ja. Ich bin gestern Abend angekommen und trete am Montag meine neue Stelle an der Internatsschule als Deutschlehrer an. Mein Name ist Kurt Wagner, aus Bülach in der Schweiz.“
„Tyron M. Grimsworth, Geisteswissenschaftler – das M. steht für Marmaduke, meinem seligen Großvater zu verdanken. Wir stammen aus Yorkshire“, stellte er sich vor. „Ich verbringe einige Tage in Sherborne, um im Auftrag eine seltsame Geschichte zu untersuchen.“
Ich erzählte von meinem Glück mit der Lehrerstelle und der bereits gefundenen Unterkunft.
„Und warum sind Sie plötzlich so blass geworden?“, fragte er beharrlich und sah mich scharf durch runde Brillengläser an.
„Ehrlich gesagt: keine Erklärung. Dasselbe passierte gestern, als ich vor dem Herrenhaus in Milborne Port anhielt und ein Foto machte. Vor ein paar Minuten sah ich das Bild erneut – ich wollte es an Freunde senden.“
„Sie sprechen wohl vom Ven House“, bemerkte Grimsworth bedeutungsvoll. „Zeigen Sie mir das Bild. Ja, das ist es. Erstaunlich. Ein Fremder kommt her und spürt, dass hier etwas nicht stimmt.“
„Mr. Grimsworth, erstens war ich noch nie hier, zweitens sagt mir der Name Ven House nichts, drittens glaube ich nicht an verrückte Geschichten. Ihre Landsleute sind fantasievoll, wenn es um Paranormales geht – das wird gern touristisch vermarktet. Jede Ortschaft hat ihre Ghost Tour“, scherzte ich.
„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt – Shakespeare“, konterte Grimsworth. „Hätte ich gerade mehr Zeit, würde ich weiter plaudern. Aber um 10 Uhr habe ich einen Termin mit dem Archivar der Abtei. Vielleicht heute Abend ein wärmendes Glas schottischen Whiskys? Ich kann Ihnen einiges erzählen.“ Er stand auf und verabschiedete sich.
Ich dachte noch einige Minuten nach und entschied mich dann für einen Besuch in der örtlichen Bibliothek, um mehr über das Manor zu erfahren.
Kim Ashley
„Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“, hauchte die äußerst attraktive Bibliothekarin der Public Library. Sie strich sich eine rote Haarsträhne zurück und schien sich zu freuen, einen gutaussehenden Besucher beraten zu dürfen. Endlich einmal eine ausgesprochen hübsche Bibliothekarin, dachte ich; meist sind sie so trocken wie alte Bücher.
Ich strahlte sie wohl an und erwiderte: „Mrs. – oder ist es Ms. Ashley? Ich suche Informationen zum Ven House.“
„Sie können mich gern Kim nennen“, entgegnete sie und ließ die Frage nach ihrem Familienstand offen. „Ja, wir haben eine Menge. Interessieren Sie sich mehr für Architektur oder Geschichte des Anwesens?“
Eigentlich für alles über die Besitzer seit dem Bau, einschließlich Zeitungsberichten“, antwortete ich. „Ich bin Kurt, aus der Schweiz.“
„Es gibt einige Gerüchte über das Haus, die nie nachgewiesen wurden. Vor ein paar Tagen fragte mich auch jemand – ein Engländer, der Forschungen betreibt.“
„Sie meinen wohl Mr. Grimsworth.“
Ja, genau. Er suchte nach einem Vorfall aus dem 19. Jahrhundert.“
Kim verschwand zwischen den Regalen; man hörte sie suchen, bis sie mit alten Folianten zurückkehrte. „Hier sind Zeitungsausschnitte aus dem Sherborne Herald. Damit haben Sie ein paar Tage zu lesen. Wenn ich helfen kann – mein Dienst endet um 16 Uhr; ich kenne mich gut mit der Geschichte der Region aus.“
„Grossartig“ sagte ich. „Vielleicht treffen wir uns im Oliver’s auf einen Tee und plaudern weiter.“ Ihre braunroten Haare und Sommersprossen hatten es mir angetan.
Mit den Unterlagen kehrte ich ins Hotel zurück und begann zu lesen. Das Haus war ursprünglich von der Familie Carent erbaut worden und später in den Besitz der Medlycotts übergegangen, die es in mehreren Phasen erweiterten. In den 1950er-Jahren verkaufte der letzte Medlycott das Anwesen an einen nicht genannten Investor. Einst dominierte ein prächtiger Garten das Areal; durch neue Straßen und die Entwässerung einiger Felder ging ein Teil verloren. Neben der beeindruckenden Architektur zeichnete sich das Haus durch eine großzügige Orangerie aus. Das Anwesen ist von einer fast vier Meter hohen Ziegelmauer umgeben.
Der Name des Hauses geht vermutlich auf einen Weiler zurück, der im 13. Jahrhundert existierte. Laut Überlieferung starb Sir William Carent aus Gram, nachdem seine Frau plötzlich an einer schrecklichen Krankheit verstarb. Er hatte Warnungen der Bevölkerung ignoriert und möglicherweise am falschen Ort gebaut. Seitdem wollen Vorbeireisende immer wieder die Silhouette einer dunkel gekleideten Frau gesehen haben. Die Behörden fanden nie Bestätigendes. Im späten 19. Jahrhundert berichtete der Esquirer, die Medlycott-Familie sei über Jahrhunderte mehrfach von Tragödien betroffen gewesen, deren Opfer stets weibliche Familienmitglieder waren. Der letzte Vorfall wurde 1947 gemeldet – erneut eine dunkle Silhouette an einem Fenster. Bald darauf verkaufte der letzte Medlycott Haus und Land und zog nach London. Über die neuen Besitzer ist nichts bekannt; es soll ein Investor aus Australien sein.
Seltsam, dachte ich: Was ist das für eine schreckliche Krankheit, die nur weibliche Mitglieder betrifft? Wahrscheinlich übertriebene Dorfgeschichten – oder Neid. Ich würde Kim fragen; sie war hier geboren und musste die Schauergeschichten kennen. Sollte ich ihr von der optischen Täuschung, dem Schatten am Fenster, erzählen? Eigentlich Unsinn. Es gibt Wichtigeres, worüber man mit einer charmanten Bibliothekarin spricht, oder?
Wie verabredet erschien sie pünktlich, brachte weitere Dokumente und meinte: „Die können Sie mir morgen zurückbringen.“
«Wunderbar» dachte ich. Sie meinte es ernst und wollte mich wiedersehen. Ich war fasziniert: dreiteiliger marineblauer Anzug, weiße Bluse, dezenter Schmuck, Halskette mit Ringanhänger, ein Brillant im Ohrläppchen, halbhohe Pumps – und diese Beine. Dranbleiben, Kurt. Sie ist genau dein Typ.
