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Der Graffitimann - Hinter der Mauer leben sie länger

  • thomasvonriedt
  • 17. Dez.
  • 4 Min. Lesezeit
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Mauer

 

Einfach da, grau, hässlich und hoch. Den Elementen schutzlos ausgeliefert.

Sie trennt zwei Welten, die sich nie begegnen sollten – oder wollten.

 

Am Computer sorgfältig geplant, berechnet und auf Sicherheit geprüft, wurde die Konstruktion schliesslich genehmigt. Ein Auftrag wurde vergeben, die Umsetzung begann.

Ist sie Strassenverschönerung oder lediglich Leinwand für Graffiti?

Sie wirkt einfallslos in ihrer Architektur – grau und langweilig.

Doch sie erfüllt eine wichtige Funktion und ist unverzichtbar.

 

Wie kam es dazu?

 

 

Entstehung

 

Fremde Männer mit sonnenverbrannten Gesichtern und dunklem Haar halten Schaufeln in schwieligen Händen, ihre Kleidung vom Schweiss durchtränkt. Wenige Worte werden gewechselt, während sie die Anweisungen des Ingenieurs mit dem gelben Helm befolgen.

 

Der Bagger setzt sich in Bewegung, und die Erde leistet keinen Widerstand. Die Metallfinger graben sich erbarmungslos in den Boden. Abgetragene Erde, Sand und Steine landen auf dem Lkw. Die Brocken prallen laut auf die Ladefläche, doch niemand hört, wie der Boden aufseufzt.

 

Die Arbeiter greifen erneut zu Schaufeln und Pickel, der Praktikant rammt eine Messlatte in den Boden. Unter Anleitung des Ingenieurs werden die letzten Unebenheiten beseitigt, schliesslich ist der Graben fertig – die Aufgabe erfüllt.

 

Raue Gesellen binden Stahl mit Draht im Akkord, dann sind wieder die Männer mit den dunklen Haaren an der Reihe. Sie schalen, fixieren, füllen mit klebrigem Beton, vibrieren und entlüften. In der Pause werden Fussballergebnisse ausgetauscht, dann wird aufgeräumt. Die Mischung muss trocknen – morgen ist ein neuer Tag.

 

Die Bretter werden gelöst, Holzreste entfernt, das Gelände gereinigt. In stoischer Ruhe arbeiten sie weiter, ohne zu murren. Der Bagger wird erneut eingesetzt, um den Boden zu ebnen. Fertig steht sie da – die Mauer, kalt und nackt.

 


Zeit

 

Was einst vereint war, ist nun getrennt.

Hinter der hohen Mauer leben Menschen. Die Luft ist kühl, und das hat seine Gründe. Grünpflanzen werden an ihr hinaufklettern, sie mit Laub überziehen und bunte Akzente setzen, um Umweltbewusstsein zu demonstrieren. Die Fauna kann sich glücklich schätzen – hier herrscht traumhafte Ruhe, kaum Strassenlärm.

Ist es ein Gefängnis oder ein abgeschottetes Viertel?

Die Zeit kann Wunden heilen – hoffentlich.

 

Die Sonne brennt. Wasser und Eis, saurer Regen und Immissionen setzen der Mauer und ihrer Umgebung zu, aber all das hinterlässt nur eine Patina. Hinter der Mauer wächst eine dressierte Flora – Hecken, akkurat geschnittene Sträucher, wohlüberlegt platzierte Bäume –, die nach einem Plan gedeiht und in den gewünschten Farben erstrahlt. Hier kann man Ruhe finden.

 

Vor der Mauer dominieren grauer Beton und pure Technik. Ist es hässlich oder einladend? Sicher? Das Terrain wird markiert, Wasser wird freigesetzt, wenn es gebraucht wird. Es bleibt die Wahl zwischen Verschandeln oder Bekleben. Grünpflanzen klettern empor, Moose und Flechten breiten sich aus. Auch hier erobert sich die Natur ihren Platz zurück.

 

Die Mauer polarisiert.

 

 

Künstler

 

Eine schöne Wand. Sie darf nicht jungfräulich bleiben.

 

Ein Hoodie hat die Betonmauer entdeckt – eine anonyme Form der Kommunikation. Ist es Selbstverwirklichung oder ein Aufruf? Eine Demonstration von Können? Die Finger zucken. Spraydose oder Kreide?

