Apiane die fleissige Biene
- thomasvonriedt
- 25. Nov.
- 4 Min. Lesezeit

Der Winter war lang, ein bleierner Schleier über der Welt. Nur dank der süßen, klebrigen Zuckerflüssigkeit, sorgsam gehütet in den goldenen Kammern ihres Stocks, konnten Apiane und ihr Schwarm die Kälte überstehen.
Manchmal drang ein schwacher Sonnenstrahl durch das matte Holz ihres Hauses und wärmte für einen kurzen Augenblick die reglosen Körper. Dann wagten sich die ersten hinaus, um Flügel und Beine zu regen – ein trotziges Zeichen des Lebens mitten in der Erstarrung.
An jenen seltenen Tagen, wenn der Frost nachließ, blieben die Todfeinde in ihren Nestern. Die asiatischen Hornissen – gefürchtet, grausam, gierig – wagten sich nicht hervor. So führte Apiane ihre Sammlerinnen zu einem prächtigen Strauch, dessen Blüten wie kleine Flammen in der Wintersonne glühten: die Hamamelis, die Zaubernuss.
Sie war eine der letzten Boten des Lichts in dieser toten Jahreszeit. Zusammen mit dem Winterschneeball und der Winterheide schenkte sie den Bienen einen Hauch von Frühling. Der Nektar schmeckte nach Hoffnung.
Rasch sammelten die Arbeiterinnen, so viel ihre kleinen Körper tragen konnten, und kehrten zurück in die warme, vibrierende Dunkelheit des Stocks. Schon im Flug fühlten sie den Atem des kommenden Sturms – kalt, schneidend, drohend.
„Die Letzte zieht das Gitter zu – wir wollen ja keine ungebetenen Gäste!“, rief Apiane, als sie auf dem Anflugbrett landete und flink ins sichere Innere schlüpfte.
Von einer welschen Biene, die im letzten Sommer halb tot zu ihnen gekommen war, hatten sie vom Vormarsch der Hornissen gehört. Ihre Fressgier kenne keine Grenzen, hatte sie gehaucht, kurz bevor sie starb. Fänden sie keine Bienen, vergingen sie sich an Käfern, Schmetterlingen, ja, selbst an Früchten. Auch im Baselbiet habe man sie schon gesehen – dunkle Schatten am Himmel, Vorboten eines neuen Schreckens.
Apiane dachte an die endlosen Versammlungen, an die Bienenräte, an all die Reden, die gehalten, aber nie in Taten verwandelt wurden. Die Schweizer Schwärme, stolz auf ihre Eigenständigkeit, fanden zu keiner Einigkeit. Und während sie debattierten, starben ganze Völker.
Selbst die Honigliebhaber, jene menschlichen Freunde, verloren sich in Sitzungen und Streitgesprächen. Kein Tropfen Entschluss fiel vom Löffel ihrer Worte.
Immerhin tröstete sich Apiane, war ihr eigener Stock vorbildlich gepflegt. Die Zellen glänzten, der Wachs war rein. So blieb auch die Varroamilbe fern, dieser unsichtbare Feind, der sich in fremde Körper fraß. Nur der beißende Geruch der Ameisensäure erinnerte daran, dass Wachsamkeit Opfer verlangte.
In den alten Chroniken der Apis-Familie war von ihr schon die Rede – Parasiten, so alt wie das Reich der Bienen selbst. Von Königin zu Königin war das Wissen weitergegeben worden: die Lehre vom Gleichgewicht zwischen Leben und Verfall.
Apiane hastete durch das vibrierende Gewimmel und legte den Hamamelis-Nektar im Vorratslager ab. Bald würde daraus ein heilendes Präparat entstehen – goldgelb, von der Sonne gesegnet, gut gegen Entzündungen und Traurigkeit gleichermaßen.
Schließlich erreichte sie die Kammer der Königin. Dort, in einem Wabengemach aus Licht und Schatten, ruhte die Weisel – groß, würdevoll, ein atmender Mittelpunkt. Ihre Gefährtinnen pflegten sie mit ritueller Sorgfalt. Jede Bewegung war Teil eines uralten Tanzes.