Kim erzählte, sie sei hier geboren, aber früh mit ihrer Mutter nach Bath gezogen. Es gebe ein Geheimnis, das ihre Mutter Beth nie enthüllen wollte; all die Jahre seien sie von einem unbekannten Gönner unterstützt worden. Als die Mutter starb, hinterließ sie ihr nur einen Goldring mit der Gravur „Pro Deo et Patria WCV“. Kim habe nie herausfinden können, wer „WCV“ war – vermutlich ihr Vater; die Mutter habe eisern geschwiegen.
Ich hätte ihr stundenlang zuhören können – ich liebte ihre Stimme und den sanften Blick. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag. Wieder überkam mich ein seltsames Kribbeln – diesmal anderer Art – und es fiel mir schwer, einzuschlafen.
Erkundungstour
Ich traf Tyron Marmaduke Grimsworth am Morgen zum Frühstück. Er war in bester Laune, strahlte und begrüßte mich fröhlich: „Good morning, old chap, how are you today?“ Ebenso gut gelaunt erzählte ich von meinen gestrigen Erfolgen: Unterkunft gefunden, eine attraktive Frau kennengelernt und einiges über das Ven House erfahren.
„Wie ich feststellen konnte, waren Sie in der öffentlichen Bibliothek“, stichelte Grimsworth. „Sie sind wohl dem außerordentlichen Charme von Lovely Kim verfallen. Rothaarige Frauen üben seit jeher besonderem Reiz aus. Aber zur Sache: Was haben Sie herausgefunden?“
Ich berichtete ausführlich. Auffällig: überall die Rede von einer „schrecklichen Krankheit“, die nirgends näher beschrieben war.
„Wir sollten die alten Kirchenbücher konsultieren. Milborne Port gehörte damals zur Kirchgemeinde Chorlton Horethorne. Dort beginnen wir!“, meinte Grimsworth bestimmt. Außer der Rückgabe der Bibliotheksunterlagen hatte ich keine Pläne; wir verabredeten uns für 13 Uhr vor der Abbey.
In der Bibliothek empfing mich Kim mit einem breiten Lächeln. Dabei schloss sie fast die Augenlider; zwei neckische Grübchen zeichneten sich ab.
„Kurt, ich habe den Ring mitgebracht. Vielleicht kannst du ihn fotografieren. Da ich hier geboren wurde, hatte meine Mutter offenbar eine Verbindung zu jemandem aus der Region. Vielleicht finden wir gemeinsam heraus, wer das war?“
Es war ein schlichter Ring mit ein paar Halbedelsteinen. Neben dem Credo und den Initialen war ein kleines Wappen eingraviert: ein Schild mit drei Kreisen, darin pfeilförmige Zeichen – Pfeile oder Bäume? Ein schönes, alt wirkendes Stück.
„Vielleicht könnten wir heute Abend mehr Zeit finden?“, fragte Kim und schickte mir drei Luftküsse. „Jetzt muss ich aber arbeiten.“ Kann man dem widerstehen?
„Ich melde mich. Heute bin ich mit T. M. Grimsworth in Chorlton Horethorne; er möchte alte Kirchenbücher durchsehen. Das könnte interessant werden – und ich lerne die Umgebung kennen.“ Mein Herz klopfte, als ich die Bibliothek verließ. Wie soll man alte Kirchenbücher durchsehen, wenn hier ein Traum wartet, erobert zu werden? dachte ich wehmütig.
T. M. G. fuhr tatsächlich einen grünen Land Rover Defender. Mein Handy zeigte 13 Minuten Fahrzeit. Wir fuhren über den Castle Town Way zur B3145, vorbei an Poyntington nach Chorlton Horethorne. Chorltonbedeutet „Bauernsiedlung“, Horethorne „grauer Dornenbusch“. Ursprünge in der Bronzezeit; gesichert ist römische Landwirtschaft. Heute ein malerisches Dorf mit etwa 600 Einwohnern. Im Zentrum dominiert die romanische Kirche auf den Fundamenten eines römisch-britischen Tempels.
Unsere Ergebnisse waren mager und verwiesen uns weiter nach Henstridge. Die Fahrt führte über South Cheriton, dann südlich über Templecombe nach Henstridge. An der Kreuzung zur A30 parkten wir beim Freehouse Virginia Ash. Zeit für ein Pint Badger Best Bitter. Bis zum Gemeindehaus war es nicht weit. Neugierig beobachteten uns Dorfbewohner hinter Gardinen. Wer besucht schon Henstridge zu dieser Zeit, wenn anständige Leute auf den Feldern arbeiten oder zum Einkaufen nach Yeovil fahren?
Grimsworth gelang es, Informationen über ein längst verschwundenes Dorf zu erhalten. Ven Village hatte offenbar bis Mitte des 14. Jahrhunderts existiert. Man nimmt an, dass die Bevölkerung durch die Pestausgelöscht wurde, die 1348 über den Hafen Melcombe Regis nach England gelangte.
„Kannst du dir vorstellen, lieber Kurt, dass damals etwa zwei Millionen Menschen von insgesamt sechs Millionen Einwohnern der britischen Inseln innerhalb von zwei Jahren an der Pest starben? Ganze Landstriche wurden entvölkert, Dörfer aufgegeben, Burgen verfielen“, erklärte T. M. G. „Ven Village muss irgendwo zwischen Henstridge und Milborne Port gelegen haben. Ich wäre nicht überrascht, wenn das Ven House nach dem verschwundenen Dorf benannt wurde. Es ergibt Sinn, dass die Familie Carent das brachliegende Land unter ihre Kontrolle brachte und durch den Hausbau sicherte. Sie besaßen bereits Güter dank ihrer Verbindung zu den Stourtons – etwa Toomer Park, ein Anwesen der Carents. Laut alten Dokumenten wurde der Erbauer vor Warnungen der Dorfbewohner gewarnt: Man solle dort nicht siedeln. Verfluchter, ungesunder Boden; Mauerreste seien zu meiden – Tag und Nacht.“
Die abergläubischen Dorfbewohner hatten Grund zur Sorge: Der Schwarze Tod kehrte wieder, wütete 1665 erneut in London.
Auf dem Rückweg nach Sherborne hielten wir vor dem Tor des Ven House. Wie bei meinem ersten Besuch war es verschlossen. Der Garten makellos gepflegt, doch keine Menschenseele. Das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ nicht nach. „Kurt, Sie sind ein Sensibelchen“, meinte Grimsworth, „aber ich denke, Sie haben recht. Hier liegt eine ungelöste Geschichte.“ Er legte den Rückwärtsgang ein. Mir schien, als brenne wieder Licht im Haus; vielleicht sah ich auch dunkle Umrisse im Fenster. Dann fuhren wir los.
