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Ich mues no Chäpsli haa

  • thomasvonriedt
  • 22. Nov.
  • 3 Min. Lesezeit
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Eine Kurzgeschichte für Örliker und andere Nostalgiker


Kürzlich, während einer Diskussion im «Büetzer-Restaurant zur Metzgerhalle» in Zürich, stellten wir fest, wie sehr sich Oerlikon – früher liebevoll «s’Dorf» genannt – zum Nachteil seiner Bewohner verändert hat.

Der Verkehr, ob Tram oder Auto, dominiert heute das Strassenbild. Viele Gebäude ähneln einander im globalisierten Einheitsstil. Ganze Strassenzüge bestehen aus toten Fassaden, ohne Leben, ohne Charakter. Von einst fünf oder sechs Bäckereien hat nur noch eine überlebt – dafür wuchern Coiffeursalons, Nagelstudios, Pizzerien und Kebablokale.

 

Der Marktplatz ist zwar autofrei, doch ausser ein paar Schachspielern und einer Ecke voller Stammgäste mit Bierdosen ist wenig übrig geblieben. Wo ist Jelmoli geblieben? Bald macht sogar das Hauptgeschäft an der Bahnhofstrasse dicht. Der «stieri Egge», an dem sich früher Arbeitslose, Rentner und allerhand Quartierbewohner trafen, wird heute von linken Parteien bespielt, die dort Flyer verteilen. »Nein danke, ich bin nur kurz zu Besuch«, denkt man sich im Vorübergehen.

 

Ein Lichtblick bleibt der bunte Samstagsmarkt – er ist lebendig, vielfältig und bringt die Völker der Welt zusammen.

 

Ein Rundgang durch Alt- und Neu-Oerlikon lohnt sich dennoch: Man kann in Erinnerungen schwelgen, staunend feststellen, was sich verändert – und sich fragen, was wohl einmal sein wird.


Zurück zu den Chäpsli

 

«Chäpsli» klingt harmlos und niedlich – war es aber nicht.

Heute wahrscheinlich verpönt, sei es wegen Lärm oder Umwelt, waren die „Knallplättchen“ – einzeln oder auf Rollen – für einen Jungen im Jahr 1960 das Grösste überhaupt.

 

Und wo bekam man sie?

 

Natürlich bei Pfister-Kari in Oerlikon. In Oerlikon konnte man alles kaufen. Dort brachte man sein mühsam erspartes Geld hin. Kari, stets im weissen Arbeitskittel, verkaufte ein «Schächteli» Plättchen für die Raketenkracher oder ein paar Rollen für die «Chäpslipistole». Und nach langem Drängen kaufte der Vater am Knabenschiessen schliesslich doch das heiss begehrte verchromte Stück. »Nun hat die Seele endlich Ruhe«, wird er gedacht haben. Die Munition hielt allerdings nie besonders lange.


Da Taschengeld kaum die Regel war – und wenn doch, dann nur in homöopathischen Dosen –, mussten wir Jungen uns die Mittel selbst verdienen: mit Altpapier sammeln (heute nobel «Recycling»), Bierflaschen zurückbringen oder Kupferdraht verkaufen. Der Erlös reichte für Schleckmuscheln, «Ziehmi», andere Süssigkeiten – und natürlich für «Chäpsli» beim Pfister-Kari.

 

Wer jedoch am äussersten Rand des Kreis 11 wohnte, dort, wo die Frohburgstrasse den Zürichbergwald streift, musste eine kleine Expedition auf sich nehmen. Zu Fuss, versteht sich – ein Velo hatte kaum jemand, und Geld für Bus oder Tram gab es nicht.

 

Also machte man sich am schulfreien Mittwochnachmittag zu Fuss auf den Weg:

 

Vom Murwiesenquartier in Richtung Berninaplatz, durch das Quartier der Bernina-Bande, mit denen man verfeindet war (Agraffenschleuder mitnehmen nicht vergessen!). Weiter an der Kugellagerfabrik SRO vorbei, wo man sich gleich noch ein paar stabile Kugellager für den nächsten Brettroller erbettelte.

 

An der Berninastrasse bog man in die Oerlikonerstrasse ab, bis die reformierte Kirche auftauchte. Kurz davor ging es links zum Schulhaus Liguster, über den Pausenplatz, hinunter via Achermannweg zum Baumacker – und schon stand man fast im Zentrum.

 

Hier begann das Paradies.


Die Strassen voller Geschäfte: das Café Speck – Hochburg der katholischen Gemeinde; der Fotoladen mit den neuesten Wundern der Technik, an dem sogar der Vater jedes Mal stehen blieb; weiter durch die Schwamendingenstrasse, vorbei am Revolver-Kino Colosseum zum «Sternen», auch dort ein Kino; zu den Magasins Jelmoli; hinein in die Ohmstrasse und dann links in die Nansenstrasse.

 

Nur noch ein paar Treppenstufen – Simsalabim!

 

Der Sesam öffnete sich. Die rund 40-minütige Wanderung hatte sich gelohnt (zurück musste man ja auch wieder). Heute steht an derselben Stelle ein amerikanischer Burgerladen. Kein Vergleich. Langweilig.


Unsere Diskussion am Samstagmorgen endete mit einem klaren Fazit: Der Weg ins Paradies ist noch da – nur das Paradies selbst ist verschwunden. Am Ausgang liegen ein paar Exemplare der TVO-Zeitung. Oh Schreck, die Handballsektion gibt es auch nicht mehr wie damals. Z'Örlike gits leider nümme alles.


Das Leben in den 50er und 60er Jahren war bescheidener, ja. Aber Orte der Sehnsucht gibt es noch immer – nur liegen sie vielleicht heute eher online.

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