top of page

Herbst

  • thomasvonriedt
  • vor 7 Tagen
  • 5 Min. Lesezeit
ree

Der Wechsel der Jahreszeiten ist eine der schönsten Erscheinungen in unseren Breitengraden. Alles um uns herum verändert sich, und oft bemerken wir die kleinen Schritte dieser Veränderung kaum. Erst eine längere Abwesenheit zeigt uns, wie die Zeit unaufhörlich voranschreitet. Aktuell ist es der Herbst, der uns in seinen Bann zieht. Dank der Föhnwetterlage verschmelzen der blaue Himmel, die fernen weissen Berge, die schachbrettartig geordneten Felder und die bunten Bäume zu einem farbenprächtigen Gemälde. Es könnte von Vincent van Gogh sein, nicht wahr? Der Herbst umhüllt uns in jeder Hinsicht. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass auch der Herbst verschiedene Facetten hat: Frühherbst, goldener Herbst und Spätherbst, um es grob zu unterscheiden.


 

Herbst

 

Lassen Sie uns aus dem Fenster schauen – was sehen wir? Grauer Himmel, Regentropfen bei rund 10 °C, wirbelnde Blätter. Ich würde sagen, wir sind bereits im Spätherbst. Gestern war es jedoch ganz anders, eher Frühherbst: blauer Himmel, fast 20 °C und die leuchtenden Blätter in vollem Indian-Summer-Gewand. Einige haben sich bereits von den Ästen gelöst, sich verabschiedet und rotten vielleicht schon auf dem Komposthaufen vor sich hin – einem Neustart als biologischer Humus entgegen. Die Stare und andere Vogelarten haben uns schon länger verlassen, während andere, wie die Rotkehlchen, fleissig Winterquartiere hinter unseren Lamellenstoren einrichten. Wieder andere machen ihre letzten Übungsflüge vor der Abreise in den Süden.

 

Ein Kommen und Gehen, sehr zur Freude der Vogelschützer, ist vor allem im Neeracher Ried zu beobachten. Dort treffen Wasservögel aus dem hohen Norden ein, die wohl den ganzen Winter bleiben oder doch noch weiterziehen werden. Manche haben ihre Gärten bereits winterfest gemacht. Die Hobbygärtner holen Kartoffeln, Kohl und Grünkohl herein. Viele Kleintiere haben sich verkrochen und zeigen sich nur noch an sehr sonnigen Tagen. Unser Insektenhotel ist belegt, die Gäste haben ihre Türen bis zum Frühling versiegelt. Nur noch wenige Bienen zeigen sich und fliegen die paar verbliebenen Lavendelblüten an, um einen letzten Nektartrunk vor der kommenden Kälte zu geniessen.


 

Herbst

 

Der Besuch bei meinem Augenarzt verlief wie gewohnt. Alle Jahre wieder im Oktober beginnt das ewig gleiche Prozedere mit der Messung des Augendrucks und dem Lesen der Zahlen. Auch hier hat der Herbst Einzug gehalten: Die Vorzimmerdamen tragen warme Farben, und die Ärztin hat etwas an Figur zugelegt. Ihre Schminke verdeckt den Herbst – seien wir nett und sagen: eher Spätsommer, ja?

 

Was mich betrifft: Mein Augendruck steigt proportional mit dem Alter. Ich befinde mich klar im frühen Herbst. Alles ist noch in bester Ordnung, aber nicht mehr ganz so wie im Sommer meines Lebens. Das Ablesen der Zahlen an der Wand bereitet mir keine Schwierigkeiten. Ich werde weiterhin meine Brille tragen, wie sie mir vor drei Jahren verschrieben wurde. Immerhin habe ich hier ein paar Franken gespart.

 

Ich verlasse die Praxis zügig in Richtung Ausgang. Seit der Eröffnung der neuen Gebäude gibt es hier einen grossartigen Therapie- und Fitnessraum. Vor allem die älteren Semester trainieren fleissig an Dr.-Wolff-Geräten, um fit zu bleiben. Therapie oder Fitness – das ist hier die Frage. Eindeutig ist der Herbst stark spürbar: Bei manchen Herren sind die Blätter schon gefallen, während die Damen mithilfe der chemischen Industrie verschiedene Farbschattierungen erhalten.

 

Der Mensch schwitzt und zahlt. Aber die Natur? Haben Sie schon einmal einen Baum gesehen, der Gewichte stemmt und dafür zahlt?


 

Herbst

 

In der Migros erledigte ich meine Einkaufspflichten. Dabei ist es wichtig, genau auf das Ablaufdatum eines Produktes zu achten, sonst besteht die Gefahr, dass der Genuss sich in Enttäuschung verwandelt. Früchte sind sauer, wenn sie zu jung sind, köstlich, wenn sie im richtigen Reifestadium genossen werden, und ungeniessbar, wenn man diesen Zeitpunkt verpasst.