Ven-House-Garten
Am nächsten Morgen war ich ungewöhnlich früh beim Frühstück. Ich hatte unruhig geschlafen; in meinem Kopf wechselten die Bilder zwischen der hübschen Kim und dem zerfressenen Gesicht einer Frau in Schwarz. Wollten beide mir etwas mitteilen? Ich hatte nicht den Eindruck, dass die unbekannte Frau mir schaden wollte – eher suchte sie Hilfe. Der Tee tat gut; Porridge und Toast mit Orangenmarmelade stärkten zusätzlich.
T. M. G. erschien verschlafen und entschuldigte sich.
„Es tut mir leid, Kurt, ich habe kaum geschlafen und meine Notizen durchgearbeitet. Wir sollten dem Haus einen Besuch abstatten und die Umgebung genauer erkunden. Ich bin überzeugt, wir finden Hinweise auf den Feldern und dem Gelände des Ven House. Nehmen wir Gummistiefel – es ist sumpfig. Haben Sie eine Kamera?“ Mein Handy hatte eine gute Kamera und eine GPS-App. „Übrigens: Wir sollten nach einem Wappen Ausschau halten – einem Schild mit drei Kreisen.“
„Woher kennen Sie dieses Wappen?“, fragte Grimsworth perplex. „Das gehört zur Familie Carent. Sie sind mit den Stourtons verwandt. Der Name stammt von Caerwent, vermutlich irischen Ursprungs; sie werden früh auf der Isle of Purbeck erwähnt. Die Carents sind die Erbauer des Ven House!“
„Nun, mir war so, als hätte ich es schon gesehen“, sagte ich – und verschwieg, dass ich es auf der Innenseite von Kims Ring gesehen hatte. Konnte sie eine Nachfahrin dieser alten Familie sein?
Wir verließen das Hotel früher als üblich. Ich wollte rechtzeitig zurück sein, um am Nachmittag bei Joanna Hutchinson einzuziehen. Ich regelte die Rechnung, lud mein Gepäck und folgte Grimsworths Rover. Wir parkten vor dem Eisentor des Ven House und nutzten einen versteckten, vom Efeu überwucherten Seiteneingang, um das riesige Gelände zu betreten. Dicht an der Mauer gingen wir südwärts. In diesem Teil war der Garten verwildert und sumpfig; offenbar ließ man aus Kostengründen nur den kunstvoll angelegten Bereich rund um das Haus pflegen.
Englische Herrenhäuser sind oft von verschiedenen Gartenbereichen umgeben: repräsentativer Garten, Gemüsegarten, großer Wildgarten und eine Orangerie. Wir bewegten uns nun durch den Wildgarten, wo die Natur ungestört wucherte – ein Paradies für Fotografen, Maler oder Schriftsteller. Das Gelände wurde sumpfiger; hier und da ragten Überreste alter Mauern auf – vermutlich Wirtschaftsgebäude oder Ställe. Vorsichtig stapften wir durch lichten Wald; der Boden war mit stacheligen Pflanzen und Efeu bedeckt, der sich bis in die Bäume hinaufschlang.
„Grimsworth, dort vorn bei den dunklen Bäumen – das sieht aus wie ein sehr altes Grab“, rief ich.
Er ging direkt auf den Stein zu: „Sie haben gute Augen, junger Mann. Dieser Ort scheint seit Ewigkeiten verlassen. Vielleicht ist noch etwas zu lesen.“
Er befreite den Stein von Schlingpflanzen und jahrhundertealtem Schmutz. „Hier liegt ein Medlycott aus dem 18. Jahrhundert. Wo einer liegt, gibt es mehr.“
Nicht weit davon fanden wir weitere zerbrochene Grabplatten; nichts mehr lesbar – zu lange vernachlässigt. Es schien sich um noch ältere Ruhestätten zu handeln. T. M. G. war in seinem Element; mir fröstelte es, über die Gräber zu gehen. Wie ein Spürhund folgte er einem inneren Kompass durch den Laubwald und stieß auf Überreste von Grundmauern.
„Komm her, Kurt, ich glaube, ich habe einen Schlüssel zum Rätsel gefunden.“ Das war das erste Mal, dass er mich duzte.
„Ja, Tyron, ich komme.“
Im Herrenhaus
Grimsworth hatte Mauerreste entdeckt, die auf ein mittelalterliches Gebäude hindeuteten – vielleicht die Kapelle des verschwundenen Dorfes Ven? Dann stünden wir nicht nur auf heiligem Boden, sondern auch mitten auf einem Pestfriedhof. Es gab keine sichtbaren Grabsteine – vermutlich ein Massengrab unter dicker Erdschicht. Wusste die Familie Carent davon? Sie hatte das Land erworben, als das Dorf längst verschwunden und der Friedhof verfallen war. War es möglich, dass Lady Carent über 200 Jahre später an der Pest erkrankte – durch einen Rattenbiss? Dasselbe könnte Damen der Medlycott-Familie widerfahren sein. Ich stellte mir edle Damen vor, die mit Körben Kräuter sammelten, darunter Zimbelkraut, das in Mauerritzen wuchs, reich an Vitamin C war und als Heilmittel galt. Vielleicht wurden sie beim Sammeln gebissen.
Grimsworth bewegte sich zielstrebig Richtung Herrenhaus. Ich blieb kurz an einem Mauerstück stehen, wischte ohne besonderen Grund mit einem Stock Moos und Efeu weg und entdeckte darunter eine hellere Steinplatte. Ein echter Schweizer hat immer ein Taschenmesser: Vorsichtig legte ich den Sandstein frei. Vollständig lesbar war nichts mehr – bis auf ein „t“ und direkt darunter einen Teil eines Wappens: ein Schild mit Ringen. Lag hier ein Carent begraben? Die Dokumente aus Henstridge erwähnten keine Familiengräber auf dem Grundstück. War es das Grab der unglückseligen Lady Elizabeth, jung an der Pest gestorben?
