Ruhe in Frieden
- thomasvonriedt
- 25. Jan.
- 8 Min. Lesezeit

Erinnerungen eines Golfballs
Ich bin ein Mitglied der großen Titleist-Familie, die seit über 80 Jahren in New Bedford, Massachusetts, hergestellt wird. Meine weitaus erfolgreicheren und bekannteren Brüder, der Pro V1 und der Pro V1X, erhalten natürlich die meiste Aufmerksamkeit, und das gönne ich ihnen von Herzen. Dennoch sollte man bedenken, dass es oft unscheinbare Typen wie mich sind, die das Golfspiel überhaupt möglich machen. Häufig werde ich von Käufern als Logoball verwendet und als beliebtes Geschenk weitergereicht. Golfspieler vertrauen mir, und wie sonst erklärt man sich den Griff zu einem Paket DTs, wenn es in der Auslage auch Bälle aus Japan, Korea und China zu wahrscheinlich niedrigeren Preisen gibt? Ich denke, es liegt an meiner Zuverlässigkeit, Bescheidenheit und meiner beständigen Leistungsbereitschaft, die geschätzt werden.
Wie oft bin ich schon in Büschen oder Gewässern gelandet, ohne dass jemand sich beschwert hat? Wenn ein Spieler mich aus dem Wasser fischt oder der Taucher in Neopren mich zurück an die Oberfläche holt, finde ich meinen Weg zurück ins Spiel, entweder sofort oder als "Lakeball" im Verkaufsnetz.
Warum es mich überhaupt gibt? Am Anfang stand die verrückte Idee, einen Ball mit Hilfe von Schlägern über die Hügel zu befördern. Daraus entstand der faszinierende Sport Golf. So wie sich die Schläger weiterentwickelten, perfektionierten sich auch die Bälle – vor allem dank der Verwendung von neuartigen Kunststoffen, von denen man früher nur träumen konnte. Dort, wo ich hergestellt werde, produzieren 1.100 Mitarbeiter Millionen meiner Brüder. Was in den 1930er Jahren begann, ist heute ein High-Tech-Unternehmen mit über 1.000 Patenten, das Bälle wie mich in 90 präzisen Schritten herstellt. Mein "Leben" erhalte ich ganz am Ende dieses Prozesses. Davor durchlaufe ich eine anspruchsvolle Entstehungs- und Entwicklungsphase, die zwar nicht neun Monate wie bei euch Menschen dauert, aber immerhin.
Die Schritte meiner Herstellung sind:
Mischen des Kernmaterials
Formen des Kernmaterials
Abschleifen
Herstellen der Mantelschicht
Anbringen der Urethanschale
Entfernen der Gussform
Polieren
Röntgenuntersuchung
Lackieren
Bedrucken
Visuelle Inspektion
Wenn ich Glück habe, werde ich von der fröhlichen Maria Gonzalez de Toro aus Puerto Rico inspiziert. Sie nimmt mich vom Band und legt mich zusammen mit 11 anderen Kollegen in eine brandneue Schachtel. Es ist keine Freude, wochenlang Schulter an Schulter mit den anderen Bällen im Dunkeln auf demselben "Dimple" zu liegen. Dann spüren wir den Transport: Wir werden gerüttelt und geschüttelt und hören die Protestrufe der teureren Brüder, die ebenfalls mit uns reisen und in derselben Sendung verschickt werden. Privilegien gibt es für uns nicht – die beginnen erst im Pro Shop. Dort werden die Pro V Bälle wirkungsvoll präsentiert und sind echte Hingucker, während die DTs und manchmal auch die Velocitys einfach im Regal landen, quasi als Massenware. In größeren Geschäften können wir sogar auf Holzpaletten gestapelt werden, wo sich jeder ein Paket für 18 Dollar schnappen kann. Wenn das passiert, geht es endlich voran, aber wir müssen noch einige raue Momente überstehen. Manchmal landet ein 12er-Pack einfach im Kofferraum. Weißt du, wie sich das anfühlt, wenn wir auf hartem Blech aufschlagen? Wer Glück hat, wird auf den Beifahrersitz gelegt, wo es sanfter zugeht – aber dafür kann es ziemlich heiß werden, wenn der Fahrer das Paket im Auto vergisst.
