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Coiffeur Stern

  • thomasvonriedt
  • 17. Dez.
  • 3 Min. Lesezeit
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Es begann an einem Tag, an dem die Zeit stillstand – zumindest für mich.

Meine Frau versank im Schimmer der Vitrinen eines Schmuckgeschäfts, ihre Augen glitten von Perle zu Perle, als lausche sie einem leisen Konzert aus Licht.

 

Ich aber stand draussen, im unsichtbaren Windzug zwischen zwei Welten: der funkelnden Welt des Schmucks und der raueren, beinahe erdigen Welt des „Salon Stern“.

 

Dort drinnen bewegten sich Männer, die wirkten, als trügen sie Geschichten in den Bärten, die ihnen gleich darauf fachkundig gestutzt wurden. Ein Faden zischte durch die Luft, ein Rasierer summte, und mit jedem Haarknäuel, das fiel, schien ein Stück Biografie sanft abgestreift zu werden.

 

Ich stand am Fenster, atmete den Ort ein – und spürte ein unerwartetes Ziehen in der Brust.

Vielleicht war es Zeit für eine kleine Verwandlung.


 

Die frühen Jahre – ein Kopf als Bühne


Meine Haarbiografie beginnt mit einer goldenen Locke, die meine Mutter jeden Morgen formte, als sei sie die Stylistin eines kleinen Filmstars. Die Nachbarinnen wuschelten mit ihren wohlmeinenden Händen darin herum, und ich verstand schon damals: Haar ist ein öffentlicher Ort.

 

Später, im „Coupe Hardy“, wurde ich in die männliche Welt überführt. Es war kein Haarschnitt – es war eine Entscheidung. Ein Abschied von den spielerischen Locken, ein Eintritt in die Ordnung.

 

Doch die Jugend brachte die Unordnung zurück.

Brylcreem duftete wie Aufbruch, der Kamm wurde zum Zepter eines kleinen Königs, und das Kopfkissen glänzte im matten Fettglanz jugendlicher Selbstfindung.


 

Militär – der staatlich verordnete Minimalismus


Dann rief das Vaterland; und Haarlänge war plötzlich eine Frage der Disziplin, nicht der Ästhetik.

 

Meine Mähne fiel – kompromisslos.


Nur ein Schnurrbart überlebte. Er stand mir wie ein trotziges Banner eines jungen Mannes, der nicht ganz bereit war, sich vollständig zu ergeben.


 

Die Jahre der Routine


Mit den Jahren wurde der Haarschnitt zu einem stillen Ritual.

Ein Termin. Ein Espresso. Ein Schnitt, der sich kaum veränderte.

 

Der Friseur wurde zu einem Vertrauten – jemandem, der die Form meiner Müdigkeiten kannte, den Rhythmus meiner Lebensjahre, den Tonfall meiner Geschichten.

 

Die Frisur blieb, wie sie war. Und die Zeit verging, wie sie es musste.


 

Der Markt von Oerlikon – und die Frage nach der Würde


Als Rentner änderte sich mein Blick.

 

Ich sah die Männer um mich herum – die einen, frisch gekleidet und mit wachem Blick; die anderen, die sich in Beige oder Grau hüllten, als wollten sie mit dem Hintergrund verschmelzen. Ich wusste: In diese Farbe würde ich nicht hineingleiten.

Meine Mutter hätte es nicht zugelassen. Meine Frau nicht und ich selbst schon gar nicht.


 

Der Augenblick der Entscheidung


Und so stand ich wieder vor dem „Salon Stern“, den ich inzwischen kannte wie ein heimliches Theater.

 

Eines Morgens drückte ich die Tür nieder – nicht entschlossen, eher geführt von einer leisen Sehnsucht nach Veränderung.

 

Der junge Kurde hinter dem Stuhl sah mich an, als sehe er durch das Haar hindurch auf das Gesicht, das darunter wartete.

 

„Wie möchten Sie es?“, fragte er.

Eine Frage, die so einfach klang. Und doch alles durchdrang.

 

Ich zeigte auf ein Foto. „So ungefähr.“

 

Dann begann ein zarter Regen aus weissen Haaren zu fallen.

Leicht. Beiläufig.

 

Und im Spiegel erschien ein Gesicht, das ich kannte – aber lange nicht mehr begrüsst hatte.

 

Herr Bakr schnitt keine Haare.

Er schnitt Zeit, Zweifel, Angewohnheiten.


Er liess etwas entstehen, das leise an meine Jugend erinnerte.


 

Ein kleiner Ort voller Welt


Im Salon Stern wird also nicht nur geschnitten.

 

Hier wird gesprochen, gelacht, geschwiegen, verstanden.

Menschen verschiedenster Herkunft teilen diesen Raum, und für einen Moment scheint die Welt – trotz allem – sanft zu funktionieren.

 

Integration geschieht hier mit einer Schere, einem Lächeln und jener selbstverständlichen Freundlichkeit, die man nicht lernen kann.


 

Epilog: Das Wachs auch Chläubi genannt


Am Ende fragen Bakr oder Sadeq wie immer: „Wachs? Das Grüne?“

 

Und ich sage, wie jemand, der in einem kleinen, unscheinbaren Ritual ein Stück Verlässlichkeit findet:

 

„Ja. Das Grüne.“

 

Ich zahle meine 25 Franken, trete auf die Strasse hinaus und fühle mich… nicht jünger.

Sondern wach.

Präziser.

Etwas heller.

 

Ein guter Haarschnitt verändert nicht die Welt.

Aber er macht ihre Konturen weicher.


Und manchmal – wenn man Glück hat – die eigenen auch.

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