Grimsworth bemerkte mein Zögern, kehrte um, schaute über meine Schulter und rief begeistert: „Mein lieber Freund, das ist ein Hinweis auf die Carents. Kurt, du bist ein Genie! Ich möchte wissen, ob hier wirklich jemand aus der Familie liegt. Warum hier und nicht in der Abtei, wo die anderen Carents bestattet sind? Ein so abgelegener Ort ist nur für jemanden gewählt, der nicht getauft wurde – oder der Hexerei beschuldigt war. Komm, vielleicht finden wir einen Zugang zum Haus. Ich weiß, es ist nicht die vornehmste Vorgehensweise für Gentlemen, aber manchmal rechtfertigt der Zweck die Mittel.“
Mir gefiel die Idee eines Einbruchs nicht, aber seine Argumentation überzeugte. An der Ostseite fanden wir einen Kellereingang. Die Holzabdeckung war verrottet, kaum gesichert; wir stiegen hinab. Grimsworth zog eine starke LED-Taschenlampe aus der Jacke. Wir durchquerten feuchte Vorratsräume; Modergeruch, raschelnde kleine Schritte, Spinnweben. Schließlich gelangten wir zu einer steilen Treppe, die in Wirtschaftsräume und Küche führte. Dort: eine große Feuerstelle mit Haken für Kochtöpfe, Arbeitsbänke, ein steinernes Waschbecken – sonst nichts.
Ich drängte aufs Weitergehen; mich überkam ein Frösteln. Erdgeschoss: ergebnislos. Erster Stock: Gesellschaftsräume, Bibliothek, Damenzimmer, Spielzimmer – leer, feucht, kalt, ohne Anzeichen neuer Bewohner. Dasselbe im zweiten Stock mit privaten Schlafzimmern. Ganz oben, unterm Dach, über schmale Treppen: die Räume des Personals. Das Haus war leer; nur einige alte, verrottete Möbel. Überall Staub, Vogel- und Fledermauskot. Der Schmutz der letzten fünf Jahrzehnte, ein leichter Ammoniakgeruch.
Ich erinnerte mich an das vermeintliche Licht in einem Raum des ersten Stocks – von außen müsste es der Westflügel gewesen sein. Wir inspizierten die Räume und betraten am Ende des Flurs einen sehr großen, hellen Raum: Fenster zum Eingangstor und ein Balkon zur Gartenseite. Von hier überblickte man Garten und Anwesen bis an die Grenze von Milborne Port. Sicherlich das Schlafzimmer der Hausherrin, dachte ich. Doch auch hier: keine Möbel – nur ein riesiger Spiegel an der Wand, teilweise blind oder vom Staub der Zeit verschmutzt. Tyron trat auf den Balkon und bewunderte den Garten, während ich alberne Grimassen im Spiegel schnitt.
Plötzlich wurde der Raum deutlich kühler. Draußen um 20 °C, die Balkontür offen – doch hier drinnen spürbar kälter. Realität oder Einbildung? Gerade wollte ich Tyron rufen, da blieb mir die Stimme im Hals stecken. Im Spiegel erschien langsam ein Schatten, wurde größer und nahm die Umrisse einer Frau an. Sie trug Kleidung im Stil des 17. Jahrhunderts, dunkel und elegant. Ihr Gesicht: leichenblass – und dann, vor meinen Augen, verwandelte es sich; Schönheit wich einer grauenvollen, entstellten Fratze mit schwarzen Beulen. Ein Schauer fuhr mir durchs Mark, der Puls hämmerte. Ich hörte sie undeutlich sprechen: „Hilf mir, rette mich und erlöse mich.“
Dann löste sich die Erscheinung auf – und ich verlor das Bewusstsein.
Hilfe
Wie ich nach Sherborne zurückkam, weiß ich nicht. T. M. G. muss den Mietwagen vor Joannas Haus abgestellt haben. Offenbar hatte er mich aufs Bett gelegt und mein Gepäck ins Zimmer gebracht.
Als ich erwachte, saß die besorgte Mrs. Hutchinson am Bettrand. „Keine Sorge, Kurt, alles in Ordnung. Mr. Grimsworth hat dich hergebracht und erzählt, du seist vor Hunger umgekippt. Magst du ein Sandwich?“ Sie hatte etwas sehr Nettes an sich; trotz der Jahre wirkte sie jugendlich.
„Ein starker Kaffee – äh, Tee – wäre gut. Und ja, ich habe Hunger“, stammelte ich und sprang vom Bett. „Dann treffen wir uns in der Küche. Du kannst dich frisch machen“, sagte sie und ging.
Joannas Haus war ein Schmuckkästchen. Nach dem Tod ihres Gatten Archibald hatte sie es umgestaltet: die schweren, traditionellen Möbel und das abgewetzte Chesterfield-Sofa, das Archie so liebte, verschwanden. Laura Ashley und Beatrix Potter hielten Einzug; das Haus wurde zum Puppenhaus in Pastelltönen. Ich musste mich daran gewöhnen; der blümchenbezogene Bettbezug hätte meiner Schwester gefallen – ich bevorzugte nüchternen, geradlinigen Stil. Joanna konnte gut von Archies Rente leben, unterstützte örtliche Wohltätigkeitsorganisationen und arbeitete mittwochs an der Kasse des Castle Garden Center – beliebt, weil sie ein Gespür dafür hatte, welche Pflanzen zu welchen Menschen passten. Ihr Hobby war Parapsychologie; esoterischen Themen stand sie offen gegenüber.
Das Sandwich und der kräftige Dorset-Tee taten gut; ich erholte mich rasch. „Kurt, ich denke, du hast heute etwas Unangenehmes erlebt“, begann sie vorsichtig.
„Als ich dich vor ein paar Tagen kennenlernte, umgab dich eine sehr positive, silberne Aura. Solche Menschen sind außergewöhnlich begabt, einfühlsam und entwickeln wunderbare Fähigkeiten, andere zu verstehen. Deshalb wollte ich dich sofort als Mieter. Aber als dich Grimsworth heute bewusstlos herbrachte, sah ich schwarze Flecken in deinem Energiefeld. Das zeigte mir, dass du ein äußerst unangenehmes Erlebnis hattest. Mittlerweile scheinst du dich zu erholen.“ Ihre vertrauliche Art mochte ich. „Joanna, ich weiß nicht, was Aura oder Energiefeld sind, aber ich nehme an, es hat mit Ausstrahlung zu tun – ob Menschen sich zu uns hingezogen fühlen. Gern erzähle ich von meinen Erlebnissen.“
Ich berichtete von Grimsworth, von Kim und der seltsamen Erscheinung im Spiegel des Ven House.
„Hm“, überlegte Joanna. „Das ist viel auf einmal. Es scheint, Grimsworth wird dir eine große Unterstützung sein. Deine Verbindung zu Kim birgt enormes Zukunftspotenzial. Beide Beziehungen sind mysteriös mit der Frau im Ven House verbunden. Dass nur du sie sehen kannst, liegt an deiner außergewöhnlichen Sensibilität. Die Frau mit dem zerstörten Gesicht hat es bisher nicht geschafft, ins Jenseits zu gehen. Sie hat noch eine Aufgabe und sucht Hilfe. Ihr Aussehen hat bisher alle abgeschreckt – so blieb die Lösung aus. Die meisten vermuten zuerst das Negative und unternehmen nichts.“
Ich saß da wie ein Erstklässler mit offenem Mund.
