Französische Liebe
- thomasvonriedt
- 17. Dez.
- 8 Min. Lesezeit

Intro
Spotify ist eine grossartige Anwendung. Wer die gelegentliche Werbung in Kauf nimmt, geniesst kostenlosen Zugang – sowohl auf stationären Geräten als auch mobil, in bester Qualität. Für jüngere Leserinnen und Leser ist das selbstverständlich, während sich ältere Musikliebhaber vielleicht fragen: Was ist das eigentlich?
Wikipedia, die freie Online-Enzyklopädie, beschreibt Spotify wie folgt: Spotify (abgeleitet von den englischen Wörtern to spot – entdecken, und to identify – identifizieren) ist ein Musik-Streaming-Dienst, der es ermöglicht, urheberrechtlich geschützte Musik von grossen Plattenlabels wie Sony, EMI, Warner Music Group, Universal und vielen kleinen Labels über das Internet zu hören. Bis Anfang 2018 waren mehr als 70 Millionen zahlende Abonnenten registriert.
Ganz einfach ausgedrückt: Hier kannst du all die Musik hören, die früher mit dem bescheidenen Taschengeld unerschwinglich war. So erklingen fröhlich die verschiedensten Stars und Bands aus den Lautsprechern meines PCs, während ich in die Tasten greife und ein paar Sätze formuliere.
Beim letzten Mal waren das die stimmgewaltigen Walker Brothers mit The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore und ihrem Leadsänger Scott Walker, der eigentlich Engel hiess und weder echte Brüder noch eine Verwandtschaft mit seinen „Brothers“ hatte. Ich habe diese Band geliebt, obwohl sie in den Jahren 1965–67 eher untypische, sehr melodiöse Lieder sang, einige davon fast bombastisch – ein starker Kontrast zum harten Sound von Bands wie den Pretty Things, den Stones oder den Who.
Das Album No Regrets – The Best of Scott Walker & The Walker Brothers 1965–1976 bietet 18 Songs und über eine Stunde wunderbare Musik. In den 60er-Jahren schien die Bedeutung der Liebe eine ganz andere zu sein als heute. Die verheissungsvolle, wie auch die unglückliche Liebe beschäftigte Bands und Sänger überproportional. Die Pille und die gesellschaftlichen Veränderungen trugen dazu bei, Liebe und Beziehungen zwischen Mann und Frau freier und ungezwungener zu gestalten.
Der Song First Love Never Dies entführt mich direkt in die Jahre meiner unbeschwerten Jugend und inspiriert mich zu Gedanken über den Titel dieses Songs.
Liebe?
Was denkst du, wenn du First Love Never Dies hörst? Denkst du an deine Mutter, das Coggi-Fröschli, deine Kindergartenliebe, eine Herzensbeziehung – oder vielleicht an einen Gegenstand?
Im Internet beschrieb ein Inder auf humorvolle Weise seine erste grosse Liebe. Am Ende stellte sich heraus, dass es sich um eine Pizza handelte, der er offenbar bis heute treu geblieben ist. Es scheint, dass die erste Liebe durchaus auch durch den Magen gehen kann.
Für die meisten Menschen bedeutet dieser Ausdruck allerdings eine vergangene Liebesbeziehung zu einem Menschen. Eine Person, die sie nie vergessen konnten, die sie vielleicht gerne wiedersehen würden – und dann, rein statistisch betrachtet, eher enttäuscht wären.
In der Regel endet irgendwann eine wundervolle Beziehung, und je länger dieses Ende zurückliegt, desto mehr idealisiert man sie und beginnt zu glauben, dass diese Liebe niemals endet. Das mag in Gedanken zutreffen, aber im realen Leben stimmt es mehrheitlich nicht.
Ein anderes Sprichwort lautet: „Alte Liebe rostet nicht.“ Hat das etwas mit der „ersten Liebe“ gemeinsam? Mir scheint, dass sich diese beiden Redewendungen ergänzen und sich eigentlich nur in der Dauer der Beziehung des Betreffenden zu seiner „Liebe“ unterscheiden.