 

Im Grau der Abenddämmerung geschieht es. Keine Zeugen in Sicht, nur eine leere Strasse. Er schaut nach links und rechts, lauscht der Stille. Hinter der Mauer ist alles ruhig. Die glatte Oberfläche eignet sich perfekt zum Malen. In schnellen Strichen entsteht Stück für Stück das Kunstwerk.

 

Ein älterer Mann mit kahlem Kopf, leicht gebeugt, nähert sich vorsichtig. In seiner linken Hand hält er keinen Stock, sondern eine straffe Leine. Ein schwarzer Scotch Terrier begleitet ihn, auch schon im fortgeschrittenen Alter.

Der Hoodie betrachtet sein Werk, während in der Ferne Motorenlärm ertönt. Blaulicht bricht sich im Dämmerlicht. Er setzt mit dem Daumen ein paar letzte Wischer, um dem Bild mehr Kontur zu verleihen. Die Zeit drängt. Er verschwindet in einer Seitengasse.

 

Die Polizei ist auf dem Weg.

 

Der Mann und sein Hund verharren vor der Mauer, als suchten sie einen Ausweg aus dem Bild.

 

 

Jäger

 

Mit aufmerksamem Blick durchstreift er die Strassen, das Handy immer griffbereit, ein Ersatzakku in der Tasche. Er sucht nach etwas Besonderem, nach genialen Schöpfungen, nach den flüchtigen Werken des Lebens. Die Konkurrenz ist gross, und Facebook wartet auf Aktualisierungen.

 

Immer auf der Pirsch beobachtet er das pulsierende Leben um sich herum, doch nichts scheint ihn zu befriedigen. Er zieht seine Bahnen entlang der grauen Strassen. Kein herausragendes Motiv in Sicht. Der Abend bricht herein, der Wind lässt ihn frösteln. Ein Tee mit Rum wäre jetzt genau das Richtige.

 

Hat er nicht gerade ein Kläffen gehört?

Eine sonore Männerstimme, beruhigende Worte. Der Hund gehorcht, und der Mann mit dem kahlen Kopf setzt mit ihm seinen Weg fort – an der Mauer entlang.

 

Da sind sie: der alte Mann, der Terrier, das frische Graffiti im Hintergrund.

Das Handy wird gezückt, die Kamera fokussiert, und endlich hat er sein Ziel im Visier. Er tippt auf den Auslöser – das typische Klicken ertönt, ein erfolgreicher Schuss. Die bewegte Szene erscheint auf dem Display: Mann, Hund und Wand – eingefangen für den Moment.

 

Leben Mann und Hund?

 

 

Künstler und Jäger

 

Er stolpert fröstelnd in die Bar, reibt sich die Hände. Der Grog vor ihm dampft, doch er beugt sich über das Handy. Mit dem Daumen wischt er durch die Beute des Tages: Gesichter, Fassaden, zufällige Szenen. Alles schon wieder alt.

 

Da eine Stimme hinter ihm.

Ein Schatten im Hoodie, Atem nach kalter Nacht, beugt sich über seine Schulter.

 

„Stopp. Zurück.“

 

Der Daumen gehorcht. Das Bild erscheint:

Ein kahler Mann, leicht gebeugt.

Ein schwarzer Scotch Terrier an straffer Leine.

Dahinter die frische Wand, das flammende Graffiti.

 

„Das ist er“, flüstert der Hoodie.

„Der alte Schmitz. Mein Werk. Sieh hin.“

 

Der Jäger spürt, wie etwas einrastet: Sein Schuss, dessen Bild. Zwei Jagden, ein Treffer.

„Die Leute werden mich bemerken“, sagt er leise. „So etwas findet man nicht zweimal.“

 

Er winkt Ilse heran, bestellt zwei Bier. Der Grog steht vergessen und wird kalt.

 

„Wo hast du ihn gefunden?“, fragt der Hoodie hastig. „Schmitz, den Hund? Ich musste rennen, als die Polizei kam. Ich wusste nicht, ob sie’s geschafft haben.“

 

Der Jäger lehnt sich zurück, sieht noch einmal auf das Display, auf den eingefrorenen Moment: Mann, Hund, Wand – unversehrt.

 

„Sie leben“, sagt er. „Beide. Und sie sind schön.“

 

Der Hoodie atmet aus, als hätte er bis eben die Luft angehalten.

Zwei Gläser klirren aneinander. Zwei Fremde grinsen wie Komplizen.

 

Mann und Hund haben überlebt.

Der Rest des Abends löst sich in Bier und Geschichten auf.

 

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