„Kurt, wir sollten alle zusammenkommen und eine Séance abhalten, um Kontakt mit den Carents aufzunehmen. So könnten wir mehr über das Schicksal von Lady Carent, der Frau von William Carent, erfahren. Vielleicht können wir die beiden Verstorbenen wieder zusammenführen“, schlug Joanna vor.
Mir wurde mulmig; Geister herbeirufen und Hokuspokus gehören nicht zu meiner Welt. Man kennt die Ergebnisse solcher Experimente aus Hollywood-Filmen. Als Zwinglianer betrachte ich die Welt nüchtern. Natürlich glaube ich an ein Leben nach dem Tod, aber Geistergeschichten hatten in meinem Leben keinen Platz. Letztlich stimmte ich zu, und wir vereinbarten die Séance für den nächsten Abend.
Sir William
Wir trafen uns um 19:30 Uhr in Joannas Stube. Tyron war voller Tatendrang; Kim wirkte etwas unsicher und trug den Ring um den Hals; Joanna erschien in Begleitung von Margaret Boland, einer kräftigen Frau in den Vierzigern, die als Medium dienen sollte.
„Margaret ist ein Naturtalent und gläubige Christin; wir haben schon zusammengearbeitet“, erklärte Joanna. „Wir setzen uns an den runden Tisch, halten uns an den kleinen Fingern und berühren mit den Daumen die Nachbarn. Dann entspannen wir uns, schließen die Augen und konzentrieren uns auf die Zielperson. Ich übernehme die Führung; wenn es gelingt, spricht die verstorbene Person direkt durch Margaret. Erschreckt nicht: Manchmal materialisiert sich der Geist im Raum und nutzt das Medium als Verstärker.“
Ich saß neben Kim, die mich ängstlich ansah. „Keine Angst – sieh mich an und berühre meine Hand; das hilft.“ Zugeben konnte ich nicht, dass mir unwohl war. Joanna bemerkte sicher eine Veränderung meiner Aura und nickte.
„Er hat recht, Kim. Du kannst ihm vertrauen.“ Grimsworth fügte hinzu: „Ich bin froh, dass Kurt dabei ist. Schon am ersten Tag wurde mir klar, dass er eine Schlüsselfigur für meine Studien sein könnte. Ich untersuche im Auftrag einer Londoner Kanzlei die Geschichte des Ven House und die Gründe für die Tragödien – und suche nach unbekannten Nachkommen der Carents. Die Carents verkauften an die Carterets, diese an die Medlycotts. Es gibt Hinweise, dass ein Gegenstand aus der Zeit des verschwundenen Dorfes Ven im Haus versteckt ist, das Unglück brachte. Man sagt, eine Frau mit entstelltem Gesicht zeige dem Suchenden das Versteck. Kurt, ich glaube, du hast sie gesehen – darum bist du ohnmächtig geworden, stimmt’s?“ Ich konnte nicht widersprechen. Kim sah mich ungläubig an; Joanna nickte nur: „Die Veränderung deiner Aura zeigte mir eine übersinnliche Begegnung. Beginnen wir.“
Wir schlossen den Kreis und entspannten. Ein angenehmes Prickeln in meiner Hand; Kim drückte – sie vertraute mir. Mit ruhiger Stimme fragte Joanna, ob ein Geistwesen sie höre. Mehrfach wiederholte sie die Anrufung. Nach einigen Minuten flackerte das Deckenlicht. Ich öffnete die Augen: Margarets Augen waren leicht verdreht – Trance.
Dann öffnete sie den Mund; die Stimme eines jungen Menschen: „Ich bin Keith Ashbury. Wer stört meine Ruhe, und was wollt ihr?“
Zunächst dachte ich, sie spiele uns etwas vor. Joanna antwortete ruhig: „Keith, kannst du mir den Kontakt zu einem ehrenwerten Mann herstellen?“
„Wir alle in dieser Dimension stehen in Kontakt. Diejenigen, die schwer gesündigt haben, kann ich nicht erreichen. Sie leiden in Dunkelheit bis zum Jüngsten Gericht.“ –
„Keith, wir suchen Sir William Carent, ehemaligen Sheriff von Somerset, Ehemann von Elizabeth Luttrell Carent, Lord von Ven House. Wir brauchen seine Hilfe.“
„Ich werde es versuchen“, murmelte Margaret. Minuten der Stille. Dann sprach sie mit tiefer, männlicher Stimme in altenglischem Dialekt:
„Wer stört den ehrenwerten William Carent von Ven? Sprecht.“
Mein Herz stockte; dem Dialekt folgte ich nur mühsam. Aus Margarets Mund entwichen Schwaden von Ektoplasma wie Zigarettenrauch. Hinter ihr formte sich eine Wolke mit den Umrissen eines männlichen Gesichts.
„My apologies, your Lordship“, sprach Grimsworth ruhig. „Ich bin Tyron Marmaduke Grimsworth, Geisteswissenschaftler aus York, beauftragt, die Geschichte Ihrer Familie zu erforschen und nach verschollenen Nachkommen zu suchen. Ich vertraue, dass dies in Ihrem Sinne ist?“
Sir William schwieg kurz; die Erscheinung bewegte sich, wurde heller. Ein großer, kräftiger Mann mit gepflegtem Bart. Dann sprach er mit tiefer, bestimmter Stimme:
„Hört gut zu, was meiner Familie widerfuhr.“
Sir William erzählte: Er kaufte das Land trotz Warnungen der Bevölkerung; man nannte es verflucht, weil Ven im 13. Jahrhundert der Pest zum Opfer gefallen war. Anfangs wurden die Toten nahe einer frühchristlichen Kapelle bestattet, später in einem Massengrab. Die Kapelle war zu seiner Zeit ruinös, die Grabsteine verschwunden oder zerbrochen. Die Bauarbeiten am Haus verliefen reibungslos; die Bevölkerung mied das Land. Er lebte glücklich mit seiner Frau Elizabeth, hatte Kinder, betrieb erfolgreiche Tier- und Milchwirtschaft. Eines Tages sammelte Elizabeth Kräuter und fand ein Eisenkreuz in der Nähe der Kapellenruine. Als sie es ausgraben wollte, stachen sie Insekten; große schwarze Ratten krochen aus einem Loch. Am nächsten Tag konnte sie nicht mehr aufstehen. Ihr Körper war mit Beulen bedeckt, sie litt unter starken Schmerzen. Nach 36 qualvollen Stunden verstarb sie. In seiner Verzweiflung warf William das Pestkreuz weg und beerdigte seine Frau heimlich bei der Kapelle. Er verkaufte Haus und Land und kehrte nie zurück.