Während ich der Musik lausche, stelle ich fest, dass mein Leben voller „erster Lieben“ ist. Ich erkenne, dass ich im Laufe meines Lebens immer wieder einer ersten Liebe nachgegangen bin. Manche begleiten mich nun schon seit Jahrzehnten und haben längst den Status „Alte Liebe rostet nicht“ erreicht. Ich bin gespannt, was die nächsten Jahrzehnte noch bringen werden.
Ein weiteres Phänomen ist, dass „First Loves“ oft den Weg zu weiteren Lieben ebnen. Selten kommt eine Liebe allein. Eine meiner ersten Lieben liegt bald 60 Jahre zurück, und doch fühlt es sich an, als wäre es erst gestern gewesen.
Wenn du mehr über mein französisches Liebesabenteuer erfahren möchtest, lies weiter.
La Belle
Im Jahr 1966 lernte ich eine meiner leidenschaftlichsten Lieben kennen, und sie gefiel mir auf Anhieb. Hätte sie braune Haare gehabt, würde ich rückblickend behaupten, sie habe eine gewisse Ähnlichkeit mit Françoise Hardy.
Sie war zierlich und hatte eine ausgesprochen attraktive Figur. Von vorn betrachtet, fielen einem sofort ihre beiden auffälligen Rundungen ins Auge. Darüber ein schlanker Hals, und ihr leicht schüchterner, nach unten gerichteter Blick wirkte sehr feminin.
Sie war eindeutig sportlich, und ihr dezenter schwarzer Anzug mit der roten Linie und den silbrig glänzenden Streifen liess auf sportliches Verhalten und ein leicht exzentrisches Auftreten schliessen. Selbst unter Höchstleistung verlor sie nie ihre Contenance, übertrieb es nicht und zeigte Zurückhaltung, wenn wir einmal einkehrten, um unseren Durst zu stillen.
Die schlanke Französin gefiel mir so sehr, dass ich keine Ruhe mehr fand – sie musste einfach meine werden. Die Liebe loderte in mir wie ein 1000-Grad-Schmiedefeuer, das mich beinahe verbrannte.
Meine Angebetete wohnte in der Regensbergstrasse bei Werner Ott, und immer, wenn ich Zeit fand, meine Grosseltern mit meinem 3-Gang-Fahrrad zu besuchen, verpasste ich nicht die Gelegenheit, einen Moment vor ihrem Haus zu verweilen und Ausschau nach ihr zu halten.
Ihr „Vater“ war schwierig und zeigte wenig Verständnis für meine Seelenqualen. Mehr als einmal schickte er mich fort. „Steh hier nicht herum, Junge, hast du nichts Besseres zu tun?“ Und so zog ich immer wieder enttäuscht weiter. Vermutlich missfielen ihm meine blaue Lee-Jeans und mein langärmeliges Hemd aus Dralon oder Nylon.
Meine Mutter fand dieses Material praktisch, preisgünstig und leicht zu waschen – und vor allem musste sie es nicht bügeln. Ich aber befand mich mitten in der Pubertät und stellte bald fest, wie hartnäckig Schweiss an diesem Material haftete. Deos waren damals noch nicht weitverbreitet und vermutlich teuer.
Aber ich wäre nicht ich, wenn mich so etwas aufgehalten hätte. Hindernisse sind dazu da, überwunden zu werden – sonst wären es keine Hindernisse. Und was hätte man sonst zu tun gehabt?
Stil
Es sollte nicht lange dauern, bis ich meine schwarze Gazelle, meinen französischen Traum, endlich in die Arme schliessen würde. Sie würde mir gehören, und ich hätte keinerlei Mühe, ihr ewige Treue zu schwören.
Klar war, dass ich dafür mehr als nur die moralische Unterstützung meiner Eltern brauchte. Ich bemühte mich um ansprechende Leistungen in der Schule, fand Zeit, meine Mutter zu Hause zu unterstützen – kurzum, ich gab alles, um mein Image intern und extern aufzupolieren.