Apiane verneigte sich. Die Königin erwiderte das Zeichen kaum merklich, mit einem kaum hörbaren Summen. Sie wusste um die Stürme draußen, um das Eis, um die Gefahr. Doch ihr Reich war intakt, die Vorräte reichlich. Und in der warmen Mitte der Traube flackerte das Versprechen des Frühlings.
Bald darauf legte sich Stille über das Volk. Die Bienen formierten sich zur Traube, schützend um die Königin. Der Winter war noch nicht vorbei, doch der Tod hatte seine Schärfe verloren.
Apiane rollte sich in die Wärme, schloss die Augen – und schlief, als würde sie träumen.
Dann kam der Frühling. Nicht mit einem Knall, sondern leise.
Er sickerte ins Land wie Licht durch dünnes Papier. Der Schnee zog sich zurück, die Erde atmete, und die ersten Blumen brachen hervor – Krokusse, Schneeglöckchen, Winterlinge. Ihre Farben waren so grell, dass sie fast wehtaten nach all dem Grau.
Im Bienenstock erwachte das Leben. Der Duft der Blüten drang durch die Spalten, schmeichelte den Antennen, kitzelte die Sinne. Apiane nieste und lachte über sich selbst. Ihre Flügel fühlten sich noch steif an – sie musste üben, wieder fliegen lernen.
Am Eingang herrschte Betrieb. Die Wächterinnen riefen: „Sammelt fleißig – und gebt Acht auf die Hornissen!“
„Ja, ja, wir geben acht“, rief Apiane und stürzte sich hinaus, kopfüber in den Frühling.
Der Wind fuhr ihr durchs Haar – wenn Bienen, denn Haare hätten –, und die Sonne glitt wie warmer Honig über ihren Rücken. Der Flug wurde mit jeder Sekunde geschmeidiger. Sie roch Krokusse, Hyazinthen, frisches Gras. Der Himmel lag über ihr wie eine offene Blüte.
Als sie landete, tauchte sie tief in den Blütenkelch, bis der gelbe Staub an ihren Beinen klebte. Es war, als würde sie im Überfluss baden. Ballen um Ballen sammelte sie, immer schwerer wurde sie, bis sie kaum mehr abheben konnte.
Wie ein überladener Frachter schleppte sie sich heim – nur um gleich wieder hinauszufliegen. Der Rausch der Arbeit war süß wie der Nektar selbst.
Niemand bemerkte, dass sie längst beobachtet wurden.
Dann geschah das, was immer geschieht, wenn die Welt zu sorglos summt: das Unglück.
Eine junge Biene, unerfahren und neugierig, flog zu einem Strauch mit rosafarbenen Blüten. Hinter den Blättern lauerten sie – die dunklen Jäger.
Mit kalter Präzision stürzten sich die Hornissen auf ihr Opfer, rissen ihm den Flügel ab, nur um sein Zittern zu genießen. Der Schrei des kleinen Wesens durchschnitt die Luft – ein scharfes, klagendes Summen, das selbst Apiane das Herz zerschnitt.
„Zurück! Sofort zurück!“, rief sie. Sie wusste, die junge Biene war verloren.
Wie eine Staffel überladener Bomber stürzten sie Richtung Heimat. Hinter ihnen, lautlos und schnell, die Hornissen – Jäger im Schatten. Doch noch bevor die ersten ihre Behausung erreichten, klappte das Gitter zu. Ein metallisches Klicken, ein dumpfer Schlag. Eine Hornisse prallte dagegen und fiel kopflos zu Boden.
Atemlos, bebend, sank Apiane auf das Anflugbrett. „Noch einmal Glück gehabt“, flüsterte sie. Dann schwieg sie.
Sie wusste, der Frühling war nur eine kurze Atempause im ewigen Kampf.
Doch solange Licht durch das Flugloch fiel, solange eine Blüte duftete, würde sie fliegen.










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