Margarets Puls und Atem gingen heftig; Joanna wollte die Séance beenden. Grimsworth dankte Sir William; doch bevor Margaret aus der Trance geholt werden konnte, fügte die Stimme hinzu:
„Sucht nach einem Goldring. Er trägt die Insignien der Carents und wird euch bei der Lösung helfen.“ Dann lösten sich die Nebel auf; wir brachen den Kreis.
An diesem Abend brachte ich Kim nach Hause. Völlig erschöpft hielt sie meine Hand und bat mich, diese Nacht nicht allein zu lassen.
Kims Ring
Ich erwachte erschöpft auf der Couch, der Nacken steif, der Kopf voller Eindrücke. In der Nacht schien mir Lady Elizabeth gesagt zu haben: „Finde das Kreuz, lass es segnen. Dann finde mein Grab und befestige das Kreuz am Kopfende.“ Merkwürdig.
Aus der Küche klapperte Geschirr. Kim bereitete Frühstück vor. „Na, wie fühlst du dich?“, fragte sie und drückte mir einen schüchternen Kuss auf die Wange. „Jetzt besser – nach so einer Begrüßung.“
„Du hast nachts gesprochen: ‚Ja, ich werde suchen‘ – mehr nicht“, sagte sie, während Speckstreifen in der Pfanne brieten.
„Ich habe wild geträumt. Für einen Moment dachte ich, die schwarze Lady stünde im Raum – makellos. Sie wollte, dass ich Lord Carents Kreuz suche. Vielleicht sollte ich heute mit Tyron sprechen.“
Kim hatte sich erholt, doch die Geschichte beschäftigte uns. Was hatte es mit dem Ring auf sich? Was meinte der verstorbene Lord? Warum sollte ein Ring die Lösung sein?
„Wechseln wir das Thema? Es ist so schön hier. Erzähl mir von dir – ich nehme ja fremde Männer über Nacht auf“, lachte sie. Tatsächlich: Kaum saß ich auf ihrem Sofa, fielen mir die Augen zu. Was blieb ihr anderes übrig, als mich zuzudecken?
Kim erzählte: in Sherborne geboren, früh mit der Mutter nach Bath gezogen; Ausbildung zur Bibliothekarin. Den Vater kannte sie nicht, nicht einmal ein Foto. Die Mutter blockte alle Fragen ab – vielleicht eine unglückliche Liebe, vielleicht war der Vater nicht standesgemäß, vielleicht früh verstorben. Die Mutter trug einen Ring, der ihr wichtig war; auf dem Sterbebett bat sie Kim, ihn zu nehmen und stets zu tragen. Nach der Beerdigung stellte Kim fest, dass monatlich Geld von einer Londoner Kanzlei an die Mutter überwiesen worden war – mit Fördergeldern für Kims Bildung. Nachfragen führten ins Leere; man verwies aufs Amtsgeheimnis. Unter den Unterlagen fand sie Fotos, meist Sherborne und Umgebung – die Mutter vor der Abbey oder beim Schloss. Auf einem Foto stand sie vor dem Tor des Ven House – mit Begleiter. Kurz darauf erfuhr Kim von einer freien Stelle in der Stadtbibliothek und bewarb sich erfolgreich.
„Weißt du, Kurt, ich werde bald 30. Ich konnte nichts über meine Herkunft herausfinden. Vielleicht ist es Zeit, alte Geschichten zu vergessen und nach vorn zu schauen. Es gibt schönere Ziele im Leben einer jungen Frau – zum Beispiel du.“
Ich wurde rot. Engländerinnen können sehr direkt sein – sie traf ins Schwarze. „Kim, Darling“, begann ich unsicher, „das ist schön zu hören. Ich habe mich in dich verliebt – und ich werde alles tun, um mit dir zusammen zu sein, deine Herkunft aufzuklären und den Carent-Fall zu lösen. Es sind noch einige Tage bis zu meinem Dienstbeginn.“
Ich nahm all meinen Mut zusammen, umarmte sie zärtlich und küsste sie. Ein Beben, der Wunsch nach mehr – mir blieb die Luft weg. Hätte uns jemand gesehen, es hätte wie die Verschmelzung zweier Menschen zu einem Denkmal der Liebe gewirkt. Ich war lange nicht so glücklich gewesen. England ist ein Glücksfall, dachte ich: eine großartige Frau, eine schöne Wohnung, eine spannende Herausforderung – und das Abenteuer um das Ven House. Wir wussten, dass wir füreinander bestimmt waren.
„Kim, darf ich deinen Ring genauer ansehen?“, fragte ich. Sie nahm die Kette ab und reichte ihn mir. Äußerlich schlicht, trotz eingelegter Steine, offenbar 22-karätiges Gold. Einige Rillen auf der Außenfläche; alt, wahrscheinlich wertvoll, an manchen Stellen abgenutzt. Innen die Gravur: „Pro Deo et Patria WCV“, dazu ein kleines Wappen.
„Hättest du feines Papier und einen Bleistift? Der Ring ist eng; so erkenne ich die Gravur besser.“ Sie reichte beides. Vorsichtig rieb ich das Papier am Ring. Auf dem Papier erschien ein Schild mit zwei oben liegenden Kreisen und einem dritten unten; in den Kreisen drei umgekehrte „V“. „Sieht aus wie stilisierte Tannen“, sagte ich.
„Für Gott und Vaterland – WCV“, antwortete Kim. „Aber das sagt mir nichts. Vielleicht finden wir etwas im britischen Wappenverzeichnis online.“
Nach stundenlanger Suche der wegweisende Hinweis: Ein Sheriff von Dorset vor über 400 Jahren war ein Carent; sein Wappen identisch mit dem auf dem Ring. Die Frage blieb: Alter des Rings, Bedeutung von „WCV“ und von wem Kims Mutter ihn hatte.
„Kim, ich glaube, ich habe es: ‚WC‘ steht für William Carent, ‚V‘ für Ven. Ich bin mir fast sicher: Als Tyron und ich durch den Garten streiften, fanden wir alte Mauerreste – ich sah ein ähnliches Wappen. Verwittert, kaum lesbar, aber passend. Lady Elizabeth muss irgendwo auf dem Anwesen liegen – das hat der Geister Lord gesagt, oder?“
Das Pestkreuz
Ich suchte Tyron im Hotel – er brütete über Unterlagen. „Hallo, T. M. G., alles in Ordnung?“ – „Na, wie war deine Nacht? Joanna sorgte sich, weil du nicht zurückgekehrt bist“, grinste er. Ich wechselte das Thema. „Tyron, Kim und ich haben stundenlang die Datenbank der British Heraldry Society durchsucht. Das Wappen…“ Ich reichte ihm die Abzeichnung. Er prüfte und blätterte.