Mit Herrn Ott versuchte ich einen freundlichen, wenn auch eher distanzierten Kontakt aufzubauen, sodass er mein sehnsüchtiges Ausschauhalten zwar nicht gerade gutheissen, aber immerhin tolerieren konnte.
Eines schönen Maitages war es dann so weit. Ich stellte meiner Mutter Herrn Ott und die begehrte Freundin vor – und zu meiner Überraschung nahm das Treffen einen überaus positiven Verlauf. Nun ja, meine Mutter war schon immer etwas frankofon und bewies darüber hinaus meist ein gutes Gespür, wenn es um das Seelenheil ihres Sohnes ging.
Nach weiteren zwanzig Minuten war Herr Ott schliesslich bereit, mir eine seiner „Töchter“ anzuvertrauen – gegen einige Hunderternoten.
Salut la VéloSolex
Ich war noch nie ein Freund Wagnerscher Dimensionen. Im Vergleich zu meiner französischen „Marianne“ waren die germanischen Sachs-Weiber richtige Walküren. Es stimmt schon: Die deutschen Qualitätsprodukte waren schneller, stärker, sie brauchten aber auch mehr Benzin, knatterten lauter – und jeder Tubel wollte mit seinem Pony, Rico oder Kristall brillieren.
Eine VéloSolex zu besitzen bedeutete, über Feingefühl, Stil und Kultur zu verfügen – cool und trendy würde man heute sagen, damals war es einfach lässig. Wahrscheinlich passt der Begriff Hipster, diese Generationen waren später dran.
Wer Sachs fuhr, rauchte Brunette oder sonst ein billiges Kraut und trank gelegentlich Bier. Diese Vehikel erhielten despektierliche Titel wie „Christenverfolger“ oder einfach „Pfupf». Damit fuhr man später als Maurer-Lehrling auf den Bau oder in die MFO und wurde Werkzeugmacher.
Der echte VéloSolex-Aficionado legte hingegen Wert auf gepflegte Kleidung – zum Beispiel weisse Bundfaltenhosen im Ausgang, ansonsten Lee-Jeans mit hochgerollten Beinenden. Dazu passten gestreifte T-Shirts, Rollkragenpullover und Turnschuhe. Wenn er rauchte, dann Gitanes oder Gauloises bleu und jaunes, die an der Unterlippe klebten – auch während er sprach.
Entweder endete der Solex-Freund als Schüler an der Kanti oder er entschied sich für eine Berufslehre als KV-Stift.
Die VéloSolex ermöglichte motorisierten Ausgang zum Tanz in der Jugendanlage. Kein penetranter Benzingeschmack, keine „Charresalbi“ an den Fingern – die Mädchen wussten das zu schätzen.
Jacques Dutronc, bekannt durch Les Playboys oder Et moi et moi et moi, war das Stilvorbild jener Jahre. Sylvie Vartan und BB – Göttinnen für Pubertierende – und in unserer Fantasie fuhren sie alle das Fahrrad mit Aufliegermotor. Selbst der harte Kerl Steve McQueen fuhr eine VéloSolex, die angeblich sagenhafte 120 km/h erreicht haben soll.
Nie hätten wir unser Gefährt einfach „Töff“ genannt. Oft trug sie einen liebevollen Namen wie Véronique, Monique oder Ähnliches. Man „rosste“ damit nicht über die Strassen, sondern liess den Motor seine Kraft gelassen entfalten – eine frühe Form des Cruisens, nur mit eben deutlich weniger PS.
Irgendwann hauchte ich meiner Liebe noch etwas mehr Kraft ein: Ich kaufte mir einen zweiten Zylinder und Kolben und feilte so lange daran herum, bis die Geschwindigkeit bei rund 50 km/h lag. In Ascona sorgte die Solex für uneingeschränkte Aufmerksamkeit bei den Passanten. Der Auspuff hatte sich gelöst, und was knatterte wie eine schwere Maschine, entpuppte sich bei näherem Hinsehen als zierliches Motorfahrrad.