Ich habe schon den Duft von Gras, frische Luft und manchmal sogar Regentropfen erlebt – das sind einige der schönsten Momente. Mein Käufer saß mit mir im Golfclub, legte mich auf eine weiche Unterlage und positionierte eine Schablone über meinen Körper. Mit einem Markierstift zeichnete er vorsichtig, gleichmäßig und gerade eine Linie zum Putten. Das kitzelt zwar ein wenig, aber wenn der Spieler darauf achtet, einen wasserfesten Stift mit angenehmer Filzspitze zu verwenden, ist alles in Ordnung. Besonders mag ich den Edding Stift der Serie 400 mit roter Tinte – er passt perfekt zu meiner roten Nummerierung. Während dieser kurzen "Make-up"-Phase habe ich die Gelegenheit, mich mit meinen Kollegen #2 bis #12 auszutauschen. Danach geht es entweder in die Golftasche oder, wenn der Spieler die Bälle nach Nummern verwendet, landen #2 und #3 in der Halterung des "E-Caddys". Ich, als Ball #1, mache mich im Hosensack bereit für den Einsatz. Es kann eine Weile dauern, bis ich als Ball #8 endlich gefordert werde, zu fliegen und zu rollen. In China wäre ich vielleicht an erster Stelle, denn die Zahl 8 steht dort für Glück. Noch besser wäre eine 88 (was in Deutschland undenkbar wäre), und ideal wäre die 888.
An manchen Tagen ist unsere Zusammenarbeit fast perfekt. Ich liege entspannt auf der schalenförmigen Auflage des Tees – am liebsten auf einem aus Kunststoff von Lignum. Diese Zusammenarbeit ist schonender, und wir sehen uns immer wieder. Die starren Holztees mögen zwar elegant aussehen, aber sie splittern mit einem schrecklichen Geräusch. Außerdem jammern sie, wenn sie brechen. Oft steckt die eine Hälfte noch im Boden, während die andere vielleicht hinter oder vor der Teebox im Gras liegt. Ordentliche Spieler sammeln die Teile ein und werfen sie in einen Abfalleimer am Abschlag – ein wahres Massengrab der gebrochenen Tee-Aristokraten.
Jetzt ist meine Zeit gekommen. #1 bis #7 haben ihre Aufgabe offenbar erfüllt, und ich hörte #7 noch kurz. Sie war auf dem Weg zum großen Teich und holte vor dem Aufprall noch einmal tief Luft. Vermutlich wird sie im Herbst von einem Taucher geborgen – oder vielleicht sogar von einer Forelle verschluckt? Wer weiß das schon?
Zurück zu meinem Einsatz: Wie bereits erwähnt, lag ich auf dem Tee-Topp und erwartete den ultimativen Schlag. Ich richtete meinen inneren Kern aus, lockerte meine "Dimples" und atmete tief aus. Plötzlich rauschte der Driver an mir vorbei. Er schien sich wohlzufühlen, das Wetter war gut, die Temperatur ideal, und sein Besitzer war vollkommen entspannt. Für den Abschlag richte ich mich immer nach vorne aus, schließlich will man sehen, wohin die Reise geht. Das Ziel hatte ich erfasst und rechnete mit einem Flug über 200 Meter. Ich erwartete auch einen leichten "Draw", um dann sanft auf dem gut präparierten Fairway zu landen.
Unhörbar, leicht und präzise schwang der 445 ccm große Schlägerkopf und traf mich perfekt – ich lag mitten im "Sweet Spot", was mir den idealen Abflug ermöglichte. Meine aerodynamische Form ließ die Luft nahezu widerstandslos an mir vorbeiströmen, während mein innerer Kern mich kraftvoll nach vorne riss. Haarscharf raste ich an einem Baum vorbei – vielleicht habe ich dabei ein oder zwei Blätter gestreift –, bevor ich nach etwa 200 Metern in den Sinkflug überging. Meine Flugkurve war perfekt, der Boden nicht zu weich, und so sprang ich noch wie ein Dreispringer weiter und legte zusätzliche 30 Meter zurück. Gut gemacht, und mein Spieler freute sich über den gelungenen Start.
Du kennst das sicher: Ich muss nicht jedes Loch im Detail beschreiben. Vielleicht sollte ich jedoch hinzufügen, dass ich Ausflüge abseits des Fairways durchaus spannend finde. Was ich jedoch nicht mag, sind Zusammenstöße mit Schäften oder – noch schlimmer – Aufpralle auf Felsen. Diese starren Felsen weichen nie aus, zeigen keinerlei Flexibilität und bieten eine harte Prügelei, wenn ich Pech habe. Besonders unangenehm wird es, wenn sie mich zu ihren Felskollegen weiterreichen, und ich wie ein Flummi von einem zum nächsten springe, dabei jedes Mal Haut verliere. Auch scharfkantiger, vulkanischer Sand ist nicht mein Freund – er nimmt mir meinen Glanz.
Mein Tag verlief erfolgreich. Jedes Mal, nachdem ich ins Loch gehüpft war, freute sich mein Spieler und hob mich sorgsam auf. Vor dem nächsten Abschlag gönnte er mir stets ein reinigendes Bad. Das war äußerst angenehm, denn es ging nicht nur um mein Aussehen, sondern vor allem um eine optimale Vorbereitung auf den nächsten Flug. Schmutz auf meinem Anzug kann meine Stabilität in der Luft beeinträchtigen und die Flugweite erheblich verringern. So flog ich ohne größere Zwischenfälle von Loch 4 bis Loch 17. Ein paar Mal landete ich im braunen, feinkörnigen Sand, der an einen Strand erinnerte, und verfehlte auch das Green hin und wieder. Beim Putten sah ich die Linie jedoch stets klar vor mir. Es war ein großer Spaß: Ich rollte gleichmäßig auf das Loch zu, balancierte im letzten Moment am Rand entlang und ließ mich nicht sofort hineinfallen. Die Reaktionen der Spieler waren immer wieder erstaunlich.