„Pro Deo et Patria ist kein ungewöhnlicher Wahlspruch; verschiedene Familien nutzen ihn. Aber das Wappen kenne ich – in der Kirche von Henstridge. Das muss das Wappen der Carents sein.“
„Wir kommen zur gleichen Schlussfolgerung – aber wir wissen nicht, wie der Ring in die Hände von Kims Mutter kam. Ich denke, ‚WCV‘ bedeutet William Carent, Ven. Der Lord sprach letzte Nacht von einem Ring.“
„Kurt, fahren wir nach Henstridge – danach noch einmal ins Ven House“, schlug Tyron vor.
Unterwegs holten wir Kim ab. In Henstridge fanden wir den Friedhof rasch; in der Kirche das Grabmal von William II Carent und seiner Frau Margaret, geb. Stourton. Kein Zweifel: das gleiche Wappen. Die Carents lebten seit Langem in der Region, besaßen Ländereien um Toomer Hill und hatten Verbindungen zur einflussreichen Familie Stourton.
„Das reicht vorerst. Ein Imbiss im Virginia Ash?“, schlug ich vor. Während des Mittagessens erzählte ich Tyron von der eindringlichen Botschaft der schwarzen Lady in meinem Traum und den Hinweisen von Sir William. Es war 13 Uhr; das Pub fast leer. Fish & Chips für Tyron, Ploughman’s Salad für mich, Vegetarian Pie für Kim. Hausgemachte Limonade, schön zitronig.
Vom Pub zum Ven House waren es nur wenige Minuten. Wir parkten wie zuvor und gingen direkt zum Haus. Die beste Chance schien mir die Suche im Damenzimmer – dort hatte ich den Geist von Lady Elizabeth erstmals gesehen. Mulmig, aber was konnte passieren? Wir waren zu dritt; mein Traum war nicht beängstigend. Im Zimmer studierten wir die Worte von Sir William an der Wand – er habe das Kreuz aus dem Fenster geworfen, in Wut und Trauer. Wir blickten in den Garten und fragten uns, wie weit ein Kreuz fliegen konnte. William war gewiss kräftig. Tyron meinte, es sei wahrscheinlich im Teich gelandet und im Schlamm versunken.
Kim berührte meine Hand: „Kurt, spürst du die Kälte? Lass uns in die Sonne gehen.“ Tatsächlich kroch Kälte meinen Rücken hinauf. Wir drehten uns um. Kim war kurz davor aufzuschreien; mir stockte der Atem. Im großen Wandspiegel, genau dort, wo ich die schwarze Lady gesehen hatte, bildeten sich dunkle Schleier, die sich bewegten und den goldenen Rahmen verließen. Wir standen wie versteinert; Herzrasen. Auch Tyron drehte sich um: „Was ist los mit euch? Seht ihr Geister?“ Er schien nichts zu sehen. „Seltsam, es ist ungewöhnlich kalt. Wir sollten gehen.“ Ich legte den Zeigefinger auf die Lippen. Inzwischen erreichte der schwarze Nebel den Boden und wuchs zu einer mittelgroßen Gestalt. Inmitten des Nebels: eine Frauengestalt, elegant, fein gekleidet, typisch für ihre Zeit. Auffallend blasses Gesicht, streng zurückgebundene Haare – war es Lady Elizabeth? Bemerkenswert: die Ähnlichkeit mit Kim. Nichts erinnerte an die schreckliche Krankheit; als wäre sie leibhaftig unter uns.
„Kurt, du hast mich gesehen; du hast meine Botschaft gehört, und du bist meinem Ruf gefolgt“, hauchte sie. Ich konnte nicht antworten; je länger ich sie ansah, desto frappierender die Ähnlichkeit mit Kim. Täuschung? Kim stand wie versteinert.
„Und wer ist dieses junge Mädchen, das meine Tochter sein könnte? Sie trägt meinen Ring um den Hals“, sagte sie. Kim griff instinktiv nach der Kette und hielt den Ring schützend.
„Dieser Ring gehörte meiner Mutter Margaret“, verteidigte sich Kim, „aber ich weiß nicht, woher sie ihn hatte.“
„Kurt, ich bat dich, das Kreuz zu finden. Du und Kim – ihr seid die Einzigen, die mich sehen und hören können. Findet das Kreuz, befestigt es an meinem irdischen Grab. Es wird die Pestflöhe und Ratten für immer bannen. Sie haben genug Leid angerichtet – den Carents, Carterets und Medlycotts. Wenn ihr erfolgreich seid, finde ich ewige Ruhe und gehe ins Licht, wo mein geliebter William wartet. Dieser Ringverbindet unsere Liebe – und wird auch euch Glück bringen.“
Unsere Furcht wich. Wir stammelten ein leises „Ja“. Die Lady lächelte zufrieden; der Nebel zog sich zurück und verschwand. Wir standen wie verzaubert.
Tyron schüttelte uns: „Träumt ihr? Ich sprach die ganze Zeit mit euch, aber ihr starrtet auf den Spiegel, bewegtet die Lippen und nicktet.“
„Komm, in den Garten“, sagte ich. „Wir müssen in den Teich. Wenn William das Kreuz hineingeworfen hat, liegt es im Schlamm.“
Tyron ließ es sich nicht nehmen und stieg mit hochgekrempelten Hosen in den Teich. Kaltes Wasser, Schlamm, verrottendes Pflanzenmaterial. Plötzlich schrie er: „Etwas hat mich gestochen – vielleicht ein Krebs oder eine Glasscherbe?“ Eine kleine Schnittwunde an der Fußsohle, leicht blutend. Dann griff er in den Schlamm, spürte etwas Spitzes.
„Gib mir die große Tonscherbe dort – als Schaufel. Da ist etwas Hartes.“ Er grub, zerrte – und hielt schließlich ein völlig verrostetes Ringkreuz (ca. 40–50 cm) in der Hand.
„Eureka! Ich habe es gefunden!“ Jetzt mussten wir nur noch zum Grab, das ich im Wäldchen entdeckt hatte.
Lady Elizabeth
Wir stapften durch sumpfige Flächen in Richtung lichten Waldes. Unsere Kleidung blieb an stacheligen Büschen hängen; wir kämpften uns durch Efeu, bis wir vor den kümmerlichen Mauerresten der mittelalterlichen Kapelle standen. An dem Mauerteil, den ich bereits von Moos befreit hatte, begannen wir, Gebüsch zu entfernen. Nach wenigen Minuten harter Arbeit traten die Umrisse einer halb im Erdreich versunkenen Grabstätte zutage. Dort, wo mein Taschenmesser die Oberfläche freigelegt hatte, war deutlich das Wappen der Carents zu erkennen. Gewissheit hatten wir nicht, aber die freigelegten Buchstaben legten nahe, dass es Elizabeth sein musste. „Wer sonst?“, bemerkte Tyron.
