top of page

Der Gurkenkönig Jens

  • thomasvonriedt
  • 30. Nov.
  • 7 Min. Lesezeit
ree


Samstag ist Markttag in vielen Orten, besonders in Zürich-Oerlikon.

 

Wie gewohnt nehme ich meine übliche Route in Richtung Stadt und fahre am Katzensee vorbei, wo der neue Autobahnanschluss zum Gubrist-Tunnel im Bau ist. An der dritten Ampel vor dem Zehntenhaus-Platz halte ich an, um zu sehen, ob die kleine Birke namens Betonknacker noch steht. Es hat die ganze Nacht geschneit; heute ist der 8. Dezember 2017. Erstaunlicherweise steht sie noch, obwohl Kälte, Schnee und Abgase ihr zusetzen. Es verblüfft mich, dass einige Blätter noch grün sind, während die Blätter der grossen Birken entlang der Strasse längst vom Wind verweht wurden.

 

Es sind nur noch wenige Kilometer auf der Wehntalerstrasse bis nach Oerlikon. Der morgendliche Verkehr ist entspannt; die meisten Pendler schlafen wahrscheinlich noch oder geniessen gemütlich ihren Morgenkaffee mit einem Croissant. Endlich angekommen, finde ich meinen gewohnten Parkplatz in der Hoteltiefgarage leer. Dort kann ich bequem parken und ohne Parkschäden wieder herausfahren. In der Hotellobby begrüsst wie immer der höfliche Inder. Ein Team von Delta Airlines ist gerade beim Einchecken, und asiatische Touristen steigen in den Ausflugsbus, der sie an einem Tag nach Zürich, Bern und Luzern bringt. „Ohayo“, „Zao an“ oder einfach „Guten Morgen“ auf Deutsch sind hier die Begrüssungen.

 

Ich trete nach draussen und ziehe meinen Kragen hoch, denn der Morgenwind ist kalt, und ich habe mein Halstuch vergessen. An der Strassenecke steht wie immer der marokkanische Zeitungsverkäufer mit seiner roten Wollmütze, der die Zeitung Surprise für fünf Franken anbietet. Woher nimmt er nur seine Fröhlichkeit? Wenn ich die vergrämten Gesichter einiger Marktbesucher sehe, die wahrscheinlich alle bereits in Rente sind, denke ich, dass sie sicher etwas von diesem Nordafrikaner lernen könnten.

 

Ich bin endlich angekommen, und vor mir erstreckt sich der Blumen- und Gemüsemarkt in seiner ganzen Pracht und Vielfalt. Hier reihen sich Stände unterschiedlicher Grösse aneinander: einfache, selbstgebaute Stände mit Sonnenschirmen neben professionell gestalteten Ständen mit integrierter Verkaufsfläche und weit ausladenden Dächern. Die meisten haben Kunststoff-Satteldächer, um die Waren und Kunden zu schützen. Bei Regen werden oft die Enden der Planen zusammengeheftet, und wenn man Pech hat, steht man genau unter einer dieser Stellen, die überraschend Regenwasser ablassen. Eine kostenlose Dusche ist damit garantiert. Die Hartgesottenen verzichten auf Heizungen und wärmen sich mit Kaffee und warmer Kleidung. Einige Marktfahrer benutzen Gasbrenner, und wenn das Wetter wirklich garstig wird, packen sie ihre Stände in Plastikplanen ein. Man könnte meinen, der Aktionskünstler Christo hätte sich den Markt als Projekt vorgenommen. Nur wer den Markt gut kennt, kann die Stände noch unterscheiden und weiss genau, wo sein bevorzugter Lieferant zu finden ist.


Heute ist es zwar frisch, und es weht ein kühler Wind, aber es herrscht reges Treiben. Hauptsächlich ältere Menschen (senile Bettflucht?) ziehen von Stand zu Stand, vergleichen Preise, grüssen alte Bekannte, drängeln sich vor und bestellen oft nur Kleinstmengen. Die von Gicht geplagten Finger zählen mühsam das Hartgeld aus dem Portemonnaie. Es wird bezahlt, und mit fragendem Gesicht wird gewartet, ob der Verkäufer vielleicht doch noch ein Büschel Petersilie gratis dazugibt. Die meisten Stände sehen ähnlich aus, egal ob es sich um optisch perfekte Gemüsetempel handelt oder um fast schon schmuddelige Biogemüsestände.


Es scheint aber, als ginge es nach dem Motto: Glänzende Sauberkeit ist besser als Erdklumpen. Oder ist es umgekehrt? Hiesiges Gemüse konkurriert mit Importen aus der EU um die Vorherrschaft, und sogar Radieschen aus Israel und Erdbeeren aus Chile wirken exotisch. Neuerdings werden auch verschiedene Sorten von Powerfood angeboten, so nennt man es heute.