Am 18. Loch ging es dann darum, möglichst bis zur 150-Meter-Marke zu fliegen. Der Abschlag führte steil einen Hügel hinauf und bog dann nach rechts in Richtung Ziel ab. An diesem Abschlag verlieren viele Spieler ihren Ball ins Aus, wo er kaum wiederzufinden ist – ein ärgerlicher "Fade", wie man es nennt. Andere versuchen, einen perfekten Schlag zu liefern, landen jedoch im Gebüsch rechts. Eine echte Herausforderung! Wer hier mit einer 6 ins Loch kommt, darf sich glücklich schätzen. Mein Spieler war guter Dinge und ging leicht und locker an die Sache heran. Er machte zwei Probeschwünge und schlug beim dritten Mal kräftig ab – zu kräftig, würde ich sagen. Seine Haltung war nicht optimal. Ich flog den Flug meines Lebens, über die Büsche hinweg, an einer Vogelstange vorbei und landete sanft inmitten einer Blumenwiese. Ein betörender Duft von Blüten umgab mich und benebelte meine Sinne. Ich sank wohlig zwischen grüne Blätter und Stiele, während die würzige Erde und die Blüten des wilden Thymians mich sanft abbremsten. Es wurde dunkel um mich herum.
Als ich endlich wieder zu mir kam, herrschte draußen tiefste Nacht. Am Himmel funkelten die Sterne, und der Mond lächelte friedlich. Sein fahles Licht erlaubte mir, meine Umgebung zu erkennen. Dort lag ich nun, gebettet auf Thymian, verdeckt von den großen Blättern des Löwenzahns und dem dichten Wiesenklee. Kein Wunder, dass mein Spieler mich nicht finden konnte. Für mich bedeutete das vorerst eine Spielpause, und ich konnte nur hoffen, dass mich irgendwann ein anderer Spieler entdecken würde.
Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Hätte ich gewusst, wie weit mich der Abschlag in die Wiese getragen hatte, hätte ich vielleicht versucht, mich durch einen kontrollierten Slice näher ans Spielfeld zu manövrieren. Doch so lag ich Tag für Tag da, und wie es kommen musste, geschah es.
Der Bauer vom nahegelegenen Hof war mit seinem Mähwerk unterwegs. Zweimal im Jahr fuhr er über die Felder, um Heu zu machen. Das ist normalerweise der Moment, in dem man als Golfball gefunden und eingesammelt wird. Manchmal jedoch endet der Ball im Boden gestampft – lebendig begraben unter den breiten Reifen des Traktors. In meinem Fall sollte das Schneidemesser mein Schicksal besiegeln. Glaub mir, das ist ein äußerst beunruhigendes Gefühl und eine schaurige Aussicht.
Dort lag ich im Gras und hörte den Motor der Maschine immer näherkommen, begleitet von ohrenbetäubendem Lärm. Die Messer des Mähwerks näherten sich mir, und die Dunkelheit unter der Messerhaube hüllte mich ein. Der Lärm wurde unerträglich. Ringsumher fielen die Gräser mit einem Seufzen, und dann war ich an der Reihe. Die langen Messer durchtrennten mich gnadenlos, und ich konnte spüren, wie sie sich in mein Innerstes vorarbeiteten, sich in meinem harten Kern verkrallten. Und das geschah nicht nur einmal. Sobald die Schale geknackt war, wurden meine inneren Teile zu einer Art "Spaghetti" verarbeitet. Ich lag da wie eine ausgeweidete Schnecke auf der Straße, während ich auf mein Ende wartete. Links und rechts von mir lagen die enthaupteten, gefällten Blumen und Gräser. Gemeinsam erwarteten wir, dass die Sonne uns austrocknet, bevor wir unserer nächsten Bestimmung zugeführt werden.
Doch dann kamst du – du hast mich gefunden und mich vor dem Austrocknen gerettet. Du hattest Mitgefühl, hobst mich auf und drücktest meine zerschnittenen Innereien zurück in die zerbrochene Schale. Dadurch hast du mein Leben als Golfball noch etwas verlängert, und dafür danke ich dir von Herzen. Du hast mir zugehört, während ich dir einen Teil meiner Geschichte erzählt habe. Ich weiß, dass du ein engagierter Golfer bist und mich ordnungsgemäß entsorgen wirst. So werde ich nun korrekt recycelt und kann eines Tages in ein neues Spiel zurückkehren!
Ich hoffe, dass du bei deinem nächsten Spiel einen Ball wie mich benutzt. Schließlich weißt du ja, dass "Titleist #1 im Golfsport" ist.









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