Wir verharrten andächtig um die Grabstelle. Dann nahm ich das rostige Kreuz, suchte eine geeignete Stelle am Kopfende, lockerte mit einem Ast die Erde, steckte das Kreuz hinein und drückte es fest. In dem Moment, als es saß, hörten wir einen langgezogenen, befreienden Seufzer. Ein sanfter Luftzug strich an uns vorbei; intensiver Veilchenduft umgab uns; über uns bewegten sich die Bäume, Blätterrauschen. Ein Sonnenstrahl drang durchs Blätterdach und fiel direkt auf das Grab. Dann kehrte Ruhe ein – Frieden.
Wir schauten nach oben und waren überzeugt, dass Lady Elizabeth nun den Weg ins Ewige Licht gefunden hatte. Die Grabstätte veränderte sich: Efeu, Himbeersträucher und Ranken zogen sich zurück; Moos verdorrte und wurde vom Wind davongetragen. Zarte Veilchen brachen aus der Erde; ihr Duft erinnerte an Elizabeth. Es war vorbei: Sie hatte ihre Ruhe gefunden, wieder bei ihrem geliebten William. Die Pestflöhe und Ratten würden aus dem Ven-Garten verbannt sein; keine zukünftige Hausherrin müsste diese Krankheit fürchten.
Kim und ich lagen uns in den Armen; Tyron strahlte und warf seine Sherlock-Holmes-Mütze in die Luft. „Hurra, das wird gefeiert! Ich brauche ein Ale. Kommt, ich lade euch ins Eastbury ein. Nicht nur euch, sondern auch Joanna Hutchinson. Sie hat mich sehr beeindruckt. Ich denke, wir wären ein gutes Team“, erklärte er mit verschmitztem Lächeln. So verließen wir die Stätte früheren Grauens – glücklich, einer großen Liebe Ewigkeit geschenkt zu haben.
Gemeinsames Glück
Wir saßen im Speisesaal des Eastbury Inn. Tyron ließ Champagner servieren, obwohl er schon sein Bier hatte und das Essen bestellt war. Feierstimmung – der Champagner tat sein Übriges. Kim saß nah bei mir und hielt unter dem Tisch meine Hand. Joanna konnte den Blick nicht von Tyron wenden.
„Nun kann ich die Katze aus dem Sack lassen“, begann er.
„Ich kam nach Sherborne mit dem Auftrag, die Nachkommen von Roger Armstrong Carent zu suchen, der vor über 30 Jahren in dieser Stadt eine junge Frau kennengelernt und geliebt hat. Er liebte sie so sehr, dass sie nach etwas mehr als einem Jahr feststellte, schwanger zu sein. Roger wollte sie unbedingt heiraten, doch eine Heirat mit einer Frau niederen Standes war undenkbar. Auf Druck der Familie zog er sich zurück und verließ bald darauf das Land. Er suchte Ruhe und Vergessen – in Australien, ohne Erfolg, dann in Kanada, ebenfalls ohne Erfolg – und zog ruhelos um die Welt. Bevor er England verließ, verfügte seine strenge Familie, dass die Kanzlei Bigby, Bigby & Bigby in London die werdende Mutter mit einer monatlichen Apanage unterstützen solle – mit zusätzlichen Mitteln für eine längere Ausbildung des Kindes. Weiter ordnete die Familie an, Roger zu enterben, sollte er sich nach dem Tod der Eltern mit der Frau vermählen. Als gebrochener Mann verließ Roger Armstrong Carent sein geliebtes Land. An seinem 65. Geburtstag in Sydney erlitt er einen Schlaganfall und verstarb Monate später – unglücklich. Bigby, Bigby & Bigbyengagierten mich im Auftrag des Verstorbenen, um die Mutter und die Tochter zu finden, die er nie gesehen hatte. Klar, dass ich meine Suche in Sherborne begann – und dort traf ich zufällig einen jungen Schweizer, der mir von einem sehr ungewöhnlichen Erlebnis berichtete.
„Joanna, du könntest sagen, es war Schicksal – seine silberne Aura ließ mich aufhorchen. Kaum ein Tag verging, an dem er nicht Beobachtungen mit mir teilte. Er sprach von einem Ring, dann von einer jungen Frau um die 30, von einem Wappen und den Carents – und schließlich riefst du, Joanna Hutchinson, mich an.“
Tyron holte Luft, nahm einen großen Schluck Ale und fuhr fort: „Mein Auftraggeber wies mich auch an, zu klären, was an den Geschichten über das Ven House wahr ist. Rogers Eltern kauften den Familiensitz nach Jahrhunderten von den Medlycotts zurück. Spukgeschichten und ungeklärte Todesfälle hielten die Carents damals davon ab, nach Milborne Port zurückzukehren. Später schickten sie Roger nach Sherborne, um mehr herauszufinden – und er verliebte sich dort in eine einfache Ladentochter.“
„Das muss meine Mutter gewesen sein“, sagte Kim, während Tränen über ihre Wangen liefen. „Folglich war der verstorbene Roger Armstrong mein leiblicher Vater. Ich bin also eine echte Carent?“
Stille. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte; Kim schluchzte leise; Joanna zückte unauffällig ein Taschentuch; Tyron blätterte verlegen in Unterlagen. „Ja, Kim, es scheint so. Ein kleiner DNA-Test bringt Gewissheit. Dann sind es nur noch Formalitäten, und Bigby, Bigby & Bigby regeln die Erbschaft. Du wirst wohl die neue Lady Carent of Ven werden.“
Kim – noch mit Tränen in den Augen – drehte sich zu mir und flüsterte: „Willst du dann mein persönlicher Lord sein?“
So kam es, dass ich meine Stelle als Deutschlehrer nicht antrat, Kim ihre Stelle als Bibliothekarin kündigte und Joanna und T. M. G. gemeinsam ein Unternehmen gründeten, um Menschen in spirituellen Fragen zu unterstützen – mit Hilfe von Margaret Boland, der Bauersfrau. Ich glaube, ich traf die richtige Entscheidung, in England zu bleiben und meiner zukünftigen Frau, Lady Carent of Ven, die deutsche Sprache beizubringen.
Ehrlich gesagt: Sherborne, ist mehr als nur eine Reise wert.
P.S. Die englische Fassung dieser Novelle wurde veröffentlicht auf der Website der Milborne Port History and Heritage Society, in Milborne Port, UK










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