 

Ich liebe Bananen, besonders wenn sie bereits einige dunkle Flecken aufweisen, sich der Fruchtzucker verflüssigt hat und die Banane schon etwas „alkoholisiert“ ist. Ähnlich verhält es sich mit Trauben. Wein und Menschen sind im Herbst ihres Lebens besonders gut – und sie geniessen sich gegenseitig.

 

Einige Männer machen Studienreisen ins Piemont oder nach Südtirol, um die Lebensbedingungen der Trüffelsucher oder die seltsame Sitte des Törggelens zu studieren. Ich auch. Typisch für den Herbst!

 

 

Herbst

 

Am Nachmittag hatte ich überraschenden Besuch. Nach über zwanzig Jahren zuverlässiger Arbeit sind Backofen und Herd gleichzeitig ausgefallen. Natürlich ist das ein Problem auf hohem Niveau, aber diese Geräte zeigen, dass auch moderne Technik Jahreszeiten kennt.

 

Wir genossen einen biologischen Most aus der Umgebung. Er gleicht dem Herbst: trüb und rehbraun, und er ist nicht pasteurisiert. Sensationell – nicht nur der Saft, sondern vor allem der Preis! Dazu knackten wir einige in der Gegend gesammelte Walnüsse. Es ist erstaunlich, wie viele Baumbesitzer diese Früchte einfach liegen lassen, während die Schulkinder heute lieber saure Haribo-Nudeln schlecken.

 

Was uns jetzt fehlt, ist ein Coupe Nesselrode oder eine Portion Vermicelles. Wussten Sie, dass der Coupe Nesselrode nach einem deutschen Aristokraten und Spitzendiplomaten des 19. Jahrhunderts benannt ist?

 

Wenn wir schon beim Thema Herbst sind, ist es spätestens jetzt Zeit für „Figugel“ und „äs bitzeli stinke muess äs“. Ich könnte die Liste der Herbstspezialitäten endlos fortsetzen und liefe Gefahr, als verfressen zu gelten.


 

Herbst

 

Bei einem Spaziergang entlang des Waldrandes beobachtete ich die Tierwelt. Das Eichhörnchen ist im Dauerstress: Es sammelt und vergräbt Nüsse und Eicheln, als ob der Leibhaftige hinter ihm her wäre. Es legt sich einen Notvorrat an, vergisst diesen manchmal und trägt so zur Erneuerung der Pflanzenwelt bei. Manche Nagetiere ziehen sich tief in ihren dichten Pelz zurück und rüsten sich für die kalte Jahreszeit. Die Amphibien sind abgetaucht und haben sich längst im Schlamm vergraben.

 

Der Herbst ist also auch eine Zeit der Vorbereitung. Clevere Köpfe schützen sich vor Unwägbarkeiten, sei es durch gezieltes Hamstern oder durch den Abschluss von Versicherungen. Heizöl wird noch schnell angeliefert und Kohlen werden gebunkert. Gibt es das noch?

 

Der Mensch hat gut von Flora und Fauna gelernt und bereitet sich vor. Es ist auch die Zeit, um die letzten Einkäufe für winterfeste Kleidung zu tätigen. So jagen die Damen atemlos von Geschäft zu Geschäft, profitieren von vermeintlich unglaublichen Schnäppchen und erklären dann überzeugend, warum gerade dieses 28. Halstuch wirklich gekauft werden musste. Betonung auf „musste“. Heisst es nun eigentlich „Atemlos durch die Nacht“ oder „Atemlos durch den Herbst“?

 

In dieser wunderschönen Jahreszeit vermischen sich Melancholie und Freude. Sie regt einfach zu Betrachtungen und Träumen an – oder nicht? Ich finde, Johann Gaudenz von Salis-Seewis hat das schon vor über 235 Jahren treffend zu Papier gebracht.

 

 

 

 

Herbstlied

©Johann Gaudenz von Salis-Seewis, 1762 - 1834, Schweizer Oberst und Dichter

 

 

Bunt sind schon die Wälder,

gelb die Stoppelfelder,

und der Herbst beginnt.

Rote Blätter fallen,

graue Nebel wallen,

kühler weht der Wind.

 

Wie die volle Traube

aus dem Rebenlaube

purpurfarbig strahlt!

Am Geländer reifen

Pfirsiche, mit Streifen

rot und weiss bemalt.

 

Flinke Träger springen,

und die Mädchen singen,

alles jubelt froh!

Bunte Bänder schweben

zwischen hohen Reben

auf dem Hut von Stroh.

 

Geige tönt und Flöte

bei der Abendröte

und im Mondenglanz;

junge Winzerinnen

winken und beginnen

deutschen Ringeltanz.

 

Kommentare


bottom of page