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Schnuppertag - was?

  • thomasvonriedt
  • 17. Dez.
  • 3 Min. Lesezeit
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Kürzlich hörte ich von einer jungen Frau, dass ihre Freundin völlig irritiert sei. Ihre Freundinnen, allesamt Mütter kleiner Kinder, hatten bereits für ihre Sprösslinge einen Termin für einen „Schnuppertag“ im Kindergarten vereinbart.

Schnuppertag im Kindergarten? Jawohl, und zwar nicht für die Eltern, sondern für das Kind. Das kann doch nicht sein, dachte sie. Warum habe ich für mein Kind keine solche Einladung erhalten? Oder haben wir sie versehentlich mit dem Altpapier entsorgt?

 

Diese Fragen stellte sich die junge Mutter und beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Als verantwortungsbewusste Mutter griff sie sofort zum Telefon und begann, sich zu informieren.

 

Der erste Kontakt mit einer Koordinationsstelle für Kindergartenfragen brachte allerdings wenig Aufschluss. Man antwortete ihr mit bedauerndem Unterton: „Schnuppertag? Machen wir nicht – da kann ja jeder kommen!“ Die zweite Stelle war ebenfalls nicht kooperativ und schien die Frage als unpassend zu empfinden. „Nein, dafür haben wir weder Geld noch Zeit. So etwas machen wir nicht.“ Allmählich begann die junge Mutter an sich selbst zu zweifeln. Hatte sie das mit dem Schnuppertag vielleicht missverstanden?Beim dritten Versuch traf sie schliesslich auf Verständnis und ein wenig Hoffnung: „Doch, Schnuppertage bieten wir an, aber noch nicht. Wir richten den Kindergarten gerade erst ein und sind heillos im Verzug.“ Also wieder nichts Konkretes, aber immerhin eine Bestätigung, dass solche Schnuppertage tatsächlich existieren. Der vierte Anruf brachte dann endlich den Durchbruch. Man bot ihr die Möglichkeit, den Kindergarten an einem beliebigen Wochentag zu besuchen, allerdings gegen Ende des Unterrichts. Erleichtert atmete die Mutter auf. Nun konnte sie sich endlich in die Riege der „modernen“ Mütter einreihen und musste nicht fürchten, als unzeitgemäss abgestempelt zu werden.

 

Wie war das früher bei meinen Kindern oder gar bei mir, zu einer Zeit, als noch autoritär erzogen wurde? Ich versuchte mich zu erinnern. Zugegeben, es ist schon eine Weile her, aber soweit ich mich erinnere, gab es damals keinen Schnuppertag. Soziale Fähigkeiten und das Einfügen in die Rangordnung lernten wir draussen, in einer gemischten Gruppe von Kindern zwischen drei und dreizehn Jahren. Die Älteren zeigten den Jüngeren, wie es im Kindergarten, in der Schule und im Religionsunterricht zuging. Es war die schlichte Vorfreude, bald nicht mehr zu den „Hosenscheissern“ zu gehören, die uns über das Warten hinwegtröstete. Auch vor dem Übergang in die erste Schulklasse wusste man durch die anderen Kinder genau, was einen erwarten würde. Ein besonderes vorschulisches Training war nicht nötig. Ausserdem: Wer wollte schon am ersten Kindergartentag an der Hand der Mutter erscheinen? Dieser Makel hätte einen ein Leben lang verfolgt.

 

Was hat sich im Vergleich zu damals verändert? Fehlt den Kindern heute die Möglichkeit, ihr Sozialverhalten in gemischten Gruppen zu entwickeln? Sind die Eltern zu überfürsorglich? Liegt es an den digitalen Geräten oder gar an der „Überfremdung“? Vielleicht ist es auch, weil die Eltern den Freiraum ihrer Kinder zu sehr einschränken und ihnen weniger Gelegenheit geben, sich draussen auszutoben. Oder ist es einfach der gesellschaftliche Druck, der Eltern zwingt, mitzuziehen, um nicht als unzeitgemäss zu gelten? Vielleicht geht es auch darum, die Kinder frühzeitig auf ein Leben im Wettbewerb vorzubereiten. Es scheint, als ob ein bisschen von allem zutrifft.

 

Womöglich liessen wir den Kindern früher zu viel Freiraum, während heute alles überreguliert, durchgetaktet und verplant ist. Zeit für Langeweile gibt es kaum noch. Die Leistungsgesellschaft fordert eben ihren Tribut. Anno Domini, zwölf Jahre nach dem letzten Krieg, brauchte ich keinen offiziellen Schnuppertag und schon gar keine elterliche Begleitung. Eines schönen morgens entschied ich, ohne Ankündigung, meinen älteren Freund in den Kindergarten zu begleiten. Die Kindergärtnerin, eine resolute, aber von den Kindern geliebte Frau, schickte mich nicht nach Hause, sondern erkannte meinen Wunsch, zu den „Grossen“ zu gehören. Sie wusste, dass ich im Frühjahr mit dem Kindergarten beginnen würde. So gesehen hatte auch ich einen „Schnuppertag“, wenn auch ohne staatliche oder sozialpsychologische Vorgaben. Vielleicht sollten wir wieder öfter gesunden Menschenverstand einsetzen.

 

Danke, liebe Fräulein Meili. Ich war gerne bei Ihnen und habe Sie geliebt – leider habe ich es Ihnen nie gesagt.

 

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