Der Schwur der Erwachten - Eine Fabel der Hoffnung in Zeiten der Unruhe
- thomasvonriedt
- 17. Dez.
- 5 Min. Lesezeit

Der Aufbruch
Der Abend senkte sich schwer über die Innerschweiz. Zwischen den Bergen kroch ein matter Nebel hervor, schob sich wie ein tastendes Gespenst durch die Täler und legte sich über die Dörfer. Am Himmel stand der Vollmond, gross und unbeweglich, sein silbriges Licht schien die Welt zu übergiessen wie mit kaltem Stahl. Die Schatten wurden länger, die Gassen leerer – und doch lag eine unsichtbare Erwartung in der Luft.
Vor dem Denkmal in Altdorf begann der Stein zu erzittern. Ein Knirschen, kaum hörbar, als würde der Fels selbst Atem holen. Dann, mit einem dumpfen Ruck, löste sich die Gestalt Wilhelm Tells von ihrem Sockel. Schwerfällig schritt er vorwärts, die Armbrust auf dem Rücken, die Stirn zerfurcht von den Sorgen eines Landes, das er einst in die Freiheit geführt hatte. Seine Augen suchten die Dunkelheit ab, als wüsste er bereits, dass ihm eine neue Prüfung bevorstand.
Gleichzeitig hallten über Bern dumpfe Schritte. Auf dem Dach des Bundeshauses regte sich Helvetia. Mit eiserner Miene stieg sie vom First herab. Ihr Schild glänzte matt im Mondlicht, doch in ihrer Haltung lag Schwäche. Sie spürte die Last der Jahrhunderte, die Müdigkeit eines Volkes, das sich in Wohlstand und Bequemlichkeit eingerichtet hatte. Ein Schmerz zog durch ihr Herz: Ihre Kinder, die Eidgenossen, hatten begonnen zu vergessen.
In Sachseln tat sich die Erde auf. Niklaus von der Flüh, der Eremit, erhob sich aus seinem Grab. Die Flammen seiner Augen loderten wie Kohlen. Er stützte sich auf seine knochigen Hände, während die Erde selbst zu bersten schien, als müsse sie ihre Schuld an diesem Wiederaufstehen tragen.
Auch in Steinen regte sich die Gruft. Werner Stauffacher, der Führer von einst, trat hervor, den Blick so entschlossen wie in jener legendären Nacht am Rütli. Noch immer glühte in ihm der Wille, voranzugehen, wenn das Land zu fallen drohte.
Und über all dem geschah ein unheimliches Zeichen: Die Fahnen des Landes, die über Städten und Bergen flatterten, verloren ihre Farben. Erst verblasste das Rot, dann löste sich das Weiss auf – schwarz hingen die Banner in der Nachtluft, als trauere die Schweiz um sich selbst.
Es war der Beginn einer Zäsur.
Die Versammlung
Die Vier fanden sich am Fusse des Pilatus ein. Dort, wo nach uralter Sage Pontius Pilatus in ewiger Busse gefangen liegt, im schwarzen See, an einer feurigen Kette festgeschmiedet. Der Wind heulte durch die Schluchten, als wolle er Zeuge sein dieser Wiederkunft.
Ein Feuer loderte, warf Funken in die Dunkelheit. Um das Feuer standen die Gestalten der Alten Eidgenossen. Ihre Schatten tanzten gespenstisch an den Felsen, als sei eine unsichtbare Schar weiterer Gefährten bei ihnen. Der ewige Venner hob die letzte echte Fahne des Landes hoch – rot, mit dem weissen Kreuz – und sie leuchtete wie eine Flamme der Erinnerung inmitten des Schwarz.
„Es ist so weit“, sprach Tell, seine Stimme hart wie Eisen. „Das Volk taumelt. Gold ist ihr Gott, Bequemlichkeit ihre Kette.“
Helvetia senkte den Kopf. „Die Tugenden, die uns trugen, schwinden. Opfer meiden sie, Leistung fürchten sie, und einer wendet sich vom anderen ab. Mein Schild wird schwer – ich kann sie kaum noch schützen.“
Niklaus hob die Hand. Seine Stimme klang wie eine Glocke im Tal. „Nicht Zorn, sondern Demut bringt Rettung. Doch wenn Demut verlacht wird, bleibt nur Umkehr durch Schmerz.“
Da trat Stauffacher einen Schritt vor. «Dann rufen wir das Volk erneut! Wie einst auf dem Rütli sollen sie sich sammeln. Doch diesmal kämpfen wir nicht gegen fremde Vögte, sondern gegen die Schatten im eigenen Herzen.“
Die Erscheinung der Schattenwesen
Kaum verklang sein Wort, begann der See zu toben. Wellen peitschten auf, der Himmel riss auf, und ein eisiger Wind fuhr herab. Aus der Tiefe stiegen Gestalten empor – schauerlich, formlos und doch voller Macht.