Ein echter Conducteur de Charme trank Coca-Cola und später la bière à la menthe und noch später auch einen Ricard – er hatte eben Stil. Ich stellte schon nach kurzer Zeit fest, welche magische Anziehungskraft meine Solex auf das andere Geschlecht ausübte.
Gabi, Irene, Conny und ein paar andere …
…hatten bereits ausgiebig die Fahrt auf dem Gepäckträger genossen. Bedenke, lieber Leser: Die Mädchen trugen damals noch Röcke, und die Mutigen orientierten sich in der Länge an den Empfehlungen von Courrèges.
Die Dame des Herzens sass hinten auf dem Gepäckträger, hielt die schlanken Beine seitlich und umarmte den Fahrer mit beiden Armen um den Körper. Wenn niemand hinsah, legte sie den Kopf an seinen Rücken und genoss die Glückseligkeit des Moments.
Zu dieser Zeit erkämpfte sich auch das Ruthli dieses Privileg. Ich fuhr mit meiner Solex sogar nach Davos – allerdings nicht zum WEF. Auch diese Liebe war vergänglich und wurde von einer neuen, dauerhafteren abgelöst, die selbst eine blaue VéloSolex fuhr. Wow.
Leider gehörte zu diesen Lieben auch die Zigarette. Damals rauchte ich gelegentlich Chesterfield, selbstverständlich ohne Filter – ganz wie James Bond. Jerry Cotton rauchte Camel, wie alle seine Sachs-Motor-Anhänger. Er fuhr einen Jaguar E, aber keinen Aston Martin. Damit wäre das auch gesagt.
Der schlanken Blondine bin ich nie treu geblieben, und viele Jahre später habe ich sie endgültig aufgegeben. Die Liste meiner „First Loves“ liesse sich endlos verlängern; manche waren Tagesfliegen. Mit wenigen war das Verhältnis deutlich inniger, und die Jahre flogen nur so dahin.
Nur bei ganz wenigen darf man getrost sagen: „Alte Liebe rostet nicht.“ Die Solex gehört dazu. Wenn mich dereinst Petrus am Himmelstor begrüsst, würde er wohl nicht schlecht staunen, käme ich auf meiner Solex daher.
Bedauerlicherweise kann mich meine erste Liebe nicht mehr begleiten. Mit dem Aufkommen der Discomusik habe ich mich von ihr getrennt. In grün-metallisierter Farbe übergab ich meine liebe Freundin in die Hände meines Bruders, der sie in die Fronthaube eines VW-Käfers lenkte. Ihm ist nichts passiert, meine Französin war jedoch nicht mehr zu retten.
Zu dieser Zeit war ich bereits eine neue Liaison eingegangen – mit einer rassigen Italienerin aus Sesto Ponente in der Nähe von Genua. Sie hiess Vespa Piaggio, jeder nannte sie „Wäspi“, und ihre 180 cm³ liessen die zarte Französin bald verblassen.
Die Jahre vergingen, aus zwei Rädern wurden vier und irgendwann in den 10er Jahren traf ich auf die etwas jüngere Schwester meiner ersten Liebe. Natürlich ist sie mit Jahrgang 1971 auch schon ein Mädchen im fortgeschrittenen Alter, aber immer noch äusserst attraktiv. Bestimmt hatte auch sie einst jemandem den Kopf so verdreht, dass er sogar den Führerschein verlor.
Die alte Liebe erwachte in mir wie ein Vulkanausbruch – und sie wurde sofort erwidert. Ich rettete sie aus dem Berner Oberland ins Zürcher Unterland, wo sie unter der Nummer 255637 als die neue Liebe ganz offiziell registriert wurde.
Bin ich nun ein Polygamist mit zwei Damen unter einem Dach? Und wie würde das wohl aussehen, sollte sich eines Tages noch eine rassige Italienerin dazugesellen?
Schlussfrage
Betrachte das Titelbild länger: Was siehst du? Höre gut hin: Was hörst du? Den Wind, die Wellen? Hörst du, was das Mädchen sagt und was der Junge denkt?
Ich schon. Er würde nur allzu gerne einmal die Solex fahren – oder?










Kommentare