Powerfood? Was bedeutet das bloss? Ich denke an Kale, Chia und all die Dinge, die von städtischen Menschen propagiert werden. Jemand aus Seebach sagt: „Solches Gemüse haben früher die Armen gegessen oder wir haben damit die Schweine gefüttert. Man versucht mir einzureden, dass Topinambur nur deshalb teurer verkauft wird, weil er gesünder ist?“ Die Zeiten ändern sich, und junge Leute arbeiten daran, das einfache Leben wiederzuentdecken. Einige Japaner, wahrscheinlich Gäste aus dem nahegelegenen Hotel, zücken ihre Kameras und fotografieren die Waren und Szenen. Ich frage mich, was Watanabe Ozaki-san aus Yokohama seinen Leuten erzählen wird, wenn er die digitalen Aufnahmen vom Oerliker Markt auf seinem Sony-Fernseher zeigt.

 

Jeder Markt hat seine Spitzenanbieter. Da ist etwa die Bäckerei aus dem Appenzell, die Spezialitäten anbietet. Die Bürli, meist ziemlich schwarz gebacken, schmecken göttlich und sind es wert, anzustehen. Bedenke: Der Markt beginnt um 07.00 Uhr. Der Standaufbau dauert sicherlich knapp eine Stunde, und die Fahrt zum Markt ebenso. Das Beladen des Wagens benötigt sicher auch eine halbe Stunde. Mit anderen Worten: Um 04.00 Uhr müssen die Brote und das Kleingebäck gebacken und bereit sein.

 

Aus dem Unterland kommt eine Metzgerei, vor der die Leute den ganzen Tag Schlange stehen, obwohl drei weitere Metzger ebenfalls gute Ware anbieten. Bis in jüngster Vergangenheit gab es vor dem Eingang zur Migros Bank einen Stand, der exzellenten Hartkäse anbot. Ich vermute, das Ehepaar hat sich altersbedingt zurückgezogen. Schade, der Zürcher Oberländer Käse ist Spitzenqualität und erschwinglich. Dafür sind die Preise beim Italiener sicherlich um weitere zehn Prozent gestiegen. Das gilt auch für den Gemüseanbieter mit italienischem Namen, bei dem einer der talentiertesten und charmantesten Verkäufer arbeitet. Da kann keine Frau widerstehen, und Karl, der Rentner, sieht seine AHV unnötig schrumpfen.


Man muss nicht lange suchen, um auch einige ausländische Produkte zu finden. Der Grieche bietet seine eingelegten Oliven an, ein Iraner präsentiert Trockenfrüchte wie auf einem Souk, und die italienischen Geschwister bieten handgemachten Bufala-Mozzarella und den besten Pecorino an. Ein Österreicher verkauft seit Jahren Tiroler Speck und Schinken und hat sich in den letzten fünf Jahren seinen Stammplatz erarbeitet. Natürlich gibt es noch weitere Stände mit interessanten Erzeugnissen, aber ich kann nicht alle aufzählen.

 

Mein persönlicher Favorit ist jedoch der Gurkenkönig, der Gurkenkönig von Oerlikon. „Wie um Himmels willen kommt man auf die Idee, den Schweizern Spreewälder Gurken schmackhaft zu machen?“, fragte ich den sehr umtriebigen Marktfahrer. „Nun“, sagte er, „ich habe drei Jahre hart gearbeitet, um Akzeptanz zu finden. Viele meiner Kunden sind Deutsche, aber der Rest sind Liebhaber dieser Spreewalddelikatesse, und sie kommen regelmässig. Ich besuche den Markt in Oerlikon und auch den am Bürkliplatz.“ Er lacht verschmitzt. Es stimmt schon, manche scheinen sich hier wie zu Hause zu fühlen, angefangen bei ihrem wunderbaren Dialekt. Sächsisch wie einst Genscher – wo hört man das schon in unserer Stadt? Berühmte Sachsen gab es schon viele: Luther, Karl May, Wagner und auch Könige. Vor allem August der Starke, aber der hatte seine Stärke sicher nicht von den Gurken. Doch verlassen wir dieses Thema.

 

Der Gurkenkönig verkauft nicht nur einfache Gurken, sondern Spreewälder Gurken, genau von dort, wo sie am besten sind. Das wusste schon der alte Honecker, und die haben ihm in Chile sicherlich gefehlt. Spreewälder Chiligurken, Knoblauchgurken, Gewürzgurken, Senfgurken – alles von höchster Qualität, direkt importiert und in Luzern sicherlich aufwendig von Hand veredelt und in Töpfe abgefüllt. Selbstverständlich fehlt auch Sauerkraut nicht, und wie so oft bei uns liegen daneben die Randen. Das Sortiment umfasst ausserdem Brühgurken, Kurkuma-Curry-Gurken, Sweet-Cayenne-Gurken, Honiggurken, Störfisch und verschiedene Speiseöle. Für besonders gesundheitsbewusste Bürger gibt es Ingwer-, Limetten- oder Kurkuma-Konzentrate, die helfen sollen, den Winter schadlos zu überstehen.