Die Gier: Sie kam zuerst. Ein Dämon aus Goldplatten, die sich ständig verformten. Seine Finger endeten in langen Krallen, die alles berührten, nur um es im selben Augenblick zu Staub zerfallen zu lassen. Seine Stimme zischte wie brennendes Erz: „Ich bin das Gold, das niemals genügt. Ich lege Ketten aus Glanz, und die Menschen knien freiwillig.“
Die Bequemlichkeit: Ein fauler Koloss erhob sich, eingewickelt in Kissen und Decken, zu schwer, um zu gehen, zu träge, um zu kämpfen. Seine Lider hingen herab, seine Stimme flüsterte schläfrig: „Ruh dich aus. Morgen kannst du kämpfen – heute träum dich satt.“
Die Wertevergessenheit: Ein wandelndes Kreuz aus Asche, in dessen Mitte ein erlöschendes Licht flackerte. Aus seiner brüchigen Gestalt drang ein klagendes Raunen: „Sie haben vergessen, wofür man betet. Meine Flamme stirbt – und mit ihr das Fundament.“
Die Traditionsabkehr: Ein Schwarm von Masken flatterte heran, jede zeigte ein fremdes Gesicht, lächelnd, lockend – doch dahinter war nur Leere. Sie wisperten im Chor: „Vergiss, was war. Vergiss, wer du bist. Ein neues Gesicht ist leichter zu tragen.“
Die Xenophobie: Ein Wolf so gross wie ein Pferd, mit glühenden Kohlenaugen, trat hervor. Sein Maul war blutig, doch sein Heulen galt nicht Feinden, sondern Freunden: „Teilt euch! Misstraut euch! Wer anders riecht, ist mein Feind.“
Der Konsumwahn: Ein unförmiges Wesen, dessen Bauch unaufhörlich anschwoll. Es verschlang Früchte, Fleisch, Gold, ja selbst Steine – und doch schrie es unersättlich: „Mehr! Mehr! Mehr!“
Die Leistungsfaulheit: Ein grauer Nebel kroch herauf, legte sich über Feuer, Felsen und Glieder. Aus dem Dunst wisperten Stimmen: „Wozu kämpfen? Wozu mühen? Es lohnt sich nicht.“
Die Helden schauderten, doch sie wichen keinen Zoll zurück.
Der Schwur
Da hob Tell seine Armbrust und sprach: „Vor uns stehen Feinde, die kein Eisen kennen. Sie wollen das Herz besiegen – und nur das Herz kann ihnen widerstehen.“
Helvetia trat vor, den Schild erhoben. „Unter meinem Schirm soll das Land Zuflucht finden. Doch allein vermag ich es nicht. Wir müssen wieder werden, was wir waren: ein Volk, geeint in Mut und Treue.“
Niklaus von der Flüh legte die Hand aufs Herz. „Dann schwören wir, die Menschen zu mahnen – nicht mit Gewalt, sondern mit dem Licht der Wahrheit. Denn wer die Wurzel vergisst, verdorrt.“
Und Werner Stauffacher streckte die Hand aus, wie einst im Jahre 1291. „So sei es! Auf dem Rütli, unter Sternen und Schwüren, erneuern wir den Bund. Möge das Volk erwachen, ehe die Schatten alles verschlingen.“
Epilog
Und so geschah es, dass in jener Nacht die alten Eidgenossen und Helvetia auf der Rütliwiese zusammentraten. Kein Blut wurde vergossen, kein Schwert gezückt. Doch ihre Stimmen hallten weit über die Berge, über Seen und Städte, über Felder und Strassen – ein Ruf nach Umkehr, nach Mut und Zusammenhalt.
Die Worte gruben sich tief in die Herzen des Volkes. Bundesräte und Politiker zitterten, als hätten sie selbst die Schattenwesen gesehen. Sie begannen, Massnahmen zu prüfen, nach Wegen der Läuterung zu suchen. Und im Volk setzte ein Umdenken ein. Zögernd, schwerfällig, doch unumkehrbar. Es würde lange dauern, viel Schweiss, Blut und Geld kosten – doch die Mühe war es wert.
Man sagt, wer seither das Rütli betritt oder andere geheiligte Stätten des Landes, hört im Wind ein Flüstern:
„Hütet das Erbe. Denn die grösste Gefahr kommt nicht von aussen – sie wohnt in euren eigenen Herzen.“










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