 

König Jens ist ein Tausendsassa, der seine Arbeit offensichtlich liebt. Wer würde schon um 03.00 Uhr sein Zuhause verlassen, nur um 07.00 Uhr auf dem Markt zu sein? Er erledigt alles allein und nimmt sich stets Zeit für Gespräche mit seinen Kunden. Schon allein sein Dialekt macht Freude, und er begegnet seinen Kunden schlagfertig, tauscht Informationen aus, füllt die mitgebrachten Behältnisse und packt sie sicherheitshalber noch einmal in einen Sack, damit nichts nass wird.

 

Auch an diesem Samstag decke ich mich wieder ein. Ich habe extra einen speziellen Behälter bei Migros gekauft. Dort passt gut eine Ration für 25 Franken hinein, die bei vernünftiger Planung eine Woche reichen sollte. Seit zwei Wochen bevorzuge ich die Chiligurken; sie wärmen so herrlich und sind trotzdem leicht süss, aber anders als Schokolade setzen sie sich nicht als Hüftgold fest. Also habe ich mir zusätzlich eine Frischhaltebox besorgt. Beim nächsten Mal werde ich auch einige Knoblauchgurken mitnehmen, obwohl meine liebe Frau (oder mein Mann) jetzt schon die Nase rümpft.

 

Zur Gurke gibt es noch Folgendes zu sagen: Die Gurke an sich war den Völkern der Antike nicht unbekannt. Alte Tempelfresken bezeugen, dass im alten Ägypten bereits Gurken angebaut wurden. Auch die Römer kannten sie, und bei ihnen wurden bereits Pflanzen in Glasgefässen herangezüchtet. Aber erst um 1600 kamen Gurken in den Spreewald, wo slawische Völker angeblich als erste die Milchsäuregärung durchführten und somit die Gurken einlegten. Ich danke den Sorben oder den Wenden dafür. Ein Berliner Schriftsteller und approbierter Apotheker stellte einst fest, dass die Spreewaldgurke an der Spitze der landwirtschaftlichen Produkte im Spreewald steht.

 

Theodor Fontane hatte gute Gründe für diese Behauptung, da die feuchten, humusreichen Böden und das Klima im Spreewald das Wachstum der Gurken begünstigen. Der einzigartige Geschmack der Spreewaldgurken resultiert aus ihrer speziellen Verarbeitungsform und den beigefügten Gewürzen. Nach dem Ende der DDR im Jahr 1990 waren die Spreewaldgurken eines der wenigen DDR-Produkte, die ohne Unterbrechung weiterhin erhältlich waren. Dies liegt daran, dass die Gurken des Spreewaldes einfach köstlich und sehr gesund sind.

 

Ich weiss nicht, ob Kommissar Thorsten Krüger in den Spreewaldkrimis Gurken isst, um Visionen auszulösen und seine Fälle schneller zu lösen, aber es wäre durchaus möglich. Statt immer nur erschossene, erwürgte oder erschlagene Leichen könnte eine Folge mit einem Gurkenopfer eine willkommene Abwechslung sein. Ich könnte mir vorstellen, dass der Spreewälder Gurkenkönig mit einer Riesengurke im Hals erstickt aufgefunden wird. Der Gurkenkönig aus Luzern hätte mit Sicherheit nichts damit zu tun. Falls doch – wer sonst würde mir solch gute Gurken verkaufen?

 

Wahrscheinlich ist dafür der Anteil an sächsischem Blut in meinem Lebenssaft verantwortlich, der mich dazu verleitet, regelmässig Gurken zu geniessen. Anders kann ich mir nicht erklären, warum ich als Zürcher diese Delikatesse liebe, obschon ich noch nie im Spreewald war!


Übrigens, der Bäcker aus dem Kt. Appenzell gibt es leider nicht mehr, Jens verkauft nebst Gurken auch andere sächsische Spezialitäten, bei einem Apfelbauer gibt es noch Apfelsorten, welche Jugenderinnerungen hervorbringen, und ein Thomas bietet L'Etivaz Käse an, einfach himmlisch."Z'Örlike gits immerno alles, fasch alles."

 

 


Spreewald-Gurken


Liebe Leute, gebt gut acht,

ich habe euch was mitgebracht.

Chips sind doch nur was für Penner,

meine Gurken sind für den Kenner.

 

Nehme sie aus dem Land der Sachsen,

wo die schönsten Gurken wachsen.

Im Geschmack fein abgestimmt,

in der Form nicht ganz gekrümmt.

 

Gurken grün und richtig saftig,

dazu Essig – und der ist kräftig.

Zwiebel, Chili und ein bisschen Dill,

Zucker, Salz, jedoch nicht zu viel.

 

Luzerner Wasser aus dem See,

im Winter auch mal eine Prise Schnee.

Manchmal einen Löffel Honig –

das darf ich doch als Gurkenkönig!

 

Kauft doch gleich ein ganzes Pfund,

denn Gurken halten wirklich gesund.

Liebe Leute, gebt nun gut acht,

Jens hat Gurken Euch gebracht.

Kommentare


bottom of page